:: 3/2010

Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens: EU-Beitritt als Ziel

Noch gibt es einen großen weißen Fleck auf der Landkarte der Europäischen Union: Die Länder des früheren Jugoslawien. Mit Ausnahme Sloweniens, das bereits seit 2004 EU-Mitglied ist, klopfen jetzt Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, der Kosovo und Serbien in Brüssel an die Tür und möchten Einlass in die Staatengemeinschaft. Auch sie haben sich für die Europäische Union entschieden. Bundespräsident Horst Köhler sprach sich bereits im Jahr 2008 bei einem Besuch in Kroatien für einen EU-Beitritt aller Staaten des ehemaligen Jugoslawien aus: »Nur dann wird die Teilung Europas endgültig überwunden«.

Jugoslawien: Entstehung eines nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Staates

Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich die politische Landkarte in Ost- und Mitteleuropa grundlegend. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges – insbesondere Frankreich und England – ließen neue Staaten entstehen bzw. veränderten die Grenzen bestehender Staaten entscheidend.

Zu den neu entstandenen Staaten gehörte auch das »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen«, das sich seit 1929 Jugoslawien nannte. Hier wurden das Königreich Serbien, das bis 1918 zur Habsburgischen Monarchie gehörende Kroatien, Slowenien und Bosnien und Herzegowina zu einem Staat mit etwa 10 Mill. Menschen zusammengefügt. 1941 wurde das Land von der deutschen Wehrmacht überfallen und besetzt. Titos Partisanen konnten 1945 mithilfe der Alliierten das Land befreien. Die »Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien« wurde ausgerufen.

Zerfall und postjugoslawische Kriege

Jugoslawien war von Beginn an von starken ethnischen Spannungen geprägt. Die zentralistisch bestimmten Vorstellungen der serbischen Parteien stießen immer wieder mit den föderalistisch geprägten Vorstellungen der Kroaten zusammen. Durch eine konsequente Unterdrückungspolitik nationaler Bestrebungen wurde die Einheit Jugoslawiens gewahrt. Der Tod Titos 1980 leitete den Sezessionsprozess ein. Dieser wurde durch das Ende der sozialistischen Ära in Europa entscheidend beschleunigt. Am 25. Juni 1991 erklärten Kroatien und Slowenien einseitig ihre Unabhängigkeit.

Daraufhin versuchte die jugoslawische Volksarmee die Unabhängigkeitsbestrebungen beider Länder militärisch niederzuwerfen. Dies war der Beginn der sogenannten Jugoslawienkriege. Insbesondere in den Republiken mit ethnisch unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (Bosnien und Herzegowina, Kroatien) wurden die Kämpfe hart und lang andauernd geführt. So forderte der Balkankonflikt ca. 250 000 Todesopfer. Es kam zu Massenfluchten und Vertreibungen, Vernichtungen und Zerstörungen. Die Ermordung von etwa 8 000 Muslimen (Bosniaken) der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995 steht stellvertretend für die vielen Völkermorddelikte und Kriegsverbrechen in den postjugoslawischen Kriegen. Das Massaker gilt als das schlimmste in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Bedingungen für einen EU-Beitritt

Nach Artikel 49 des Vertrages über die Europäische Union kann jeder europäische Staat beantragen, Mitglied der EU zu werden. Der Europäische Rat hat im Juni 1993 in den »Kopenhagener Kriterien« die Anforderungen an die Beitrittskandidaten konkretisiert. Folgendes wird von den Kandidaten gefordert:

Politisches Kriterium: »Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz der Minderheiten«.

Wirtschaftliches Kriterium: »Eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten«.

Acquis-Kriterium: Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen zu machen.

Während die Einhaltung der politischen Kriterien eine notwendige Bedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist, waren die beiden anderen Kriterien bislang aus einer zukunftsorientierten, dynamischen Sicht heraus zu beurteilen. Doch heute werden alle Bedingungen im Beitrittsprozess früher gestellt. Die höheren Anforderungen spüren bereits die nächsten Beitrittskandidaten.

Bereits seit 2004 ist Slowenien Mitglied in der EU. Momentan gibt es zwei Kandidatenländer aus dem ehemaligen Jugoslawien: Kroatien und Mazedonien. Die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien wurden im Oktober 2005 aufgenommen. Der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien wurde im Dezember 2005 der Kandidatenstatus verliehen, die Beitrittsverhandlungen haben jedoch noch nicht begonnen. Den übrigen Ländern Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien und der Kosovo wurden Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt. Sie gelten als potenzielle Kandidatenländer. Gemeinsam ist allen Nachfolgestaaten, dass sie sich zu einer demokratischen Gesellschaft und funktionierenden Marktwirtschaft entwickeln müssen.

