:: 6/2012

Konzepte zur Messung von Einkommensungleichheiten

Einkommensungleichheit ist empirisch auf sehr unterschiedliche Weise erfass- und berechenbar. Studien zu Einkommensdisparitäten verwenden je nach Zielrichtung und Untersuchungsgegenstand unterschiedliche Bezugsgrößen und Ungleichheitsmaße. Die gängigsten werden in diesem Aufsatz mithilfe aktueller Beispiele vorgestellt. Er ist als methodische Ergänzung zum Titelbeitrag in diesem Heft gedacht. Darum wird darüber hinaus das Analysekonzept des OECD-Berichts »Devided We Stand«, erläutert, dem der Titelbeitrag in wesentlichen Teilen folgt.

Bezugsgrößen der Ungleichheitsmessung

Monetäre Ungleichheit1 lässt sich grundsätzlich für Vermögen und für Einkommen bestimmen. Im Folgenden wird nur auf die Einkommensperspektive eingegangen. Auch hier werden je nach Zielrichtung und Untersuchungsgegenstand unterschiedliche Bezugsgrößen verwendet.

Die Einkommensverteilung kann personenunabhängig, zum Beispiel in Bezug auf die Tariflöhne, oder auf individueller Ebene bestimmt werden. Entscheidend für die wahrgenommene Ungleichheit sind jedoch nicht die Einkünfte der Einzelnen, sondern die verfügbaren Einkommen der Haushalte, deren Differenzen durch nichtmonetäre Leistungen des Staates, wie Bildung und Betreuung oder Gesundheitsleistungen, abgemildert werden können.

Die meisten Studien stellen die Ungleichheit auf Basis gewichteter verfügbarer Haushaltseinkommen dar, den sogenannten Nettoäquivalenzeinkommen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Mehrpersonenhaushalte aufgrund von Synergieeffekten je Person geringere Ausgaben haben, um dasselbe Wohlstandsniveau zu erreichen wie Einpersonenhaushalte. Das Nettoäquivalenzeinkommen ist der Versuch, eine möglichst vergleichbare Einkommensgröße zu generieren. Der Haushaltsvorstand erhält zur Berechnung dieser Einkommen – nach der modifizierten OECD-Skala – das Gewicht 1, jedes weitere erwachsene Haushaltsmitglied den Wert 0,5 und jedes Kind den Wert 0,3.2 Diese Gewichte haben sich für die Berechnung von Nettoäquivalenzeinkommen weitgehend etabliert. Es wird auch von der OECD und den anderen im Titelbeitrag besprochenen Studien zur Beschreibung der Ungleichheit zwischen den Ländern verwendet.

Die Einkommensdisparitäten bezogen auf die Nettoäquivalenzeinkommen sind wichtig für die wahrgenommene Ungleichheit in Gesellschaften. Sie stehen am Ende der Wohlstandsverteilung und ergeben sich aus verschiedenen Quellen. Das mehrstufige Analysekonzept der OECD integriert die wichtigsten Komponenten. Welche dies sind und in welchen Wechselbeziehungen sie stehen, veranschaulicht die Übersicht.

Einflussfaktoren auf die Einkommens­ungleichheit

Als unabhängige Variablen werden in der OECD-Studie die drei Bereiche Politik, Globalisierung und technologischer Wandel betrachtet (oranger Bereich). Es wird davon ausgegangen, dass diese die (Tarif-)Löhne sowie das Erwerbsverhalten und die Arbeitslosigkeit beeinflussen (hellblauer und grüner Bereich). Im Übergang vom grünen zum violetten Bereich findet die Übersetzung der Individualeinkünfte in Einkünfte der Haushalte statt. Diese werden neben den Löhnen auch von der Anzahl der Erwerbstätigen im Haus­halt und deren Arbeitsumfang beeinflusst. Auch weitere Einkommen zum Beispiel aus Vermögen werden berücksichtigt. Durch Steuern werden die Haushaltseinkommen gemindert, durch Sozialtransfers ggf. erhöht. Am Ende steht das verfügbare Haushaltseinkommen, das zur Erhöhung der Vergleichbarkeit noch mit der Haushaltsgröße gewichtet und dann als Nettoäquivalenzeinkommen bezeichnet wird. Müssen Betreuungs-, Bildungs- und Gesundheitsleistungen aus diesen Einkommen finanziert werden, führt dies im Ergebnis zu noch stärkerer Ungleichheit, da Haushalte mit geringen Einkommen dann von diesen Leistungen ausgeschlossen sind. Sofern diese Leistungen kostenlos allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen zur Verfügung stehen, wirkt dies hingegen ungleichheitsreduzierend. Da diese Faktoren jedoch schwer quantifizierbar sind, werden sie nicht weiter betrachtet, darum ist dieser Bereich gestrichelt dargestellt. Selbst dieses komplexe Analyseschema blendet viele weitere Einflussfaktoren und Wechselwirkungen aus, es ist aber eine gute Grundlage, um schrittweise die zentralen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Auf dieser Basis erfolgt die Darstellung der empirischen Ergebnisse zur Einkommensungleichheit im Titelbeitrag dieses Heftes.3

