:: 3/2005

Arbeitslosigkeit und Wahlbeteiligung in regionaler Sicht

Wenn die Wahlbeteiligung zum Beispiel an Bundestagswahlen als wichtiges Indiz für eine Zustimmung zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland gesehen werden kann, stellt sich die Frage, ob die derzeit mehr oder weniger hohen Arbeitslosenquoten Einfluss auf die Wahlbeteiligung in den Bundesländern haben. Im Folgenden werden zunächst die regionalen Unterschiede der Wahlbeteiligung kartografisch dargestellt. In einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, durch eine regionale Analyse den Zusammenhang zwischen Wahlverweigerung und Höhe der Arbeitslosigkeit zu ermitteln. Der Beitrag wird hier mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Lothar Eichhorn vom Niedersächsischen Landesamt für Statistik abgedruckt.

Arbeitslosigkeit und Wahlbeteiligung in regionaler Sicht

Bei der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag am 22. September 2002 waren bundesweit 61,4 Millionen Menschen wahlberechtigt. Tatsächlich gingen von diesen 48 582 800 zur Wahl. Die Zahl der Nichtwähler betrug damit in ganz Deutschland 12 850 100 Personen, der Anteil der Nichtwähler lag bei 20,9 %. Schon auf der Ebene der Bundesländer gab es erhebliche Unterschiede in der Wahlbeteiligung: Am geringsten war sie in Sachsen-Anhalt mit 68,8 %, am höchsten in Bayern mit 81,5 %. Auch in diesem Bereich wird schon auf den ersten Blick eine West-Ost-Struktur sichtbar: Die Wahlbeteiligung lag in den westlichen Bundesländern mit einer relativ geringen Schwankungsbreite um die 80 %, während sie in den östlichen Flächenländern unter 75 % betrug. Baden-Württembergs Wahlbeteiligung lag bei 81,1 %, nach Bayern die höchste unter den Ländern. Im Einzelnen verzeichneten die Bundesländer eine Wahlbeteilung bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 wie folgt:

Baden-Württemberg81,1 %
Bayern81,5 %
Berlin77,6 %
Brandenburg73,7 %
Bremen78,8 %
Hamburg79,6 %
Hessen80,1 %
Mecklenburg-Vorpommern70,6 %
Niedersachsen81,0 %
Nordrhein-Westfalen80,3 %
Rheinland-Pfalz80,0 %
Saarland80,0 %
Sachsen73,7 %
Sachsen-Anhalt68,8 %
Schleswig-Holstein80,7 %
Thüringen74,8 %
Deutschland79,1 %.

Es liegt nahe, die Höhe der Wahlbeteiligung als ein wichtiges Indiz für das Ausmaß der Zustimmung zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen. Wer sich mit der parlamentarischen Demokratie nicht identifiziert und/oder wer sich von den politischen Parteien nicht repräsentiert fühlt, kann dies entweder durch die Wahl radikaler Parteien oder – was viel häufiger geschieht – durch Wahlenthaltung dokumentieren.

Das Ausmaß der Identifikation mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland ist von zahlreichen, zum Teil sehr subjektiven Faktoren abhängig. Von großer Bedeutung ist dabei, dass diejenigen, die für sich im Rahmen des gesellschaftlichen Systems Deutschland keine oder nur geringe Lebens- und Entwicklungschancen erkennen können, tendenziell sicher eher zu einer Ablehnung des politischen Systems neigen. Hinzu kommt: Wenn »der Politik« die Lösungskompetenz für drängende Fragen abgesprochen wird, trägt dies zur Entfremdung des Wahlvolks von seinen politischen Repräsentanten bei. Eine solche drängende Frage, auf die derzeit niemand eine seriöse Antwort zu leisten im Stande ist, ist die der Massenarbeitslosigkeit.

Regionale Unterschiede in der Wahlbeteiligung

Die thematische Karte (Schaubild 1) stellt das Ausmaß der Nichtwahlbeteiligung in den kreisfreien Städten und Landkreisen Deutschlands dar.1 Die Regionalstrukturen treten deutlich hervor: Der Osten weist – mit Ausnahme von Berlin – einen hohen Nichtwähleranteil auf. Nur der Landkreis Eichsfeld am westlichen Rand Thüringens stellt mit einem vergleichsweise geringen Nichtwähleranteil von 21,9 % eine Ausnahme dar – ansonsten weisen alle Landkreise und kreisfreien Städte im Gebiet der ehemaligen DDR Nichtwähleranteile von 22,5 % und mehr auf. Den höchsten Nichtwähleranteil erreicht mit 35,7 % der Landkreis Schönebeck südöstlich von Magdeburg.