Serbien größtes und bevölkerungsreichstes Land

Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, das in etwa so groß war wie Deutschland vor der Wiedervereinigung, haben sich seit 1991 7 Staaten formiert. Größtes Land ist dabei Serbien, gefolgt von Kroatien und Bosnien und Herzegowina. Mit insgesamt rund 22 Mill. Einwohnern verzeichnen die 7 Staaten gerade einmal doppelt so viele Menschen wie Baden-Württemberg. Serbien (7,4 Mill.), Kroatien (4,4 Mill.) und Bosnien und Herzegowina (3,8 Mill.) sind dabei die 3 bevölkerungsreichsten Länder. Dagegen ist Montenegro das bevölkerungsärmste Land. Hier leben ca. 600 000 Menschen und damit ungefähr so viele wie in der Landeshauptstadt Stuttgart.

Die Geburtenrate, das heißt die Zahl der Kinder, die eine Frau in ihrem Leben im Durchschnitt zur Welt bringt, hat sich in den untersuchten Ländern (für das Kosovo liegen keine entsprechende Zahlen vor) auf niedrigem Niveau eingependelt. Mit 1,6 Kindern je Frau weist Montenegro zwar die höchste Geburtenrate auf, aber die bestandserhaltende Rate von über 2 Kinder je Frau wurde trotzdem deutlich unterschritten. Mit Werten zwischen 1,2 und 1,4 haben die übrigen 5 Länder eine ähnliche Geburtenziffer wie Baden-Württemberg (1,37).

Die günstigste Altersstruktur ist im Kosovo festzustellen. Hier sind nur 6 % der Menschen älter als 65 Jahre, aber ein Drittel unter 15 Jahre alt. Damit stehen einem älteren Menschen über 5 junge Personen gegenüber. Diese vorteilhafte Altersstruktur weist kein anderes Land auf. Dafür trifft in Südosteuropa die Überalterung der Gesellschaft Slowenien und Kroatien am stärksten. Hier ist, genauso wie in Baden-Württemberg, der Anteil der über 65-Jährigen höher als der der unter 15-Jährigen.

Bei der Lebenserwartung gibt es auf dem Balkan deutliche Unterschiede. Die höchste Lebenserwartung haben bei beiden Geschlechtern die Slowenen, gefolgt von den Kroaten bei den Mädchen und den Menschen aus Bosnien und Herzegowina bei den Jungen. Dagegen haben die neugeborenen Jungen und Mädchen im Kosovo mit 67 bzw. 71 Jahren die niedrigste Lebenserwartung. Dies entspricht einer für Jungen um rund 11 und für Mädchen um ca. 12 Jahre geringeren Lebenserwartung als in Baden-Württemberg.

Besorgniserregende Arbeitslosigkeit in der Mehrzahl der Länder

Dramatisch ist in einigen der aufgeführten Länder die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Im Kosovo ist annähernd jede 2. Erwerbsperson und in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien jede 3. Person ohne Arbeit. Noch schlimmer ist die Situation in diesen beiden Ländern für junge Erwachsene. Im Kosovo sind über zwei Drittel der jungen Menschen im Alter von 15 bis unter 25 Jahren ohne Job. Aber auch in Mazedonien hat die Jugenderwerbslosigkeit ein besorgniserregendes Niveau erreicht. Hier kämpfen nämlich fast 60 % der Jugendlichen gegen die Arbeitslosigkeit. Sehr viel entspannter ist dagegen die Arbeitsmarktsituation in Slowenien. Mit einer Erwerbslosenquote im Jahr 2008 von 4,4 % besitzt der Nachbarstaat von Italien und Österreich eine ähnliche Quote wie Baden-Württemberg (4,2 %) und damit einen der niedrigsten Werte innerhalb der Europäischen Union. Neben Slowenien konnte Kroatien als einziges Land eine einstellige Arbeitslosenquote (8,4 %) verzeichnen.

Wohlhabenderes Slowenien

Die Wirtschaftsleistung der 7 untersuchten Balkanländer zusammen beträgt rund 145 Mrd. Euro und ist damit nicht einmal halb so groß wie jene Baden-Württembergs. In ihrer Größe ist die Wirtschaft der 7 Länder in etwa vergleichbar mit derjenigen Rumäniens, Portugals oder der Tschechischen Republik. Kroatien als wirtschaftstärkstes Land erreicht dabei 13 %, Slowenien und Serbien jeweils rund 10 % der baden-württembergischen Wirtschaftsleistung. Die wirtschaftlichen Leistungen von Montenegro und dem Kosovo sind dagegen rund 100-mal kleiner als die Baden-Württembergs.