Wie lässt sich Ungleichheit messen?

Zur Berechnung von Ungleichheit werden die Personen oder Haushalte nach der Höhe der betrachteten Einkommen sortiert. Eine Möglichkeit der Beschreibung der Einkommensverteilung besteht nun darin, die von gleich großen Gruppen jeweils erwirtschaften Anteile an den Einkommen insgesamt zu betrachten. Dazu werden die Personen oder Haushalte in fünf Gruppen (Quintile) oder, für eine genauere Analyse, in zehn Gruppen (Dezile) aufgeteilt.

Am deutlichsten treten die Unterschiede zutage, wenn man die einkommensschwächsten 10 % der Haushalte (unterstes Dezil) und die einkommensstärksten 10 % (oberstes Dezil) betrachtet. Beispielsweise verdienten in Deutschland 2008 die obersten 10 % der Haushalte rund acht Mal soviel wie die untersten 10 %. Die Einkommensdisparität liegt damit nur geringfügig unter dem OECD-Durchschnitt von 9 zu 1. In den 1990er-Jahren hatte dieser Faktor in Deutschland noch bei 6 zu 1 und deutlich unter dem OECD-Mittel gelegen.4

Im Durchschnitt von 27 OECD-Ländern sind die Nettoäquivalenzeinkommen im obersten Dezil stärker gewachsen als im unteren Dezil. Die niedrigen Einkommen stiegen von Mitte der 1980er-Jahre bis 2008 preisbereinigt pro Jahr nur um 1,3 %, die Einkommen der Einkommensstärksten hingegen um 1,9 %. In Deutschland stagnierten die Einkommen im untersten Dezil (+ 0,1 %), im obersten wuchsen die Einkommen mit durchschnittlich 1,6 %. Die Unterschiede im Wachstum waren in Deutschland mit 1,5 Prozentpunkten mehr als doppelt so stark als im OECD-Durchschnitt. In acht Ländern haben sich die Einkommensunterschiede zwischen den oberen 10 % und den unteren 10 % im Zeitraum Mitte der 1980er- Jahre bis 2008 sogar verringert. Darunter auch die Euro-Krisenländer Portugal, Spanien, Griechenland, Irland.5

Ein Nachteil dieser Betrachtung ist, dass sie nur die Extreme der Einkommensverteilung beschreibt. Es gibt jedoch auch ein Maß, das die Ungleichheit über die gesamte Spanne der Einkommen berücksichtigt, den Gini-Koeffizienten.

Der Gini-Koeffizient hat die Spannweite von 0 bis 1. Den Wert 0 nimmt der Koeffizient an, wenn alle Personen einer Gesamtheit über gleich hohe Einkünfte verfügen, den Wert 1, wenn eine Person alle Einkünfte erzielt und die restlichen Personen keine. Je höher er ist, desto höher ist die Ungleichheit.

Der Gini-Koeffizient kann für unterschiedliche Einkommenskonzepte berechnet werden: Stunden- oder Monatslöhne, abhängig vom Beschäftigungsumfang oder berechnet auf Vollzeitäquivalente, Brutto- oder Nettoeinkommen, Personen-, Haushalts- oder Nettoäquivalenzeinkommen.

