:: 3/2012

Familien mit Kleinkindern

Eine Familienform in einer Zeitenwende

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Eltern mit Kindern unter 3 Jahren ist in Deutschland nach wie vor deutlich von einer traditionellen Arbeitsteilung geprägt, nach der primär die Mutter für Haushalt und Erziehung und der Vater für die Erwerbstätigkeit zuständig ist. Die Wissenschaft diskutierte über Jahrzehnte vornehmlich das Für und Wider der Erwerbstätigkeit beider Eltern mit Blick auf die Entwicklung des jungen Kindes und zögerte mit ihren Empfehlungen für eine andere Form der Arbeitsteilung. Die Politik beschränkte sich wesentlich auf Geldleistungen, die die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie eher verfestigten. Und lange Zeit entsprach diese Aufgabenteilung auch den Vorstellungen vieler junger Eltern. Erst in den letzten Jahren ist ein – auch wissenschaftlich breit begründeter und politisch parteienübergreifend gewollter – Wandel hin zu einer mehr partnerschaftlichen Teilhabe an Beruf und Familie zu beobachten. Bei Familien mit Kleinkindern hat dieses Ziel allerdings noch einen weiten Weg vor sich, wie ausgewählte Sozialstrukturen in Baden-Württemberg zeigen.

Eine (zu) lange Geschichte

Langfristig zurückblickend erweist sich der Fortschritt in kaum einem anderen Gesellschaftsbereich als so langsam wie der bei der Gleichstellung von Frau und Mann bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und in keiner Lebens- und Familienphase zeigt sich das Beharrungsvermögen veränderungsresistenter Sichtweisen in Wissenschaft, Politik und selbst in den Familien so deutlich wie bei Familien mit Kleinkindern, also mit Kindern unter 3 Jahren.

In der jungen Bundesrepublik Deutschland der 50er- und 60er-Jahre standen in der öffentlichen Diskussion die Berufstätigkeit der Mutter und mögliche Sozialisationswirkungen auf das Kind im Vordergrund und erst in zweiter Reihe, als intervenierende Variable, die partnerschaftlichen Rollenauffassungen der Eltern. Die Gerontologin und frühere Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ursula Lehr fasste in einem Gutachten im Juli 1970 diese »heftige und zum Teil leidenschaftliche Diskussion« unter anderem so zusammen: Die »negativen Folgen, die man der Erwerbstätigkeit der Mütter in der BRD noch zuschreibt«, beruhen »auf Vorurteilen oder Unkenntnis ausländischer Forschungsergebnisse«. »Bei positiver Einstellung des Ehemannes zur Berufstätigkeit seiner Frau, die meist mit seinem stärkeren Engagement an Haushalts- und Familienproblemen und einer stärker partnerschaftlichen Rollenauffassung einhergeht, konnten negative Auswirkungen auf die Kinder nicht festgestellt werden; im Unterschied zu Kindern jener berufstätigen Mütter, die gegen den Willen ihres Mannes arbeiten und deren Interaktionsform mit dem Ehepartner in stärkerem Maße vom traditionell-patriarchalischen Modell bestimmt ist«.1

Doch trotz dieser differenzierten Bestandsaufnahme änderte sich in den folgenden Jahrzehnten wenig. In den 70er-Jahren ist die traditionale Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in vielen Familien stabil, auch deshalb »weil ihr bei einer nicht geringen Gruppe von Frauen ein verinnerlichtes Bild der im Haushalt der Familie aufgehenden 'Frau und Mutter' entspricht«.2 Allerdings bemerkte 1980 der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen, angesiedelt beim Bundesfamilienministerium, einen Wandel: Die jüngeren Frauen übten häufiger nach der Heirat ihren Beruf weiterhin aus, und immer mehr Mütter waren auch aus anderen als ökonomischen Motiven erwerbstätig.

