:: 7/2005

Bulgarien, Rumänien, Kroatien und die Türkei – die neuen EU-Beitrittskandidaten

Im Jahr 1957 gründeten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Aus der Gemeinschaft der Sechs ist bis zum heutigen Tage die Europäische Union (EU) der 25 geworden und bald soll es mit der Erweiterung der EU weitergehen, denn die nächsten Kandidaten klopfen schon an die EU-Tür: Bulgarien, Rumänien, Kroatien und die Türkei. Im folgenden Beitrag werden die EU-Kandidaten hinsichtlich ihrer geografischen, demografischen und wirtschaftlichen Stellung innerhalb der EU und Baden-Württembergs näher untersucht.

Die entscheidenden Kriterien, an denen die »EU-Reife« eines Landes festgemacht wird, sind die Kopenhagener Kriterien. Sie decken drei Ebenen ab, die

  • politische Ebene: Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung und die Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte
  • wirtschaftliche Ebene: Funktionsfähige Marktwirtschaft, inklusive der Fähigkeit im Wettbewerb innerhalb der EU zu bestehen
  • juristische und europarechtliche Ebene: Funktionsfähiger Verwaltungs- und Justizapparat und Übernahme des europäischen Gemeinschaftsrechts bzw. Besitzstandes.

Die Erfüllung der politischen Aufnahmekriterien ist die Vorbedingung für die Aufnahme offizieller Beitrittsverhandlungen. Mit Bulgarien und Rumänien sind die Beitrittsverhandlungen abgeschlossen. Der Beitritt dieser Länder zur EU wird daher voraussichtlich 2007 erfolgen können. Bei ihrem Treffen im Dezember 2004 in Brüssel haben die europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossen, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Oktober 2005 zu beginnen. Kroatien wurde im Juni 2004 der Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Die für März 2005 vorgesehenen Beitrittsverhandlungen mit Kroatien wurden allerdings wegen mangelnder Zusammenarbeit mit dem UN-Tribunal für Kriegsverbrechen in Den Haag auf unbestimmte Zeit verschoben.

Nach Beitritt der vier Länder: Fläche der EU um fast ein Drittel größer

Durch den Beitritt der vier Aspiranten würde sich das Gesicht der EU noch einmal grundlegend verändern. Allein die Fläche der EU wird sich dann um fast ein Drittel vergrößern, vor allem bei einer etwaigen Aufnahme der Türkei, denn mit einer Fläche von 800 000 km² ist sie mehr als doppelt so groß wie Deutschland (Schaubild).

Die Meerengen der Dardanellen und des Bosporus trennen die Türkei in einen europäischen und einen asiatischen Teil, wobei 97 % des türkischen Staatsgebietes in Asien und 3 % in Europa liegen. Die Außengrenzen der EU – würde es zu einem EU-Beitritt kommen – reichten dann im Osten bis zum Irak, Syrien und dem Iran.

Mit 72 Millionen Einwohnern hätte die Türkei derzeit hinter Deutschland (82,5 Mill.) die meisten Einwohner aller EU-Länder. Während Rumänien mit gut 22 Mill. im vorderen Mittelfeld läge, gehörten Bulgarien und Kroatien mit 8 bzw. 4 Mill. Einwohnern zu den kleineren EU-Ländern.

Hohe Geburtenrate in der Türkei

Eine türkische Frau gebärt im Durchschnitt 2,4 Kinder. Damit wäre die Türkei das einzige Land in der Europäischen Union, das eine bestandserhaltende Geburtenrate von zwei Kindern je Frau überschreitet. Die Geburtenraten der drei anderen Kandidatenländer Bulgarien, Rumänien und Kroatien liegen zwischen 1,23 und 1,34 Kinder je Frau und damit noch unter dem Wert Baden-Württembergs (1,36) und dem Durchschnitt der 25 Mitgliedsländer der Europäischen Union von 1,48 Kinder je Frau (vgl. Tabelle 1).

