:: 8/2008

Die »Vier Motoren Europas«: Herausforderungen durch den demografischen Wandel

Baden-Württemberg im internationalen Vergleich mit Katalonien, der Lombardei und Rhône-Alpes

Geburtenrückgang und Alterung der Gesellschaft sind in allen europäischen Staaten zu beobachten. Allerdings gibt es Unterschiede. Dies belegen auch die sogenannten »Vier Motoren«: die vier wirtschaftsstarken Regionen Baden-Württemberg, Katalonien, Lombardei und Rhône-Alpes. Sie werden anhand ausgewählter Merkmale verglichen: Demografie, Wirtschaft, Entwicklung privater Haushalte und Bildung.

Die Regionen Baden-Württemberg, Katalonien, Lombardei und Rhône-Alpes (siehe i-Punkt) haben sich 1988 zu den »Vier Motoren für Europa« zusammengeschlossen1. Das Netzwerk will gemeinsam die regionale Wirtschaft stärken und seinen politischen Einfluss innerhalb der Europäischen Union weiter festigen. Die vier Partner gehören zu den technologisch und wirtschaftlich starken Regionen in ihren jeweiligen Nationalstaaten und in Europa. Besonders hoch ist das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in der Lombardei mit 31 618 Euro und in Baden-Württemberg mit 300 433 Euro. In allen vier Regionen ist in den letzten 10 Jahren das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner nahezu kontinuierlich gestiegen, besonders stark in der Lombardei und in Katalonien.

Allerdings haben sich die ökonomischen Kräfteverhältnisse zwischen den Regionen, aber auch gegenüber der EU als Ganzes verändert. Maßstab ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im EU-Durchschnitt (= 100 %). In Baden Württemberg fiel es von 1995 bis 2005 um 45 Prozentpunkte. In Katalonien stieg es von 96 % im Jahr 1995 auf 111 % im Jahr 2005. In Rhône-Alpes ist es im Vergleich zu 1995 ebenfalls gesunken. In der Lombardei ist es im betrachteten Zeitraum – nach einigen Aufs und Abs – leicht angestiegen.

Ob die vier Regionen ihre ökonomische Stärke in Europa auch künftig behaupten können, hängt sehr davon ab, wie sie auf den demografischen Wandel reagieren. Die »Vier Motoren« unterscheiden sich in ihren demografischen Entwicklungen und Erwartungen untereinander, obwohl sie sich in dem Geburtenrückgang und der Alterung der Gesellschaft ähneln. Sie stehen damit teils vor gleichen, teils aber auch vor unterschiedlichen demografischen Herausforderungen.