Berufstätige Mütter blieben jedoch weiterhin hauptverantwortlich für Haushalt und Kinder. Zur Doppelbelastung der Mütter stellte der Beirat fest: »Die Arbeitszeiten berufstätiger Eltern sind oft mit dem kindlichen Zeitrhythmus, aber auch mit den starren Öffnungszeiten von betreuenden Einrichtungen nur schwer in Übereinstimmung zu bringen«.3 Für Eltern mit Kindern unter 3 Jahren galt zudem, dass Kinderkrippen sehr selten waren, sich auf Großstädte konzentrierten und einen schlechten Ruf in der westdeutschen Öffentlichkeit hatten. Der Wissenschaftliche Beirat erkannte zwar den Wunsch beider Eltern an, einen Beruf auszuüben, und forderte auch den Ausbau der außerhäuslichen Kinderbetreuung. Aber er diskutierte die Erwerbstätigkeit der Mutter, weniger des Vaters, weiterhin primär vor dem Hintergrund der Sozialisationserfordernisse von Kindern während der ersten Lebensjahre.

Eine Entlastung der Eltern sollte durch Erziehungsgeld und Erziehungszeit sowie durch Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen erreicht werden. Erst an dritter Stelle empfahl der Beirat den Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung. Die Politik in Westdeutschland griff die Empfehlungen weitgehend auf, mit einer Ausnahme: Eine nennenswerte Förderung der außerfamilialen Kleinkindbetreuung stand nicht auf der politischen Agenda.

Der Soziologe Ulrich Beck skizzierte in seiner Analyse Mitte der 80er-Jahre eine »halbierte Moderne«, in der sich die Gleichstellung von Frauen und Männern in weiten Teilen der Gesellschaft durchgesetzt, aber vor der Familie Halt gemacht habe.4 Die Entscheidung für Kinder und Mutterschaft bedeute für die überwiegende Mehrheit der Frauen in Westdeutschland gleichzeitig den Verzicht auf Erwerbsarbeit, Karriere und ökonomische Eigenständigkeit und das Angewiesensein auf die ökonomische Sicherung durch den Mann, die aufgrund zunehmender Scheidungsbereitschaft und der Krise des Arbeitsmarktes keine mehr sei. Der Politik mit ihrer Konzentration auf Geld- statt Dienstleistungen unterstellte Beck eine gewollte Förderung der traditionellen Rollen- und Familienstrukturen.

Mehr als 20 Jahre nach dieser Analyse und 4 Jahrzehnte nach dem Gutachten von Ursula Lehr beobachtet das Gutachten zum Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2010 bei der Mehrheit der jungen Familien beim Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft eine »Retraditionalisierung der Geschlechterarrangements«.5 Berufstätige Frauen reduzieren ihre Erwerbstätigkeit zum Teil erheblich, Väter ziehen sich aus den häuslichen Aufgaben noch weiter zurück als vorher und investieren vermehrt in ihre berufliche Entwicklung. »Damit werden arbeitsteilige Zeitverwendungsmuster zwischen Erwerbsarbeit bei beiden Geschlechtern eingeübt, die sich oftmals im weiteren Lebensverlauf verstetigen und zu Nachteilen für die berufliche Entwicklung von Müttern und ihre Alterssicherung führen«.

Junge Eltern, die beide erwerbstätig sind trotz zahlreicher noch unzureichend beseitigter Barrieren, sind enormen zeitlichen Belastungen ausgesetzt. Sowohl die Retraditionalisierung als auch die Belastungen infolge der Erwerbsarbeit beider Eltern mit Kleinkindern haben den Effekt, dass »fast die Hälfte der Paarbeziehungen (…) 5 Jahre nach Geburt eines Kindes auf dem Tiefpunkt ihrer Partnerschaftsqualität angelangt« sei. Gleichzeitig ist jedoch zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert in Deutschland ein erkennbarer Durchbruch bei der Gleichstellung junger Eltern während der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu beobachten. Er geht einher mit dem neuen Konzept einer sogenannten nachhaltigen Familienpolitik.

Aspekte einer nachhaltigen Familienpolitik

Als einen Startschuss für eine andere Familienpolitik kann das wissenschaftliche Gutachten des 7. Familienberichtes von 2005 angesehen werden.6 Es plädiert für eine Balance von privater Fürsorge und Erwerbstätigkeit im Lebenslauf, die Müttern und Vätern ermöglicht, gleichermaßen in beiden Bereichen tätig zu sein. Wer berufstätig ist, soll nicht auf die für ihn existenziell wichtigen Primärbeziehungen verzichten müssen. Wer sich verstärkt der Fürsorge von Kindern zuwendet, soll nicht seine berufliche Integration und Perspektive gefährden.

