:: 4/2012

60 Jahre Handwerk in Baden-Württemberg

Sowohl Gewinner als auch Verlierer des Strukturwandels

Zum Stichtag der ersten Handwerkszählung am 31. Mai 1956 nach Gründung des Landes Baden-Württemberg waren 135 953 selbstständige Handwerksunternehmen einschließlich handwerklicher Nebenbetriebe in die Handwerksrolle eingetragen, 601 750 Personen im Handwerk tätig und der Umsatz belief sich auf 4 252 Mill. Euro. In den nachfolgenden Jahrzehnten vollzog sich im Handwerk ein stetiger Strukturwandel, der dem technischen Fortschritt, einer rückläufigen Nachfrage nach Produkten des Handwerks, der wachsenden Konkurrenz von Industrie und Einzelhandel und dem Einfluss des demografischen Wandels Rechnung trug. Die einzelnen Gewerbegruppen des Handwerks waren von den Veränderungen im unterschiedlichem Maße betroffen und auch innerhalb der Gewerbegruppen kamen für einige Gewerbezweige zum Teil gegenläufige Entwicklungen zum tragen. In der letzten Handwerkszählung 2008 waren im Land 76 239 Handwerksunternehmen mit 704 558 tätigen Personen registriert, die einen 77 637 Mill. Umsatz erwirtschafteten.

Das Handwerk ist ein Berufsstand und eine Organisationsform der gewerblichen Wirtschaft. Die handwerkliche Tätigkeit steht im Gegensatz zur industriellen Massenproduktion und ist eine selbstständige Erwerbstätigkeit auf dem Gebiet der Be- und Verarbeitung von Stoffen sowie im Reparatur- und Dienstleistungsbereich. Lange Zeit war es nicht möglich, das Handwerk innerhalb der gewerblichen Wirtschaft abzugrenzen. Erst nachdem im Jahr 1935 die Berechtigung zum selbstständigen Betrieb eines Handwerks vom Eintrag in die Handwerksrolle abhängig gemacht wurde, konnten bei der Volks-, Berufs- und Betriebszählung des Jahres 1939 erstmals die Handwerksbetriebe gesondert erhoben werden.

Die erste selbstständige Handwerkszählung im Jahr 1949 kämpfte noch mit der lückenlosen Erfassung des HandwerkS. Sie war zum einen noch von der nachkriegsbedingten unvollständigen Eintragung neuer Betriebe in die Handwerksrolle geprägt. Zum anderen wirkte sich die seit 1948 in der amerikanischen Zone bestehende Gewerbefreiheit1 aus, die die Bindung des selbstständig ausgeübten Handwerks an die Ablegung der Meisterprüfung außer Kraft setzte.

Die erste selbstständige Handwerkszählung (HWZ) nach der Gründung des Landes Baden-Württemberg am 25. April 1952 wurde bundesweit zum Stichtag des 30./31. Mai 1956 durchgeführt. In den Jahren 1963, 1968, 1977 sowie 1995 erfolgten ebenfalls statistische Bestandsaufnahmen bei allen eingetragenen Handwerkern mit der Erfassung der Zahl der Betriebe und der Beschäftigten und weiteren wesentlichen Merkmalen wie Umsatz, Löhne und Gehälter, soziale Stellung der Beschäftigten usw. Für das Jahr 2008 wurden die Ergebnisse der Handwerkszählung erstmals durch die Auswertung des statistischen Unternehmensregisters gewonnen, das Verwaltungsdaten über Umsätze und Beschäftigte enthält. Zukünftig werden diese Strukturdaten für das Handwerk jährlich aus dem Unternehmensregister ausgewertet. Für einen besseren zeitlichen Vergleich der Gewerbegruppen von 1956 bis 2008 wurden die Ergebnisse der HWZ 2008 nach den Gewerbegruppen der HWZ 1995 abgebildet.

Das Handwerk seit 1956 im Überblick

Zum Stichtag der Handwerkszählung am 31. Mai 1956 waren im Land 135 953 selbstständige Handwerksunternehmen einschließlich handwerklicher Nebenbetriebe verzeichnet, in denen 601 750 Personen tätig waren. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte wurde das Handwerk von einem enormen stetigen Strukturwandel geprägt, der auf dem fortwährenden technischen Fortschritt basierte und in den einzelnen Gewerbegruppen einen unterschiedlichen Niederschlag fand. In den Jahren bis zur derzeit aktuellen Handwerkszählung 2008 hat sich die Anzahl der Handwerksbetriebe nahezu halbiert auf nunmehr 76 239 Handwerksunternehmen2. Gleichzeitig stieg die Zahl der im Handwerk tätigen Personen um 17 % auf 704 558 Personen. Infolgedessen nahm die durchschnittliche Betriebsgröße von vier Personen im Jahr 1956 auf neun Personen je Betrieb im Jahr 2008 zu (Übersicht).

