:: 12/2006

Wenn Erwachsene wieder zur Schule gehen

Der zweite Bildungsweg in Baden-Württemberg

Der zweite Bildungsweg bietet Weiterbildungswilligen, die nicht mehr schulpflichtig sind, eine zweite Chance, den Realschulabschluss, die Fachhochschulreife oder die fachgebundene bzw. allgemeine Hochschulreife zu erlangen. Gemeinsame Voraussetzung für die Teilnahme an einer Einrichtung des zweiten Bildungswegs ist dabei eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine mehrjährige Berufstätigkeit. Gut 15 500 Erwachsene haben im Schuljahr 2005/06 in Baden-Württemberg eine Einrichtung des zweiten Bildungswegs besucht: knapp 6 600 eine der 67 allgemeinbildenden Abendrealschulen, Abendgymnasien und Kollegs und gut 8 900 eine der 127 beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs. Das waren 0,5 % mehr als im Vorjahr und knapp 40 % mehr als vor 5 Jahren.

Der zweite Bildungsweg unterscheidet sich grundlegend vom »ersten« Bildungsweg. Beim »ersten« Bildungsweg sind die minderjährigen Schüler zum Besuch einer Grundschule (oder entsprechenden Ersatzschule) sowie einer weiterführenden Schule verpflichtet. Der schulische Bildungsgang kann dabei nicht unterbrochen werden. Zugangsvoraussetzungen gibt es mit Ausnahme der Grundschulempfehlung keine. Die Teilnehmer des zweiten Bildungswegs dagegen sind erwachsen und volljährig. Sie müssen je nach Einrichtung verschiedene gesetzlich festgelegte Aufnahmevoraussetzungen erfüllen, wobei eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine mehrjährige Berufstätigkeit gemeinsame Voraussetzung aller Einrichtungen ist (vgl. i-Punkt).

Insgesamt haben gut 15 500 Erwachsene im Schuljahr 2005/06 eine Einrichtung des zweiten Bildungswegs besucht:

im allgemeinbildenden Schulsystem6 572
im beruflichen Schulsystem8 937

Dies waren 0,5 % mehr als im Vorjahr und knapp 40 % mehr als vor 5 Jahren. Den mit Abstand größten Anteil an den Teilnehmern hatten dabei die Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife mit 44 %.

Ausländische Mitbürger an allgemeinbildenden Abendschulen relativ stark vertreten

Mit 3 059 Teilnehmern (davon 55 % weiblich) verzeichneten 2005/06 die 20 Abendgymnasien1 des Landes die höchsten Teilnehmerzahlen unter den allgemeinbildenden Schulen des zweiten Bildungswegs. 551 Teilnehmer besaßen eine ausländische Staatsangehörigkeit – am häufigsten die türkische. Damit ist der Ausländeranteil mit 18 % an den Abendgymnasien mehr als viermal so hoch wie an den allgemeinbildenden Gymnasien des »ersten Bildungswegs« mit lediglich 4 %. 406 Prüflinge legten im Jahr 2005 ihre Abschlussprüfung mit Erfolg ab (Tabelle 1), wobei sich in der letzten Klassenstufe 475 Teilnehmer befunden hatten. Die meisten Abendgymnasiasten hatte Stuttgart, allerdings sind hier einem der zwei Abendgymnasien in Stuttgart auch noch die Außenstellen in Esslingen und Weinstadt mit 204 bzw. 145 Teilnehmern zugerechnet (Tabelle 2).

An den 43 Abendrealschulen gab es 2 852 Teilnehmer, davon 47 % weiblich. Der Anteil der ausländischen Schüler lag an dieser Schulart bei 26 % und war damit ebenfalls wesentlich höher als an den allgemeinbildenden Realschulen des »ersten Bildungswegs« mit 8 %. Auch hier war die türkische Nationalität unter den ausländischen Teilnehmern weitaus am stärksten vertreten. Mit dem Realschulabschluss konnten 609 Schüler im Jahr 2005 die Abendrealschulen verlassen. Der Stadtkreis Freiburg hatte mit 243 die meisten Abendrealschüler – entsprechend der Dienststellenzählung ist hier aber einer der zwei Abendrealschulen eine Außenstelle in Zell mit 47 Teilnehmern zugerechnet.