Infolge der hohen Geburtenrate wächst die Zahl der Menschen in der Türkei weiter. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen dürfte die Türkei bis Mitte dieses Jahrhunderts fast 100 Mill. Einwohner haben. Die Türkei wäre dann nicht nur das bevölkerungsreichste Land der EU, sondern auch das Land mit der jüngsten Bevölkerung. Schon heute sind in der Türkei nur 5 % der Menschen älter als 65 Jahre, aber knapp 30 % unter 15 Jahre. Damit stehen einem älteren Menschen fast sechs junge Personen gegenüber.

Diese Altersstruktur weist kein anderes Beitrittsland auf. Sowohl in Rumänien als auch in Kroatien liegt der Anteil der unter 15-Jährigen bei 17 %; dies entspricht in etwa dem EU-Durchschnitt. Unter den Beitrittskandidaten hat Bulgarien die wenigsten jungen Leute. Nur knapp 15 % der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre. Auch Baden-Württemberg liegt mit einer Quote von 16 % unter dem EU-Durchschnitt.

Unterdurchschnittliche Beteiligung am Erwerbsleben

Die Bevölkerung aller vier EU-Beitrittskandidaten weist eine unterdurchschnittliche Beteiligung am Erwerbsleben auf. Während in Baden-Württemberg knapp 70 % der Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren 2003 einer Erwerbstätigkeit nachgingen, lag die Türkei mit einer Erwerbstätigenquote von knapp 46 % im Vergleich mit den aktuellen EU-Ländern auf dem letzten Platz. Aber auch Bulgarien, Kroatien und Rumänien lagen mit Quoten zwischen 53 bis 57 % noch unter dem EU-Durchschnitt von 63 %. Mitverantwortlich für die unterdurchschnittliche Erwerbstätigenquote vor allem in der Türkei ist die geringere Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Nur jede vierte türkische Frau war 2003 erwerbstätig. In den drei anderen Kandidatenländern gingen zwar wesentlich mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit nach als in der Türkei, aber immer noch weniger als im EU-Durchschnitt, der sich auf 55 % beläuft.

Größere Spannweite des wirtschaftlichen Wohlstandes nach Beitritt

Die Wirtschaft der vier EU-Aspiranten zusammen ist in ihrer Größe in etwa mit der Baden-Württembergs vergleichbar. Bulgarien und Kroatien erreichen dabei jeweils weniger als 10, Rumänien knapp 20 und die Türkei circa 75 % der baden-württembergischen Wirtschaftsleistung. Die Spannweite des wirtschaftlichen Wohlstandes innerhalb der Europäischen Union wird sich nach dem Beitritt der vier Kandidatenländer noch einmal erheblich vergrößern. So erreicht die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung der vier Anwärter – gemessen in Kaufkraftstandards, einer rechnerischen Währungseinheit, die internationale Preisniveauunterschiede eliminiert – derzeit jeweils nicht einmal die Hälfte des EU-25-Durchschnitts. Damit würden die Türkei, Bulgarien und Rumänien die letzten Plätze in einem künftigen EU-Wohlstandsranking belegen.

In den meisten Ländern der EU ist ein stetiger Wandel der Wirtschaftsstruktur zu erkennen. Während der Anteil des Produzierenden Gewerbes an der Gesamtwirtschaft kontinuierlich sinkt, steigt dementsprechend der Dienstleistungsanteil. Der Primäre Sektor spielt in der EU-25 insgesamt nur eine untergeordnete Rolle, denn die Land-, Forstwirtschaft und Fischerei hat in der EU nur noch einen Anteil von durchschnittlich gut 2 %, in Baden-Württemberg sogar von weniger als 1 %. In den Beitrittsländern Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Türkei ist dieser Strukturwandel in diesem Umfang noch nicht vollzogen. Während ihr Dienstleistungsanteil deutlich unter dem EU-Durchschnitt liegt, trägt die Land-, Forstwirtschaft und Fischerei in den Kandidatenländern mit Anteilen zwischen 8 und 13 % um ein Mehrfaches zur Wirtschaftsleistung bei als im EU-Durchschnitt.