Als ein familienpolitisches Instrument wurde 2007 das Elterngeld eingeführt. Es wird grundsätzlich nur für 1 Jahr nach Geburt des Kindes gewährt und nur um 2 Monate verlängert, wenn der andere Partner die Erziehung des Kindes in dieser Zeit überwiegend übernimmt. Damit zielt das Elterngeld auf drei Aspekte ab:

  • Förderung der partnerschaftliche Wahrnehmung der Betreuung des Kindes,
  • Stärkung der Erwerbsbeteiligung beider Eltern und
  • Sicherung des finanziellen Lebensunterhalts der jungen Familie.

Gleichzeitig fördert die Politik finanziell und rechtlich den Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder unter 3 Jahren. Ab 1. August 2013 besteht für Kinder ab Vollendung des 1. Lebensjahres ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Um diesen Anspruch auch zu erfüllen, hat sich in Baden-Württemberg Ende 2011 die Landesregierung mit den Kommunen auf einen »Pakt für Familien« geeinigt. Das Land erhöht die Zuweisungen für die Betriebsausgaben der Kleinkindbetreuung 2012 von 129 Mill. Euro um 315 Mill. Euro auf 444 Mill. Euro und 2013 von 152 Mill. Euro um 325 Mill. Euro auf 477 Mill. Euro.

Die angestrebten Veränderungen stehen jedoch noch in einem deutlichen Gegensatz zur sozialstrukturellen Wirklichkeit der Familien mit Kleinkindern in Baden-Württemberg, die im Folgenden an ausgewählten Indikatoren beschrieben wird.

Rückgang der Familien mit Kleinkindern

In Baden-Württemberg leben heute rund 217 000 Paare und 24 500 Alleinerziehende mit mindestens einem Kind unter 3 Jahren. Die Gesamtzahl der Kleinkinder dürfte in den kommenden 20 Jahren von rund 274 500 zum Jahresende 2010 auf 247 300 im Jahre 2030, also um etwa 27 000 Kinder, abnehmen. Das entspräche einem Rückgang um 10 % (Tabelle 1 und 2). Gleichzeitig dürfte auch die Zahl der Familien mit Kleinkindern kontinuierlich zurückgehen.

Traditionelle Erwerbsbeteiligung

Acht von zehn Vätern mit Kindern unter 3 Jahren sind erwerbstätig, und dies unabhängig davon, ob die Kinder im 1., 2. oder 3. Lebensjahr sind. Die erwerbstätigen Väter sind in neun von zehn Fällen Vollzeit erwerbstätig. Im Gegensatz dazu steht die Erwerbsbeteiligung der Mütter. Sie sind nicht nur deutlich seltener erwerbstätig, sondern sie üben, wenn sie einem Beruf nachgehen, diesen in der Regel weniger als 24 Stunden in der Woche aus. Zum Beispiel sind 14 % der Mütter mit Kindern im 2. Lebensjahr maximal 14 Stunden erwerbstätig, weitere 11 % zwischen 15 und 24 Stunden, 8 % sind Vollzeit erwerbstätig mit 35 und mehr Wochenstunden. Insgesamt gehen 36 % der Mütter mit Kindern in diesem Alter einer Erwerbstätigkeit nach (Tabelle 3). Deutlich seltener ist die Erwerbsbeteiligung der Mütter mit Kindern im 1. Lebensjahr (11 %), etwas häufiger schon bei Müttern mit Kindern im 3. Lebensjahr (45 %).

In den letzten Jahrzehnten ist die Erwerbsorientierung von Müttern gestiegen, gleichzeitig »hat sich die Dauer der Erwerbsunterbrechung nach der Geburt eines Kindes verlängert. Grund hierfür sind auch familienpolitische Veränderungen, vor allem die schrittweise Verlängerung der gesetzlich garantierten Erziehungszeit«.7 Zudem sind vor allem erwerbstätige Mütter mit Kleinkindern seltener Vollzeit erwerbstätig.8

Die Erwerbsbeteiligung der Mütter mit Kleinkindern ist im Südwesten heute geringer als vor 5 Jahren (Schaubild 1). Diese Entwicklung ist fast ausschließlich durch den Rückgang der Erwerbsbeteiligung der Mütter mit Kindern im 1. Lebensjahr verursacht, und sie dürfte auf die Einführung des Elterngeldes zurückzuführen sein.