661 Erwachsene besuchten schließlich eines der 6 Kollegs des Landes, darunter 323 Frauen aber nur 27 (4 %) ausländische Teilnehmer. 162 Kollegiaten konnten nach erfolgreich abgelegter Abschlussprüfung auf die erworbene Hochschulreife stolz sein, wobei in der Abschlussklassenstufe 177 Teilnehmer gemeldet waren. Innerhalb der Stadt- und Landkreise schwankten die Teilnehmerzahlen an den Kollegs zwischen 210 in Stuttgart und 26 im Ortenaukreis.

Zahl der Teilnehmer am allgemeinbildenden zweiten Bildungsweg sprunghaft angestiegen

Die Entwicklung der Teilnehmerzahlen von Abendrealschulen, -gymnasien und Kollegs ist in den letzten 20 Jahren wellenförmig verlaufen. Der Tiefpunkt war 1995/96 mit insgesamt 3 692 Teilnehmern. Seit 1998/99 ist die Zahl der Teilnehmer ununterbrochen von 4 062 auf 6 572 gestiegen. Vor allem in den Jahren 2001 bis 2004 verzeichneten diese drei Schulenarten zusammen jährliche Wachstumsraten zwischen 9 und 15 %.

Bei den Abendrealschulen findet sich der absolut geringste Wert der Schülerzahlen im Jahr 1993/94 mit 1 405 Schülern. Seit 1999/2000 sind die Zahlen aber stetig von 1 851 auf 2 852 geklettert. Die Abendgymnasien mussten ihre geringste Teilnehmerzahl der letzten 20 Jahre im Schuljahr 1995/96 mit 1 496 Schülern verbuchen. Seit 1998/99 nehmen auch hier die Schülerzahlen von Jahr zu Jahr zu; vom Schuljahr 2001/02 auf 2002/03 sogar konkurrenzlose 24 %. Bei den Kollegs gab es im betrachteten Zeitraum im Schuljahr 1990/91 mit 865 die meisten und 1999/2000 mit 442 die wenigsten Kollegiaten. Seither nehmen auch hier die Schülerzahlen zu.

9 000 Schüler an den beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs

Zu den beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs zählen die Mittel- und die Oberstufe der Berufsoberschulen sowie die Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife (i-Punkt). Das Telekolleg II, welches organisatorisch den beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs zugeordnet war, wird seit dem Schuljahr 2000/01 in Baden-Württemberg nicht mehr angeboten.

Die Zahl der Erwachsenen, die nach abgeschlossener Berufsausbildung oder mehrjähriger Berufstätigkeit höhere Schulabschlüsse an den beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs anstreben, ist innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte deutlich gestiegen. Besuchten 1985 rund 5 200 Schüler die beruflichen Einrichtungen des zweiten Bildungswegs sind es heute mit knapp 9 000 Weiterbildungswilligen nahezu doppelt so viele.

Deutlicher Rückgang an den Berufsaufbauschulen

Die Berufsoberschulen bauen auf einer abgeschlossenen Berufsausbildung auf und vermitteln vor allem eine vertiefende allgemeine und fachtheoretische Bildung. Sie gliedern sich in Mittelstufe (Berufsaufbauschule) und Oberstufe (Technische Oberschule und Wirtschaftsoberschule). In einem einjährigen Vollzeitunterricht bieten die Berufsaufbauschulen die Möglichkeit, den mittleren Bildungsabschluss (Fachschulreife) zu erwerben. Entsprechend der beruflichen Vorbildung der Schüler unterscheidet man Berufsaufbauschulen der gewerblichen, der kaufmännischen, der hauswirtschaftlich-pflegerisch-sozialpädagogisch und der landwirtschaftlichen Richtung.

Die größte Nachfrage erlebten die Berufsaufbauschulen Ende der 60er-Jahre, als sie landesweit von über 3 000 Schülerinnen und Schülern besucht wurden. Danach setzte ein rückläufiger Trend ein, der sich über vier Jahrzehnte fortsetzte und zur Jahrtausendwende (im Schuljahr 2000/01) mit lediglich 563 Schülern seinen Tiefpunkt erreicht hatte. Mit 684 Schülern im letzten Schuljahr 2005/06 und einem Plus von knapp 2 % gegenüber dem Vorjahr scheint dieser Trend gestoppt zu sein.