Unterschiedliche demografische Entwicklungen innerhalb der Regionen

  • Geburtenentwicklung: Alle Staaten in Europa erreichen seit Jahren, manche schon seit Jahrzehnten nicht mehr das sogenannte Reproduktionsniveau von 210 Kindern je 100 Frauen. Für Baden-Württemberg gilt dies seit 1970, Rhône-Alpes seit 1975, Katalonien seit 1980 und in Italien seit 1981. Mit anderen Worten: Die Elterngeneration wird nicht mehr vollständig ersetzt, und ohne Zuwanderung sinkt langfristig die Bevölkerungszahl. In Baden-Württemberg hat sich die Geburtenrate zwischen 1991 und 2006 in der Tendenz ständig weiter verringert von 145 auf 134 Kinder pro 100 Frauen im Alter von 15 bis unter 45 Jahren. Ganz anders die Geburtenraten in den drei anderen Regionen. Sie erreichten Mitte der 90er-Jahre einen Tiefpunkt, um von da an stetig anzusteigen. In der Lombardei von 106 (1994) auf 141 (2006), in Katalonien von 115 (1996) auf 147 (2006) und in Rhône-Alpes von 166 (1994) auf 198 (2006). Rhône-Alpes unterschied sich in den letzten Jahren kaum von der durchschnittlichen Geburtenrate in Frankreich. Frankreich erreichte 2006 mit 200 Kindern pro 100 Frauen die höchste Geburtenrate seit 30 Jahren; 2007 dürften es 197 Kinder je 100 Frauen gewesen sein.2 Baden-Württemberg hat von den vier Regionen mittlerweile die niedrigste Geburtenrate.
  • Bevölkerungswachstum: Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts hatte Baden-Württemberg noch das höchste Bevölkerungswachstum der vier Regionen, heute ist es am niedrigsten. Zwischen 2000 und 2005 ist die Bevölkerungszahl jährlich nur noch um 0,4 % gestiegen. Mehr als doppelt so hoch war hingegen das Wachstum in der Lombardei und in Rhône-Alpes (0,9 %); besonders stark hat die Bevölkerung in Katalonien zugenommen (1,8 %). 2006 war in Baden-Württemberg die natürliche Bevölkerungsveränderung zum ersten Mal negativ: Es gab weniger Geburten als Sterbefälle. In naher Zukunft dürfte die Zuwanderung aus dem Ausland dieses Defizit nicht mehr ausgleichen. Deshalb werden in Baden-Württemberg künftig weniger Menschen leben. In Deutschland ist die natürliche Bevölkerungsbewegung aus Geburten und Sterbefällen schon seit Jahren negativ. Die Bevölkerungszahl ist bis Anfang 2000 nur noch durch einen positiven Wanderungssaldo gestiegen. Seit 2003 nimmt die Bevölkerungszahl in Deutschland kontinuierlich ab. Die Zuwanderung spielt quantitativ mit 0,3 Personen je 1 000 Einwohner (2006) kaum noch eine Rolle. Im Gegensatz dazu ist die natürliche Bevölkerungsveränderung in Spanien, aber vor allem in Frankreich weiterhin positiv. Besonders hoch ist in Spanien zudem das Wanderungsplus von 14 Personen je 1 000 Einwohner, in Italien beträgt das Wanderungsplus knapp 4 Personen und in Frankreich 1 bis 2 Personen je 1 000 Einwohner (2006).
  • Jugend- und Altenquotient: Baden- Württemberg ist noch ein »junges«, aber doch schon ein »altes« Land, gemessen daran, wie viele Jüngere bzw. Ältere den Menschen im mittleren Alter gegenüberstehen. Einerseits kommen im Südwesten 23 14-Jährige und Jüngere auf 100 Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren. In der Lombardei und in Katalonien sind es 20 bzw. 21 Jüngere, und damit etwas weniger als im Südwesten. Den höchsten Jugendquotienten hat Rhône-Alpes mit 29 Jüngeren auf 100 Personen im mittleren Alter. Andererseits kommen im Südwesten 27 der 65-Jährigen und Älteren auf 100 Personen im mittleren Alter. In Katalonien sind es 24, in der Lombardei 28 und in Rhône-Alpes vergleichsweise nur 23 Personen.
  • Bevölkerungsvorausrechnungen: Baden-Württemberg und Deutschland gehen davon aus, dass sich die gegenwärtige Geburtenrate kaum verändern und die Bevölkerungszahl bis 2050 abnehmen wird. Frankreich erwartet auch künftig eine für Europa überdurchschnittlich hohe Geburtenrate und einen Anstieg der Bevölkerungszahl. Ebenso geht Spanien, basierend auf dem Zensus 2001, von einem weiteren Anstieg der Geburtenrate und der Bevölkerungszahl bis 2050 aus. Italien rechnet noch mit einem Anstieg der Bevölkerungszahl bis 2018 und danach mit einem Rückgang bis 2050. Dabei wird bis 2030 eine etwas höhere Geburtenrate (141 Geburten/100 Frauen) angenommen; 2006 lag sie bei 135 Geburten je 100 Frauen.

Demografische Veränderungen Ausdruck des Wandels der Lebensformen

Die demografische Entwicklung spiegelt den Wandel der Lebensformen wieder. In den Haushalten leben immer weniger Menschen; in immer weniger Haushalten leben Kinder; und immer seltener werden die Haushalte, in denen 3 oder mehr Kinder aufwachsen. Dieser Trend dürfte auf alle vier Regionen bzw. Staaten zutreffen. Allerdings gibt es Unterschiede.