Einkommenssituation im 1. Lebensjahr des Kindes günstiger

Die Mehrheit der zusammenlebenden Eltern mit Kindern unter 3 Jahren dürfte in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen leben. Die Hälfte der Paare mit Kindern verfügt über mindestens 2 700 bzw. 2 800 Euro netto im Monat (Median). Nur eine Minderheit von 10 bis 12 % hat weniger als 1 700 Euro zur Verfügung (Tabelle 4). Ganz anders ist die finanzielle Situation der alleinerziehenden Eltern mit Kleinkindern. Mindestens zwei Drittel der Alleinerziehenden leben mit ihren Kindern in wirtschaftlich eher prekären Verhältnissen.

Drei politische finanzielle Maßnahmen sind zu nennen, mit denen Armut bei Familien mit Kleinkindern bekämpft werden soll: Der Kinderzuschlag, die Grundsicherung durch das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) und in Baden-Württemberg das Landeserziehungsgeld.

Familien erhalten den Kinderzuschlag, wenn sie über mindestens 900 Euro (Elternpaare) bzw. 600 Euro (Alleinerziehende) verfügen.9 Die Grenze für das Höchsteinkommen setzt sich zusammen aus dem elterlichen Bedarf im Sinne der Regelungen zum Arbeitslosengeld II und dem prozentualen Anteil an den gemessenen Wohnkosten sowie dem Gesamtkinderzuschlag. Der Kinderzuschlag pro Kind beträgt maximal 140 Euro monatlich. Auf diese Weise kann bei einem Paar mit zwei Kindern eine Höchsteinkommensgrenze zwischen 1 400 Euro und 1 500 Euro liegen. Durch den Kinderzuschlag in Verbindung mit einem Wohngeld soll die Hilfebedürftigkeit der Familie im Sinne der Vorschriften über das Arbeitslosengeld II vermieden werden.

Die Familie erhält keinen Kinderzuschlag und bezieht stattdessen Arbeitslosengeld II, wenn bei einer Zahlung eines Kinderzuschlages und Wohngeldes das Gesamteinkommen der Familie unter dem Bedarf der Familie im Sinne der Regelungen zum Arbeitslosengeld II liegt.

Das Landeserziehungsgeld in Baden-Württemberg beträgt zur Zeit 205 Euro monatlich bzw. 240 Euro ab dem 3. Kind und wird im 2. Lebensjahr des Kindes für die Dauer von 10 Monaten bis zum 24. Lebensmonat gewährt. Voraussetzung für den Bezug ist das Unterschreiten einer Einkommensgrenze von 1 480 Euro für Paare und 1 225 Euro für Alleinerziehende. Eine Teilzeittätigkeit bis zu 21 Stunden pro Woche und die Inanspruchnahme öffentlicher Kinderbetreuung ist möglich. Die Landesregierung plant, das Landeserziehungsgeld zu ändern. Danach soll es vor dem 13. Lebensmonat des Kindes gewährt werden, und zwar für Familien, die Arbeitslosengeld II oder Kinderzuschlag erhalten. Der Förderbetrag pro Kind soll künftig einheitlich bei monatlich 190 Euro liegen und für 12 Monate ausgezahlt werden.10

Etwa für jedes 10. Kind unter 3 Jahren im Südwesten wird Arbeitslosengeld II oder ein Kinderzuschlag gezahlt (Tabelle 5). Im Jahr 2010 wurden rund 18 700 Anträge auf Landeserziehungsgeld bewilligt. Rund 19 % der Paarfamilien und 42 % der Alleinerziehenden mit Kindern im 2. Lebensjahr erhielten Landeserziehungsgeld.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Einkommenssituation der Familien mit Kindern im 1. Lebensjahr vergleichsweise günstig ist. Das mittlere Familiennettoeinkommen (Median) ist höher als das von Familien mit Kindern im 2. Lebensjahr. Außerdem erhalten sie seltener Kinderzuschlag oder Arbeitslosengeld II als Familien mit Kindern im 2. und 3. Lebensjahr. Offensichtlich trägt das Elterngeld zur wirtschaftlichen Stabilität der Familien im 1. Lebensjahr des Kindes bei.