Die gesunkene Nachfrage dieses Bildungsangebotes in den vorangegangenen Jahrzehnten ist wohl vornehmlich darauf zurückzuführen, dass der mittlere Bildungsabschluss nun in verstärktem Maße im klassischen Schulsystem erworben wird. Zudem werden qualifikationswilligen jungen Menschen weitere Alternativen geboten, an beruflichen Schulen einen mittleren Bildungsabschluss zu erhalten. So kann dieser ebenfalls an den zweijährigen zur Fachschulreife führenden Berufsfachschulen sowie – unter bestimmten Voraussetzungen und Qualifikationen – an einigen Berufsschulen im dualen System erreicht werden (i-Punkt Seite 8).

Mit Einführung der allgemeinen Hochschulreife steigende Nachfrage bei Berufsoberschulen

Wer über einen mittleren Bildungsabschluss und eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine damit vergleichbare Berufserfahrung verfügt, kann über die Oberstufe der Berufsoberschulen im zweijährigen Vollzeitunterricht zur fachgebundenen Hochschulreife gelangen. Bei der zusätzlichen Belegung einer zweiten Fremdsprache kann an diesen Einrichtungen auch die allgemeine Hochschulreife erworben werden. In der Oberstufe der Berufsoberschulen stieg zum Schuljahr 2005/06 die Schülerzahl um knapp 4 % auf 1 441 an. Dies ist die höchste Schülerzahl an diesen beiden Schularten seit der Einführung der Wirtschaftsoberschule zum Schuljahr 1980/81. Nach einem Maximum mit 1 415 Schülern (1991/92) war in den darauf folgenden Jahren an den Technischen und Wirtschaftsoberschulen ein kontinuierlicher Rückgang zu beobachten, der seinen Tiefpunkt mit unter 1 000 Schülern im Schuljahr 1998/99 erreichte. In den letzten Jahren wiesen die Technische und die Wirtschaftsoberschule wieder eine steigende Nachfrage auf. Die Ursache hierfür könnte darin liegen, dass seit der Jahrtausendwende an diesen Einrichtungen bei Belegung einer zweiten Fremdsprache auch die allgemeine Hochschulreife erworben werden kann.

Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife besonders attraktiv

Das Berufskolleg zum Erwerb der Fachhochschulreife ist eine relativ junge Einrichtung des zweiten Bildungswegs. Seit dem Schuljahr 1979/80 bietet dieses Interessenten mit mittlerem Bildungsabschluss sowie einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder einer entsprechenden Berufserfahrung die Möglichkeit, in einem einjährigen Vollzeitunterricht die bundesweit anerkannte Fachhochschulreife zu erlangen. Auch an den Berufskollegs können sich die Schüler entsprechend ihrer Berufsausbildung für einen gewerblichen, kaufmännischen oder hauswirtschaftlichen Schwerpunkt entscheiden. Seit rund 10 Jahren steht auch der Schwerpunkt »Gestaltung« zur Wahl. Während die Berufsoberschulen ausschließlich in öffentlicher Trägerschaft geführt werden, werden die Berufskollegs auch von privaten Trägern angeboten.

Für den Besuch eines Vollzeit-Berufskollegs müssen die Schüler in der Regel ihre Berufstätigkeit aufgeben, sofern ihr Arbeitgeber ihnen keine Rückkehrmöglichkeit offen hält oder sie sogar für ein Jahr freistellt. Seit dem Schuljahr 1986/87 kann dieser Weg zur Fachhochschulreife auch im Rahmen eines 2 Jahre dauernden Teilzeitunterrichts erworben werden, welcher die gleichen Inhalte an Abenden und Wochenenden vermittelt. In diesem Fall können die Schüler die Fachhochschulreife anstreben, ohne gleichzeitig ihren Arbeitsplatz verlassen zu müssen.