Der Gesamtumsatz des Handwerks in Baden-Württemberg belief sich im Jahr 19553 auf 4 252 Mill. Euro und ergab einen durchschnittlichen Jahresumsatz je Betrieb von gut 31 300 Euro. Im Jahr 2008 setzte das Handwerk 77 637 Mill. Euro um, mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von 1 018 337 Euro je Betrieb.

Der Strukturwandel im Handwerk betraf die einzelnen Gewerbegruppen im unterschiedlichem Maße und auch innerhalb der Gewerbegruppen spielten sich zum Teil gegenläufige Entwicklungen ab. Zu den »Gewinnern« des Wandels seit 1955 zählt auf jeden Fall die Gruppe des Elektro- und des Metallgewerbes mit einem 15-prozentigen Zuwachs an Betrieben und einer mehr als Verdoppelung der tätigen Personen (+ 111 %). Auch das Gewerbe für Gesundheit und Körperpflege, Chemie und Reinigung mit 18 % mehr Eintragungen in der Handwerksrolle und einer fast Verdreifachung (+ 185 %) der Beschäftigtenzahl gehört dazu (Schaubild 1).

Auf der »Verliererseite« der geänderten Verhältnisse im Handwerk steht die Gruppe des Holzgewerbes mit einem Verlust von mehr als zwei Drittel (69 %) der Handwerksbetriebe und einem Drittel (34 %) der Beschäftigten im Zeitraum von 1956 bis 2008. Am stärksten allerdings traf der Wandel das Bekleidungs-, Textil- und Ledergewerbe. Hier verringerte sich die Zahl der Handwerksbetriebe um 94 %, die Zahl der Beschäftigten um 84 %.

Das Nahrungsmittelgewerbe erlebte in den letzten Jahrzehnten eine gegenläufige Entwicklung. Während sich die Zahl der Handwerksbetriebe in der Zeit von 1956 bis 2008 um 72 % reduzierte, erhöhte sich gleichzeitig die Zahl der im Gewerbe tätigen Personen um 14 %.

Gewerbegruppen im Wandel der Zeit4

Bau- und Ausbaugewerbe

Das Bau- und Ausbaugewerbe stand Mitte der 1950er-Jahre noch im Zeichen des Wiederaufbaus der Städte und Gemeinden. In 23 569 Handwerksbetrieben waren 202 461 Personen beschäftigt. Es stellte damit bezogen auf die Zahl der Beschäftigten die größte Gewerbegruppe und mit durchschnittlich fast neun Beschäftigten je Betrieb auch die größten Betriebe unter den Gewerbegruppen. Im Jahr 2008 wurden 19 442 Handwerksbetriebe und 141 987 tätige Personen im Bau- und Ausbaugewerbe gezählt, dies sind 18 % weniger Betriebe und 30 % weniger Beschäftigte in dieser Gewerbegruppe seit 1956. Durchschnittlich sind heutzutage etwas mehr als sieben Beschäftige in einem Betrieb tätig.

Elektro- und Metallgewerbe

Das Elektro- und Metallgewerbe wuchs von 1956 bis 2008 von 26 379 auf 30 222 Betriebe an und vervielfachte seine Beschäftigtenzahl von 141 772 auf 301 768 tätige Personen. Fast die Hälfte aller Handwerksbetriebe und aller im Handwerk Beschäftigten waren 2008 im Elektro- und Metallgewerbe tätig. Es nahm zu jeder Zeit eine Spitzenposition innerhalb des Handwerks im Land ein. So entfielen 2008 rund 60 % des Gesamtumsatzes des Handwerks auf das Metall- und Elektrogewerbe.

Holzgewerbe

Im Jahr 1956 waren 17 315 Betriebe des Holzgewerbes in der Handwerksrolle eingetragen. Bis zum Jahr 2008 war dieser Bestand auf 5 359 Betriebe (−  69 %) geschrumpft. Die Beschäftigtenzahlen reduzierten sich im gleichen Zeitraum von 54 253 auf 35 972 tätige Personen (−  34 %). Der Rückgang betraf vor allem die traditionellen Gewerbezweige wie Tischler, Wagner, Böttcher, deren Produkte durch Industrieerzeugnisse ersetzt wurden bzw. für die die Nachfrage mit der Zeit entfiel.

Bekleidungs-, Textil- und Ledergewerbe

Das Bekleidungs-, Textil- und Ledergewerbe weist den stärksten Rückgang des Handwerks in den letzten Jahrzehnten auf. Die Zahl der Handwerksbetriebe ging von 35 714 Betrieben des Jahres 1956 auf nunmehr 1 989 Betriebe im Jahr 2008 zurück. Gleichzeitig reduzierte sich die Zahl der Beschäftigten von 69 256 auf 11 276 tätige Personen. Es waren insbesondere die Damen- und Herrenschneider und die Schuhmacher, die aufgrund der rückläufigen Nachfrage und dem Konkurrenzdruck von Industrie und Einzelhandel ihr Handwerk aufgaben (Schaubild 2).