Slowenien ist das wohlhabendste Land unter den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner erreichte 2008 mit knapp 23 000 Kaufkraftstandards – das ist eine künstliche Währung, die internationale Preisniveauunterschiede eliminiert – bereits 70 % des Wertes Baden-Württembergs und ist damit deutlich höher als zum Beispiel in Ungarn oder Portugal. Dagegen würde die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien mit einem Pro-Kopf-Wert von gut 8 000 Kaufkraftstandards am Ende eines EU-Rankings stehen. Auch die Wirtschaftsstruktur Sloweniens ist unter den Nachfolgestaaten Jugoslawiens am ehesten mit den entwickelten Industriestaaten Westeuropas vergleichbar. Die größte Wirtschaftsleistung wird dabei durch den Dienstleistungssektor mit über 60 % erbracht. Dagegen spielt die Landwirtschaft in dem nördlichsten Balkanland mit gerade einmal gut 2 % nur noch eine untergeordnete Rolle. Aber die meisten anderen untersuchten Länder sind noch heute stark landwirtschaftlich geprägt. Der Anteil des Primären Sektors an der gesamtwirtschaftlichen Leistung betrug nämlich 2008 zwischen gut 6 % in Kroatien und über 16 % in Bosnien und Herzegowina.

Aufgrund ihres hohen Aufholbedarfs expandierten die Volkswirtschaften der Nachfolgestaaten Jugoslawiens in den letzten Jahren sehr dynamisch. Aber die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat auch vor den Ländern auf dem Balkan nicht Halt gemacht. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) sind die Volkswirtschaften der 7 Balkanländer im Jahr 2009 zwischen 3 % in Bosnien und Herzegowina und über 5 % in Kroatien geschrumpft. Sie werden aber laut IWF 2010 größtenteils wieder auf einen, wenn auch nur moderaten, Wachstumspfad zurückkehren.

Lob und Kritik für EU-Kandidaten

Im Oktober 2009 hat die Europäische Kommission die Fortschrittsberichte für die Staaten vorgestellt, die der Europäischen Union beitreten wollen. Dabei gab es sowohl Lob als auch Kritik für die Länder des ehemaligen Jugoslawien. Kroatien schnitt dabei mit Abstand am besten ab. Aus Sicht der Europäischen Kommission ist Kroatien das einzige Land auf dem Balkan mit guten Aussichten auf eine baldige Mitgliedschaft. 2012 könnte ein denkbarer Beitrittstermin sein. Doch selbst das potenzielle 28. EU-Mitgliedsland wurde von der Europäischen Kommission ermahnt: Die Beitrittsverhandlungen können erst abgeschlossen werden, wenn die Reformanstrengungen fortgesetzt und intensiviert werden. In Kroatien betrifft das vor allem den Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität und die Bereitschaft einer umfassenden Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für das ehemalige Jugoslawien. Positiv wurde auch die Entwicklung in Mazedonien beurteilt. Die Kommission empfiehlt, die Beitrittsverhandlungen offiziell zu eröffnen. Bis jetzt wurde der EU-Beitrittsprozess Mazedoniens von der griechischen Regierung blockiert. Sie will die Benutzung des Namens Mazedonien nicht zulassen.

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass fast alle Länder auf dem westlichen Balkan Erfolge in Richtung EU verzeichnen, nur in Bosnien und Herzegowina bleiben Fortschritte bisher weitgehend aus. Der Streit zwischen den Volksgruppen auf allen politischen Ebenen behindert eine Entwicklung des Landes.

Beitrittskandidaten müssen mit höheren Hürden rechnen

Mit genauen Datumsvorgaben für die Aufnahme in die Staatengemeinschaft ist man in Brüssel sehr vorsichtig geworden. Dabei gilt für alle Staaten des westlichen Balkans weiterhin die alte Beitrittszusage der EU. Die unruhigste Region des Kontinents müsse endgültig befriedet werden, denn das Konfliktpotenzial sei immer noch groß, warnte der finnische EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn im vergangenen Jahr. »Die Fortschritte auf dem westlichen Balkan sind nicht unumkehrbar. Es gibt weiterhin politische Minenfelder, sowohl durch bilaterale Konflikte oder politischen Stillstand. Deshalb muss die EU ihren Einsatz als politischer Minenräumer in diesen Ländern fortsetzen, damit die Region nicht wieder abrutscht.«1

1 Deutschlandradio, 8. Januar 2010.