Die Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife sind mit 6 800 Teilnehmern derzeit der mit Abstand größte Teilbereich des zweiten Bildungswegs (Tabelle 2). Seit ihrer Gründung bis in die 90er-Jahre konnte diese Schulart einen starken Anstieg der Schülerzahlen verzeichnen. Die schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt in den 90er-Jahren dämpften allerdings die Nachfrage, die Schülerzahlen gingen entsprechend deutlich auf 4 400 zurück. Seit der Jahrtausendwende wird dieses Weiterbildungsangebot wieder mehr in Anspruch genommen.

Während der Trend der Vollzeit-Berufskollegs größeren Schwankungen unterliegt und von der konjunkturellen Entwicklung abhängig zu sein scheint, erfreuen sich die Teilzeit-Berufskollegs nach wie vor einer leicht steigenden Nachfrage. Rund jeder achte Schüler des Berufskollegs nahm im letzten Schuljahr die Doppelbelastung von Berufstätigkeit und Schule auf sich.

Frauenanteil an beruflichen Schulen ist recht konstant

An den beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs stellen Frauen lediglich an den Wirtschaftsoberschulen mit knapp 56 % die Mehrheit. Wesentlich geringer ist dagegen der Frauenanteil an den Technischen Oberschulen: hier ist weniger als ein Sechstel der Schüler weiblich. Der Frauenanteil an den Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife liegt bei knapp 36 %, an den Berufsaufbauschulen ist immerhin fast ein Viertel der Teilnehmer weiblichen Geschlechts.

Der Anteil der ausländischen Schüler an den beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs ist im Schuljahr 2005/06 mit knapp 8 % nach wie vor gering. Eine Ausnahme stellen die Berufsaufbauschulen dar, die zu einem mittleren Bildungsabschluss führen: hier sind nahezu ein Viertel der Schüler ausländischer Staatsangehörigkeit. Entsprechend den allgemeinbildenden Einrichtungen ist auch an den beruflichen Schulen des zweiten Bildungswegs die türkische Nationalität am häufigsten vertreten: Jeder dritte Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist türkischer Abstammung.

Die meisten Abgänger sind erfolgreich

Einen höheren Schulabschluss über die beruflichen Einrichtungen des zweiten Bildungswegs zu erwerben erfordert großes Durchhaltevermögen. Trotzdem wird diese Art der Weiterbildung von den meisten auch erfolgreich abgeschlossen. An der Oberstufe der Berufsoberschulen haben sieben von acht Schülern (87 %) die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife erworben. Die Schüler an den Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife sind ähnlich erfolgreich: Vier Fünftel konnten das Berufskolleg mit der Fachhochschulreife verlassen. Dabei unterscheidet sich die Erfolgsquote von Männern und Frauen nur unwesentlich. Dagegen bestanden an der Berufsaufbauschule lediglich zwei von drei Schülern die Abschlussprüfung. Von den Frauen erreichte sogar nur die Hälfte den mittleren Bildungsabschluss.

Landesweit flächendeckendes Angebot von Einrichtungen des zweiten Bildungswegs

Wer eine Schule des zweiten Bildungswegs in Baden-Württemberg besuchen möchte, trifft auf ein flächendeckendes Angebot. Jeder Kreis hat mindestens eine Einrichtung des zweiten Bildungswegs, mit Ausnahme des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald und des Alb-Donau-Kreises. Vor allem in den Oberzentren Stuttgart, Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Freiburg, Heilbronn und Ravensburg/Weingarten sind zahlreiche Einrichtungen angesiedelt. Eher dünn besiedelte oder verkehrstechnisch benachteiligte Gebiete haben eine vergleichsweise geringe Schuldichte. Das gilt insbesondere für Teile des nördlichen und südlichen Schwarzwalds sowie der Schwäbischen Alb und für Oberschwaben. Während Abendrealschulen, Berufsaufbauschulen und Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife sowie die Abendgymnasien ein dichtes Netz von Weiterbildungsstätten bilden, sind die 6 Kollegs, die 9 Technischen Oberschulen und die 7 Wirtschaftsoberschulen in den größeren Städten des Landes angesiedelt oder befinden sich zumindest in einem Mittelzentrum.

1 Bei der Anzahl der Schulen werden nur Dienststellen gezählt. Außenstellen werden der Stammschule zugerechnet.