Nahrungsmittelgewerbe

Das Nahrungsmittelgewerbe verzeichnete im Jahr 1956 18 931 Handwerksbetriebe mit 77 248 tätigen Personen. Im Jahr 2008 weist diese Gewerbegruppe nur noch 5 227 Betriebe (−  72 %) auf, allerdings mit einem Beschäftigtenzuwachs auf 87 915 tätige Personen (+ 14 %). Der Rückgang an Betrieben des Bäcker-, Müller- und Fleischerhandwerks beruht zum einen auf der technischen Entwicklung im Produktionsprozess und dadurch der Möglichkeit, größere leistungsfähigere Betriebseinheiten zu bilden. So sind im Bäckerbetrieben 2008 durchschnittlich 23 tätige Personen beschäftigt, im Jahr 1956 waren es knapp vier Beschäftigte je Betrieb. Zum anderen besteht ein starker Konkurrenzdruck der industriellen Produktion und einer damit einhergehenden Verlagerung der Versorgung mit Brot-, Back- und Fleischwaren auf den Einzelhandel.

Gesundheits- und Körperpflege, Chemie und Reinigung

Im Jahr 1956 waren in der Gewerbegruppe Gesundheits- und Körperpflege, Chemie und Reinigung 9 929 Handwerksbetriebe eingetragen. Bis 2008 ist ihre Zahl auf 11 673 Betriebe angestiegen (+ 18 %). Die Beschäftigtenzahl verdreifachte sich fast über die Jahre – von 38 157 tätigen Personen 1956 auf 108 635 im Jahr 2008. Die einzelnen Gewerbezweige der Gruppe weisen gegenläufige Entwicklungen auf. So wurde der Rückgang an Wäschern, Färbern, chemischen Reinigern und auch bei den Friseuren durch verbesserte Angebote an Mitteln zur Eigenleistung und einer geänderten Friseurmode (Fönfrisuren) ausgelöst. Dies wurde durch starke Zuwächse bei den Augenoptikern, Zahntechnikern und vor allem bei den Gebäudereinigern5 kompensiert. Die Augenoptiker und die Zahntechniker können dabei vom demografischen Wandel profitieren und die Gebäudereiniger vom gestiegenen Bedarf nach unternehmensnahen Dienstleistungen, da sich die Unternehmen verstärkt auf ihre Kernprozesse konzentrieren (Schaubild 3).

Glas-, Papier-, keramisches und sonstiges Gewerbe

In den 4 116 Handwerksbetrieben des Glas-, Papier-, keramischen und sonstigen Gewerbes waren im Jahr 1956 17 603 tätige Personen beschäftigt. Im Jahr 2008 waren es mit 2 327 Handwerksbetrieben noch knapp die Hälfte bei fast gleicher Beschäftigtenzahl (17 005 Personen). Der Rückgang der Betriebszahlen wie beispielsweise bei den Fotografen oder den Buchbindern ist neuen Techniken und der Rationalisierung geschuldet.

Ausblick

Auch in den kommenden Jahren wird die Dynamik des Strukturwandels für das Handwerk anhalten und die einzelnen Gewerbegruppen in sehr unterschiedlichem Maße beeinflussen. Auch das Handwerk muss den demografischen Wandel bewältigen, der auf der einen Seite für einen drohenden Fachkräftemangel steht, auf der anderen Seite aber auch eine verstärkte Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen des Handwerks für die ältere Generation in Aussicht stellt. Der technische Fortschritt wird unaufhaltsam weitergehen und Produktionsweisen des Handwerks beeinflussen bzw. Handwerk durch industrielle Produktion ablösen. Das Konsumverhalten der Verbraucher und die Frage der Wertschätzung für Handwerksprodukte sind weitere Faktoren des GeschehenS. Es bleibt abzuwarten, ob die Breite und Vielfalt des Handwerks auch in der Zukunft erhalten bleiben wird.

1 Für die Eröffnung eines Handwerksbetriebes genügte eine Postkarte an das Gewerbeamt und das Finanzamt.

2 Ohne Unternehmen mit handwerklichen Nebenbetrieben und Unternehmen mit innerbetrieblichen handwerklichen Abteilungen.

3 Der Umsatz der HWZ 1956 bezieht sich auf das Kalenderjahr 1955.

4 Klassifizierung nach den Gewerbegruppen der HWZ 1995.

5 1956: 132 Handwerksbetriebe mit 945 tätigen Personen, 2008: 1 618 Handwerksbetriebe mit 54 737 tätigen Personen.