  • Die durchschnittliche Bewohnerzahl je Haushalt lag 2003 (1993) in Deutschland bei 2,1 (2,3), Frankreich: 2,4 (2,5), Italien: 2,6 (2,8) und Spanien: 2,9 (3,3). Während in Frankreich und Deutschland die Menschen eher alleine leben, wohnen die Personen in Spanien mit mehreren zusammen.
  • Der Anteil der Haushalte mit Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren lag 2001 (1991) in Deutschland bei 24 % (27 %), Frankreich 30 % (34 %), Italien 29 % (36 %), Spanien 34 % (44 %). In Barcelona hatten 2001 rund 24 % der Haushalte Kinder unter 18 Jahren, in Lyon 27 % und in Mailand dagegen nur 18 %. In Stuttgart lebten 2001 in 18,3 % der Haushalte Kinder, 2006 waren es 17,8 %. In den Haushalten von Baden-Württemberg und Deutschland leben, bei diesem regionalen Vergleich, besonders selten minderjährige Kinder.
  • Der Rückgang kinderreicher Familien in den letzten Jahrzehnten ist in allen europäischen Staaten zu beobachten. Besonders oft leben jedoch noch in Frankreich 3 oder mehr Kinder in einem Haushalt. Demgegenüber hat Deutschland bezogen auf alle Haushalte relativ die meisten Haushalte ohne unterhaltspflichtige Kinder.

Demografische Folgen für die Wirtschaft

Als Konsequenz aus der demografischen Situation ist mit einem Rückgang der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren und einem Anstieg des durchschnittlichen Alters der Belegschaft zu rechnen. Bereits heute bleiben in Deutschland und erst recht in Baden-Württemberg zehntausende von Stellen in den Betrieben unbesetzt, weil Fachkräfte fehlen. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) entstand 2006 in Deutschland aufgrund des Fachkräftemangels ein Wertschöpfungsverlust von mehr als 18 Mrd. Euro3. Ferner sieht man in der Alterung der Belegschaft eine Gefährdung der Innovationsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes.

In den vier Regionen waren 2006 zwischen 65 % (Rhône-Alpes) und 69 % (Katalonien) der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren alt. Deutlicher unterscheiden sich die vier Regionen beim Bevölkerungsanteil der nachwachsenden Generation der unter 15-Jährigen. Er reicht von 14 % (Lombardei) bis 19 % (Rhône-Alpes). In Baden Württemberg sind 15 % unter 15 Jahren.

Wer dem durch die demografische Entwicklung mitbedingten Fachkräftemangel erfolgreich entgegentreten will, muss …

  • … bessere Chancen sowohl für Frauen als auch für Männer auf dem Arbeitsmarkt, besonders mit Blick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, schaffen. In Baden-Württemberg war 2005 die Erwerbsbeteiligung der Frauen mit 49 % höher als in den anderen drei Regionen: Katalonien 46 %, Lombardei 42 % und Rhône-Alpes 48 %. Allerdings fehlen Daten über die Erwerbsbeteiligung nach Anzahl und Alter der Kinder sowie über den zeitlichen Umfang. Die Teilzeitquote bei Frauen ist in Baden-Württemberg im Vergleich zu Deutschland überdurchschnittlich hoch. Überdies ist der prozentuale Anteil der Teilzeitarbeitnehmerinnen insgesamt in Deutschland höher als in Frankreich, Italien und Spanien.
  • … die Erwerbsbeteiligung der Personen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren steigern. Sie ist in Deutschland und in Baden-Württemberg in den letzten Jahren erheblich gestiegen. In Deutschland waren 2007 rund 50 % der Menschen zwischen 55 und 64 Jahren erwerbstätig. Sowohl in Spanien (44 %), Italien (33 %) und Frankreich (37 %) sind ältere Personen deutlich seltener erwerbstätig als in Deutschland.

»Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die teurer ist als Bildung: Keine Bildung!« John F. Kennedy

Durch die demografischen Veränderungen könnte Geld im Schulwesen eingespart werden, oder es könnte die gleiche Summe für weniger Kinder ausgegeben werden. Durch diese relative Mehrinvestition in Bildung könnten mehr qualifizierte Fachkräfte ausgebildet werden. Laut einer Studie der Robert Bosch Stiftung wären dies in den nächsten 14 Jahren mehr als 80 Mrd. Euro.4

Im europäischen Vergleich investiert Deutschland einen verhältnismäßig kleinen Anteil des Bruttoinlandsprodukts für Bildung. 2004 waren es 4,6 %, und damit ist der prozentuale Anteil im Vergleich zum Vorjahr sogar gesunken.

Deutschland, Italien und Spanien liegen unterhalb der durchschnittlichen Ausgaben innerhalb der EU5 Da in Deutschland Bildung Ländersache ist, ist es sinnvoll die Ausgaben differenziert zu betrachten. Nach einer Studie der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« und des IW belegt Baden-Württemberg in einem Ländervergleich der Bildungssysteme Platz 2 nach Sachsen und vor Bayern6.

Um innovativ und wettbewerbsfähig zu bleiben, kann das Lernen nicht mit einer abgeschlossenen Ausbildung aufhören. Mit einer zunehmend älteren Belegschaft ist es notwendig, die nötigen Rahmenbedingungen für Weiterbildung zu schaffen, um Veränderungen angemessen bewältigen zu können. Auch hier liegen Deutschland und Italien unterhalb der durchschnittlichen prozentualen Ausgaben für Weiterbildung

innerhalb der EU. Spanien hat seit 2004/05 deutlich in die Fortbildung der Beschäftigten investiert und liegt seither mit 10,4 % knapp einen Prozentpunkt über dem durchschnittlichen Prozentsatz der EU von 9,6 %.

Bevölkerungsstrukturen und deren Veränderungen sind das Ergebnis der Veränderungen auf familiärer Ebene. Politische und ökonomische Bedingungen beeinflussen die Entscheidungen junger Paare für oder gegen Kinder. Die Zukunftschancen der Regionen, der Wettbewerb der Betriebe um qualifizierte Mitarbeiter dürften künftig stärker denn je von der Attraktivität der Lebensbedingungen der Familien abhängen im Hinblick auf die Balance von privater Fürsorge und Beruf, Wohnen, Bildung und Ausbildung sowie Freizeitgestaltung.

1 Die meisten hier verwendeten Statistiken stützen sich auf das Europäische Amt für Statistik (Eurostat). Außerdem werden Angaben der nationalen und regionalen Statistischen Ämter herangezogen. Wo keine vergleichbaren regionalen Daten vorliegen, werden die nationalen Statistiken berücksichtigt. Die Autoren danken besonders Hans Ulrich Wezel, Referat »Wirtschaftswissenschaftliche Analysen, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung«, für seine Hilfe bei der Recherche der Statistiken.

2 Pla, Anne: Bilan démographique 2007. Des naissances toujours très nombreuses, in: Insee Premiére, N° 1170/2008.

3 Koppel, Oliver: Nicht besetzbare Stellen für beruflich Hochqualifizierte in Deutschland – Ausmaß und Wertschöpfungsverluste, in: IW-Trends, 1/2008.

4 Robert Bosch Stiftung (Hrsg.): Demographie als Chance. Demographische Entwicklung und Bildungssystem – finanzielle Spielräume und Reformbedarf, Stuttgart 2006.

5 Problematisch bei der Betrachtung der Bildungsausgaben prozentual am Bruttoinlandsprodukt ist, dass die Bevölkerungszahl unberücksichtigt bleibt. Bei einem kleinen Anteil der Bildung am Bruttoinlandsprodukt können die Ausgaben für Bildung pro Kopf gemessen in Geldeinheiten trotzdem hoch sein.

6 Plünnecke, Axel/Stettes, Oliver: Der Bildungsmonitor 2006, Köln 2006