Im Westen Deutschlands sind es vor allem kreisfreie Städte, die relativ hohe Nichtwähleranteile haben. Am auffälligsten ist dies in Bayern, weil dort eine vergleichsweise große Zahl ziemlich kleiner kreisfreier Städte sich deutlich von ihrem ländlichen Umland durch hohe Nichtwähleranteile abheben. Der ländliche Raum Bayerns, zum Teil auch Baden-Württembergs, weist umgekehrt sehr hohe Wahlbeteiligungen auf – die höchste im Landkreis Starnberg südwestlich von München (Nichtwähleranteil von nur 12,8 %). Ansonsten sind die hohen Nichtwähleranteile in vielen kreisfreien Städten keine Spezialität Bayerns, sondern eine der »alten« westlichen Länder. In Norddeutschland zum Beispiel weisen die Städte Flensburg, Neumünster, Lübeck, Bremerhaven, Emden, Delmenhorst und Wilhelmshaven überdurchschnittliche Werte auf – auffälligerweise alles Städte an der Küste bzw. in Küstennähe. In den Zentren des Nordens – Hamburg, Hannover, Braunschweig und Bremen – gibt es demgegenüber unauffällige, insgesamt durchschnittliche Nichtwähleranteile.

In ganz Norddeutschland existiert nur ein einziger Landkreis mit klar überdurchschnittlichen Nichtwähleranteilen: der Landkreis Wittmund. Seine Wahlbeteiligung von nur 77,1 % bzw. sein Nichtwähleranteil von 22,9 % ist eine Spezialität der Region. Bei allen Bundestags-, Landtags- und Europawahlen ist dort die Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich. Mit aller Vorsicht gesagt, scheint dies ein tief verwurzeltes Spezifikum ostfriesischer Mentalität zu sein, dessen Wurzeln in die Landesgeschichte zurückreichen: Schon in der Weimarer Republik war bei allen Reichstagswahlen von 1920 bis 1933 die Wahlbeteiligung im Landkreis Aurich äußerst gering. 2

Hohe Korrelation von Arbeitslosigkeit und Wahlbeteiligung

Das Streudiagramm (Schaubild 2) zeigt den Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote der abhängig Beschäftigten im Jahresdurchschnitt 2002 und dem Nichtwähleranteil. Jeder Kreis im Diagramm repräsentiert einen Landkreis bzw. eine kreisfreie Stadt, die dunklen Kreise stehen für Westdeutschland, die hellen für Ostdeutschland. 3 Auf der X-Achse ist die Arbeitslosenquote (Explanans) abgetragen, auf der Y-Achse der Nichtwähleranteil (Explanandum).

Bereits aus der Struktur von Punktwolken in Streudiagrammen lassen sich wichtige Erkenntnisse ableiten: Je diffuser die Wolke ist, desto schwächer ist der Zusammenhang der beiden dargestellten Variablen. Je mehr sich die Punkte einer Linie nähern (der Regressionsgeraden)

– idealtypisch liegen sie wie Perlen auf einer Schnur –, desto stärker ist der korrelative Zusammenhang, wobei dieser Zusammenhang kein Kausalzusammenhang sein muss. Verläuft die Punktwolke in der Tendenz von links unten nach rechts oben, so liegt eine positive Korrelation vor – je stärker das eine Merkmal ausgeprägt ist, desto stärker auch das andere. Eine negative Korrelation würde eine Punktwolke ergeben, die sich von links oben nach rechts unten erstreckt.

Dieses Streudiagramm ist regelrecht ein Musterbeispiel für eine ausgeprägt positive Korrelation. Die Punktwolke ist klar strukturiert und verläuft von links unten nach rechts oben, wobei die Kreise Ostdeutschlands meist in beiden Werten überdurchschnittlich sind. Der Korrelationskoeffizient »r« nach Pearson nimmt einen Wert von + 0,86 an (i-Punkt).

Man könnte einwenden, dass der Zusammenhang nur ein scheinbarer ist und dadurch entsteht, dass in Ostdeutschland aufgrund von 40 Jahren DDR und der darauf folgenden, nicht nur positiven Erfahrungen mit »dem Westen« generell die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie geringer ist als in Westdeutschland. Darum wurden die Korrelationen auch getrennt gerechnet nach Ostdeutschland und Westdeutschland. Es ergaben sich dabei Werte von r = 0,57 für Westdeutschland und

r = 0,58 für Ostdeutschland – also geringer ausgeprägte, aber immer noch eindeutige Korrelationen.

Damit ist eindeutig klar, dass die Höhe der Wahlbeteiligung stark von der Arbeitsmarktsituation abhängig ist. Ist diese schlecht, so sinkt die Zustimmung zum politisch-gesellschaftlichen System der Bundesrepublik – unter anderem deswegen, weil das Vertrauen der Menschen in die Problemlösungsfähigkeit der politischen Führung sinkt. Ohne eine Lösung oder zumindest nachhaltige Verminderung der nach wie vor anhaltenden Probleme des Arbeitsmarktes gerät die Demokratie in eine Legitimationskrise.

1 Quelle: Statistik regional, eine von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder jährlich gemeinsam herausgegebene Regionaldatenbank. Statistik regional kostet 148 Euro und kann zum Beispiel beim Statistischen Landesamt Baden-Württemberg bezogen werden.

2 Vgl. die Übersicht in Franz, Günther: Die politischen Wahlen in Niedersachsen 1867 – 1949, Bremen-Horn 1953, S. 97 und 230. Die dortigen Angaben beziehen sich auf den damaligen Gebietsstand des Landkreises Aurich.

3 Die Stadt Berlin wurde, da Westberlin größer war als Ostberlin, entgegen der Geografie dem Westen zugeordnet.