Je nach zur Verfügung stehenden Daten, erfolgt die Berechnung unterschiedlich. Es ist auch möglich, einen Gini-Koeffizienten zu berechnen, wenn keine Individualdaten, sondern nur Daten für Gruppen vorliegen, zum Beispiel die einkommensschwächsten 10 % der Haushalte erzielen 2,7% der Einkünfte, die nächsten 10 % erzielen 4 % und so weiter. Allerdings sind die Gini-Koeffizienten nur dann direkt miteinander vergleichbar, wenn sie auf der gleichen Datengrundlage basieren und mit derselben Methode errechnet wurden. Eine Gruppenbildung beispielsweise führt immer zu niedrigeren Gini-Werten, da innerhalb der Gruppe eine Gleichverteilung der Einkommen unterstellt wird.

Für eine grafische Abbildung des Gini-Koeffizienten werden die kumulierten Einnahmen auf der Y-Achse eines Diagramms dargestellt und die kumulierten Einkommensbezieher auf der X-Achse. Werden die Punkte miteinander verbunden, ergibt sich eine Kurve, die als Lorenzkurve bezeichnet wird. Der Gini-Koeffizient ist der Anteil der Fläche zwischen der Diagonalen, die sich bei Gleichverteilung ergäbe und der Lorenzkurve (graue Fläche) an der Gesamtfläche unter der Gleichverteilungsgeraden.

Das Schaubild stellt exemplarisch die Lorenzkurven und Gini-Koeffizienten der Haushaltsbruttoeinkommen (Gini = 0,37) bzw. der verfügbaren Haushaltseinkommen6 (Gini = 0,34) nach Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe für Deutschland (EVS) 2008 dar. Die Punkte geben die bis zu einem gewissen Haushaltseinkommen (erster Punkt bis 900 Euro) erzielten Anteile am Gesamteinkommen wieder. Bis 900 Euro verdienen knapp 9 % der Haushalte. Diese verfügen über 1,8 % der Bruttoeinkünfte und 2,1 % der verfügbaren Einkommen. Die letzte Größenklasse reicht von 5 000 bis 18 000 Euro monatlich. Die rund 13 % der Haushalte in dieser Einkommensgrößenklasse erwirtschaften über 31 % der gesamten Nettoeinkommen und 32 % der Bruttoeinkommen. Durch die geringe Gini-Differenz von lediglich 0,02, die sich aus der Nähe der beiden Kurven über die gesamte Einkommensspanne ergibt, wird ersichtlich, dass die Ungleichheit durch Einkommen-, Kirchensteuer, Solidaritäts­zuschlag und die Beiträge zur Sozialversicher­ung nur unwesentlich reduziert wird. Über die absolute Höhe der Einkommensreduktion gibt diese Darstellung keine Auskunft, da die Einkommen als Anteile am Insgesamt ausgewiesen werden.

1 Monetäre Ungleichheit ist eine wichtige Komponente der sozialen Ungleichheit, zu der unter anderem auch noch kulturelle und Bildungsdisparitäten zählen, vgl. zum Beispiel Werner Fuchs-Heinritz u. a. 2008: Lexikon zur Soziologie, VS-Verlag, S. 686.

2 Beispielsweise ist für einen Vierpersonenhaushalt mit zwei Kindern das verfügbare Haushaltseinkommen durch (1+0,5+0,3+0,3) = 2,1 zu teilen. Vgl. WHAT ARE EQUIVALENCE SCALES? (Stand: 23. März 2012).

3 Vgl. Payk, Bernhard, Freiheit – Ungleichheit – Brüderlichkeit? Zur Entwicklung der Einkommensverteilung in den OECD-Ländern in den letzten 25 Jahren, in diesem Heft S. 3ff.

4 Vgl. deutschsprachige Pressemitteilung zu »Divided We Stand« vom 5. Dezember 2011 (Stand: 10. Mai 2012).

5 Die Wachstumsangaben sind korrigiert mit der Entwicklung der Verbraucherpreise. Die vollständige Tabelle ist online abrufbar, (Stand: 19. April 2012). Zu beachten ist, dass sich die Ergebnisse auf 2008 beziehen und aktuelle Entwicklungen daher nicht widerspiegeln.

6 Abweichend vom Konzept der EVS wurden vom Bruttoeinkommen nicht nur die Einkommensteuern und Pflichtabgaben zur Sozialversicherung sondern auch freiwillige Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung abgezogen.