Mit einem realen Wirtschaftswachstum 2004 zwischen 4 und 8 % zeigten die Volkswirtschaften der EU-Aspiranten allerdings eine spürbare wirtschaftliche Dynamik. Sie expandierten damit weitaus kräftiger als die bisherigen EU-Länder, in denen sich das Wachstum auf durchschnittlich 2,4 % belief.

Viele Menschen aus den EU-Beitrittskandidaten leben, lernen und arbeiten bereits heute in Baden-Württemberg

Schon heute leben viele Menschen aus den Kandidatenländern bei uns im Südwesten. So kamen von den gut 1,2 Mill. Ausländern, die Ende 2003 in Baden-Württemberg lebten, mit Abstand die meisten aus der Türkei (Tabelle 2). Rund jeder vierte Ende 2003 im Land lebende Ausländer stammte aus dem Land am Bosporus. Auf den nächsten Positionen folgen Italiener, Griechen, Jugoslawen und danach kommen schon an fünfter Stelle die Kroaten. Knapp 80 000 kroatische Staatsangehörige lebten Ende 2003 im Südwesten. Die Wanderungsbilanz Baden-Württembergs mit den vier Kandidaten wies 2003 einen Wanderungsgewinn von 3 000 Personen auf, das heißt, die Summe der Zuzüge aus der Türkei, Rumänien, Bulgarien und Kroatien überstieg die Fortzüge aus Baden-Württemberg.

Fast die Hälfte der ausländischen Schülerinnen und Schüler, die im Schuljahr 2003/04 in Baden-Württemberg allgemein bildende Schulen besuchten, stammten aus der Türkei und Kroatien. Doch ihre schulischen Chancen werden oft durch Sprachprobleme beeinträchtigt. Diese dürften eine wesentliche Ursache für den vergleichsweise niedrigen Anteil an Gymnasiasten sein. Von den knapp 70 000 türkischen Schülern, die im Oktober 2003 eine weiterführende Schule besuchten, gingen nur rund 5 % auf ein Gymnasium, während 35 % eine Hauptschule besuchten.

An den Hochschulen in Baden-Württemberg waren im Wintersemester 2003/04 knapp 230 000 Studierende eingeschrieben. Unter ihnen hatten 35 000 oder 15 % eine ausländische Staatsangehörigkeit. Bei den einzelnen Herkunftsländern lag China mit über 4 000 Studenten an der Spitze. Danach folgten aber schon die zwei Beitrittskandidaten Türkei mit etwa 3 000 und Bulgarien mit knapp 2 000 Studierenden. Waren im Wintersemester 1995/96 gerade einmal 141 bulgarische Studierende eingeschrieben, stieg ihre Zahl bis zum Wintersemester 2003/04 auf 1 955. Mitverantwortlich für den hohen Beliebtheitsgrad deutscher Universitäten für bulgarische Studenten ist, dass Deutsch als Fremdsprache – gerade unter der jüngeren Generation in Bulgarien – weit verbreitet ist. Nach Englisch, aber noch vor Französisch und Russisch, ist Deutsch die an bulgarischen Schulen am zweithäufigsten unterrichtete Sprache – und dies mit steigender Tendenz in Qualität und Quantität.

413 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte besaßen in Baden-Württemberg Ende 2003 einen ausländischen Pass. Davon stellten Arbeitnehmer aus der Türkei die stärkste Gruppe mit 100 000 Beschäftigten. Mit knapp 25 000 Beschäftigten gehören auch die Kroaten zu den größeren Gruppen ausländischer Arbeitnehmer im Land, während Arbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien noch eher selten sind.

Von den Ende März 2005 gut 400 000 Arbeitslosen in Baden-Württemberg waren 96 000 Ausländer. Während jeder 20. ausländische Arbeitslose kroatischer Nationalität war, handelte es sich bei fast jedem dritten ausländischen Arbeitslosen um einen türkischen Mitbürger. Ihre häufig schlechtere oder fehlende Berufsausbildung erschwert es den ausländischen Mitbürgern, einen Arbeitsplatz zu finden. Gleichzeitig sind sie deshalb von dem Wegfall vieler Stellen für niedrig qualifizierte Arbeiter besonders betroffen.