:: 3/2005

Setzt sich der Mitgliederschwund in den Kirchen fort?

... titulierten Joachim Eicken und Utz Lindemann1 vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart eine jüngst veröffentlichte, umfangreiche und sehr bemerkenswerte Untersuchung mit Daten aus dem Einwohnermelderegister der Stadt Stuttgart.2 Nun ist die Stadt Stuttgart wegen der dortigen Bevölkerungsstruktur und historisch bedingter Voraussetzungen für eine allgemein gültige Betrachtung der großen christlichen Konfessionen wenig geeignet. Einerseits ist eine zahlreiche moslemische Gemeinde zu vermuten und andererseits zeichnet sich der mittlere Neckarraum durch eine Vielzahl von Freikirchen und Sekten aus. Auch ist unbekannt, wie viele konfessionslose Stuttgarter es tatsächlich gibt, und noch unbekannter ist die Zahl der »bekennenden« Atheisten – wenn es solche in statistisch relevanten Größen überhaupt gibt. Inwieweit auch hier eine Großstadt die Entwicklung für kleinere Gemeinden oder anders strukturierte Gebiete vorzeichnet, muss offen bleiben.

Ein dreifacher Exodus für die großen christlichen Religionsgemeinschaften

Die Zahl der Evangelischen3 sank im Laufe von 3 Jahrzehnten bis 2004 um 130 000 Mitglieder, die der Katholiken um 53 000, dafür stieg die Zahl der »Sonstigen« um 132 000. Gründe für die Verluste der großen christlichen Gemeinschaften ist ein mehrschichtiger Exodus. Erstens ist »Exodus« wörtlich zu nehmen, denn zwischen 1974 und 2004 zogen per saldo 36 000 Evangelische aus der Stadt weg, bei den Katholiken waren es 14 000. Zweitens kann »Exodus« für die Zahl der Kirchenaustritte stehen, die allerdings erst seit 1990 für Eicken und Lindemann verfügbar waren. Danach verließen in den letzten 14 Jahren jährlich im Schnitt 4 200 Personen die evangelischen Kirchen, bei den Katholiken waren es 1 200 pro Jahr, die sich von der Kirche lossagten. Und drittens steht »Exodus« für das Verlassen des irdischen Lebens, was sich in der so genannten Tauf- und Beerdigungsbilanz niederschlägt. Dazu Eicken und Lindemann: »Die evangelische Kirche verliert allein dadurch pro Jahr 1 100 Kirchenmitglieder, dass die Zahl der Beerdigungen deutlich höher liegt als die Zahl der Taufen. Die stark negative Bilanz ist insbesondere auf den hohen Seniorisierungsgrad in der Mitgliederstruktur der evangelischen Kirchen zurückzuführen... Die Sterbefälle werden nicht durch eine ähnlich hohe Zahl an Taufen kompensiert... Dadurch wird in den letzten zehn Jahren circa 25 % des gesamten Mitgliederverlustes... verursacht. Bei der katholischen Kirche ist – zumindest in Stuttgart – die Bedeutung der Tauf- und Beerdigungsbilanz ... bislang nur gering ausgeprägt: Seit Kriegsende hat durch hohe Zuzüge jüngerer Katholiken in das traditionell protestantisch geprägte Stuttgart die Zahl der Katholiken stark zugenommen. Erst durch die Alterung dieser Jahrgänge nehmen nun die Sterbefälle und damit die kirchlichen Bestattungen von Katholiken zu.«

Die Hälfte der deutschen Kleinkinder Stuttgarts gehört keiner der großen christlichen Religionsgemeinschaften an

Die Zukunft einer jeden Gemeinschaft wird durch die nachfolgenden Generationen bestimmt – und das kann für die großen christlichen Religionsgemeinschaften Anlass zur Sorge sein. Noch vor drei Jahrzehnten bekannten sich »nur« 18 % der deutschen Stuttgarter nicht zu den Evangelischen oder den Katholiken. In keiner der Altersgruppen lag der Wert über 20 %. Heute dagegen sind 42 % der deutschen Stuttgarter weder evangelisch noch katholisch (Schaubild 1). Gravierend für die großen christlichen Kirchen ist, dass weit über die Hälfte der Jüngsten – formal – nicht zu ihnen gehören, bei den Allerjüngsten, den 1- bis 2-Jährigen, waren es sogar 75 %. Letzteres ist auf einen Wandel im Taufverhalten zurückzuführen, denn bereits bei den 5-jährigen Deutschen ist der Anteil der noch nicht in einer der großen christlichen Kirchen »Getauften« auf 50 % gesunken.

Recht auffallend ist der Sprung von den 50- bis unter 60-Jährigen zu den 60- bis unter 70-Jährigen (Schaubild 2); hier offenbart sich der mit der 68er-Revolte gepaarte Antiklerikalismus, der noch lange Zeit nachwirkte und vielleicht noch wirkt. Dass die deutschen Stuttgarter damit areligiös und laizistisch orientiert sind, lässt sich mit den Daten nicht belegen.

Düstere Aussichten für die christlichen Religionsgemeinschaften

Im Vorgriff auf eine genauere Berechnung der Stadt Stuttgart hat das Statistische Landesamt überschlägig die Konfessionszugehörigkeit der Bevölkerung bis ins Jahr 2020 vorausgerechnet. Eingeflossen sind dabei das Taufverhalten, die Wanderungsbewegung, die Altersstruktur und die Konfessionszugehörigkeit.

Danach dürfte sich der Bevölkerungsanteil der Evangelischen Kirchen im Laufe eines halben Jahrhunderts auf die Hälfte reduzieren; bei den Katholiken wird die Entwicklung wohl weniger dramatisch ausfallen. Von der Tendenz her wird sich in zwei Jahrzehnten jeder zweite Stuttgarter zu einer der sonstigen oder zu keiner Religionsgemeinschaft bekennen (Schaubild 1).

Die hier für die Stadt Stuttgart aufgezeigten Entwicklungen mögen symptomatisch für eine laizistisch geprägte großstädtische Bevölkerung sein, typisch für Baden-Württemberg sind sie nicht. In eher kleinstädtisch oder ländlich geprägten Gebieten sind Kirchenaustritte oder ausbleibende Taufen dem Anschein nach weniger feststellbar – amtliche Zahlen sind allerdings nicht verfügbar. Ob es sich bei dieser – im wahrsten Sinne – konservativen Verhaltensweise eher um eine »soziale Kontrolle« als um ein »christliches Bekennertum« handelt, muss offen bleiben.

1 Eicken, Joachim/Lindemann, Utz: »Setzt sich der Mitgliederschwund der Kirchen fort?« Statistik und Informationsmanagement Landeshauptstadt Stuttgart, Monatsheft 12/2004.

2 Eicken und Lindemann beklagen das Informationsdefizit, dass sich seit der Volkszählung von 1987 aufgebaut hat. »Dieses Informationsdefizit sei umso problematischer, als seit der Volkszählung von 1987 seitens der amtlichen Statistik keine statistisch abgesicherten Informationen zur Religionszugehörigkeit ... erhoben und aufbereitet werden«. Auch die beiden großen Volkskirchen würden letztlich nur wenige Informationen über ihre Mitglieder besitzen.

3 Zu den »Stuttgarter« evangelischen Kirchen zählten Eicken und Lindemann neben den Landeskirchen auch die »evangelisch Lutherischen«, die »evangelisch Reformierten« sowie die »französisch Reformierten«.