Zeitenwende in der Kinderbetreuung

Die Zeitenwende für Familien mit Kleinkindern ist am deutlichsten zu beobachten an der Kleinkindbetreuung in Baden-Württemberg. Anfang 2011 wurden 57 500 Kinder unter 3 Jahren in Tageseinrichtungen und öffentlich geförderter Kindertagespflege betreut (Schaubild 2). Die Betreuungsquote betrug 21 %. Damit besuchte mindestens jedes fünfte Kind unter 3 Jahren eine Tageseinrichtung bzw. -pflege. Mittlerweile dürften deutlich mehr als 60 000 Kinder eine Kindertageseinrichtung bzw. -pflege aufsuchen und die Betreuungsquoten wesentlich höher liegen. Denn einerseits ist die Nachfrage seitens der Eltern weiterhin sehr groß, andererseits bauen die Kommunen die Kleinkindbetreuung mit Unterstützung des Landes aus.11 So will Heidelberg, das derzeit mit einer Betreuungsquote von 40 % Spitzenreiter im Land ist, bis 2013 jedem zweiten Kind unter 3 Jahren einen Platz anbieten. Auch wenn Baden-Württemberg im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland noch einen erheblichen Nachholbedarf hat,12 so zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, welchen enormen Wandel der Südwesten bereits vollzogen hat.

Der erste Familienbericht der FamilienForschung Baden-Württemberg (FaFo) von 1998 notierte für 1994 erst 4 318 verfügbare Krippenplätze.13 Das entsprach einer Betreuungsquote von durchschnittlich 1,2 %. Die Betreuungsquote der Stadt- und Landkreise bewegte sich zwischen 0 und 7,6 %. In zwölf Kreisen des Landes standen keine Krippenplätze zur Verfügung, die Landeshauptstadt Stuttgart und die Universitätsstadt Heidelberg markierten mit 7,6 % bzw. 7,5 % die Spitze. Gleichzeitig merkte der Bericht an: »Die wenigen verfügbaren Plätze für Kinder im Krippenalter werden nach wie vor vorrangig nach sozialen und familiären Notfallkriterien vergeben, dabei sind bereits heute drei von zehn Frauen mit Kindern unter 3 Jahren erwerbstätig und damit zumindest potenziell auf außerfamiliale Betreuungsangebote angewiesen. (…) Der Umstand, dass von den wenigen Krippenplätzen im Land wiederum nur ein geringer Teil Ganztagsplätze mit Mittagessen ist, muss (…) bedenklich stimmen«.

Das Land bezuschusst die institutionelle Betreuung für Kleinkinder erstmals ab 2003.Der zweite Familienbericht der FaFo von 2004 notierte 7 231 verfügbare Plätze für Krippenkinder im Südwesten 2002. Die Betreuungsquote lag unter 2,5 %.14

4 Jahre später berichtete der Familienreport der FaFo, dass 2007 in Baden-Württemberg 33 027 unter 3-Jährige eine Tageseinrichtung oder Tagespflege besuchten. Die Betreuungsquote betrug seinerzeit 11,6 %.15

Die Paradoxie der Familienpolitik

Eine demokratische Gesellschaft baut auf die Erziehungs- und Sozialisationsleistungen der Familie. Familie gehört zu den vielfältigen Voraussetzungen, auf die andere Bereiche der Gesellschaft, wie etwa Politik, Wirtschaft, Bildungs- und Gesundheitssystem, angewiesen sind, ohne sie selbst garantieren zu können und wenn doch, dann nur unter erheblichen Aufwendungen an Zeit und Kosten. Den Familien stehen jedoch Strukturprobleme gegenüber, die die einzelne Familie allein nicht lösen kann. Die Strukturprobleme sind gesellschaftlich bedingt und müssen daher politisch thematisiert und bearbeitet werden. Familienpolitisch besteht nun weitgehend Konsens, dass eine moderne Gesellschaft Balancen zwischen privater Fürsorge und Erwerbsarbeit in der täglichen Zeit und im Lebensverlauf verlangt, welche der Individualisierung mit ihrer verstärkten Orientierung an persönlichen Interessen und der Gleichstellung von Frauen und Männern Rechnung tragen.<aF/> Die Förderung der Kleinkindbetreuung außerhalb der Familie ist eine familienpolitische Maßnahme, mit der junge Eltern im Alltag Zeitknappheiten und -konflikte entschärfen und im Lebensverlauf das Risiko von Arbeitslosigkeit und (Alters-)Armut mindern können.

Nach Auffassung der Expertenkommission zum achten Familienbericht gestaltet eine nachhaltige Familienpolitik die gesellschaftlichen Strukturen so um, dass Familie nicht zum Hindernis für die Teilhabe der Eltern und Kinder am gesellschaftlichen Leben wird.16 Das Ziel familienpolitischer Maßnahmen wäre dann nicht länger die Familie, sondern das Individuum – ungeachtet seines Geschlechtes. Familienpolitik wäre dann eine Familienmitgliederpolitik, also eine Politik für Kinder, Mütter und Väter. Mit anderen Worten: Eine Familienpolitik erleichtert die Entscheidung für Familie, wenn sie ermöglicht, dass der Einzelne weitgehend selbst bestimmen kann, wie er Partnerschaft und Familie mit anderen gesellschaftlichen Anforderungen unter einen Hut bringt. Es mag paradox sein, doch je unabhängiger Frauen und Männer in ihren Lebensentwürfen von der Institution Familie sind, also je geringer die Anforderungen der Familie etwa eine gewünschte Bildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung einschränken, desto eher sind sie bereit, eine Familie zu gründen und sich damit langfristig an Familie zu binden.

1 Lehr, Ursula: Die Bedeutung der Familie im Sozialisationsprozess, Schriftenreihe des Bundesministers [sic] für Jugend, Familie und Gesundheit, Band 5, 2. unveränderte Auflage, Stuttgart 1975, S. 61–72.

2 Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hrsg.): Zweiter Familienbericht, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 35.

3 Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hrsg.): Familien mit Kleinkindern, Stuttgart 1980, S. 40ff.

4 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986, S. 181–204.

5 Sachverständigenkommission zur Erstellung des Ersten Gleichstellungsberichtes der Bundesregierung (Hrsg.): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf, 2011, S. 166.

6 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Berlin 2006.

7 Böhm, Kathrin/ Drasch, Katrin/ Götz, Susanne/ Pausch, Stephanie: Frauen zwischen Beruf und Familie, IAB-Kurzbericht 23/2011.

8 Siehe Referenz 5, S. 153–157.

9 Mindesteinkommen: monatliche Einnahmen (zum Beispiel Bruttoeinkommen aus Erwerbsarbeit, Arbeitslosengeld I, Krankengeld) ohne Wohngeld und Kindergeld.

10 Landtag von Baden-Württemberg: Landes-erziehungsgeld für bedürftige Eltern früher auszahlen, Drucksache 14/7422 vom 30. Dezember 2010 sowie Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren: Landeserziehungsgeld wird novelliert, Pressemitteilung vom 25. Januar 2012.

11 Stuttgarter Nachrichten vom 23. Dezember 2011 und vom 25. November 2011.

12 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Länderreport frühkindliche Bildungssysteme 2011 – Profile der Bundesländer.

13 Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Familien in Baden-Württemberg. Familienbericht 1998, Stuttgart 1998, S. 525–528.

14 Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Familien in Baden-Württemberg. Familienbericht 2004, Teil 1, Stuttgart 2004, S. 318.

15 Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Familien in Baden-Württemberg. Kinderbetreuung, Kurzreport 2/2008.

16 Fleckenstein, Timo: The politics of ideas in welfare state transformation: Christian democracy and the reform of familiy policy in Germany, in: Social Politics, Volume 18, Number 4, 2011, S. 543–571.

17 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Zeit für Familie, Monitor Familienforschung, Ausgabe 26, 2011 sowie Thüsing, Gregor: Zeit für Verantwortung, Frankfurter Allgemeine, 8. Dezember 2011.