:: 1/2014

Kommunales Familien- und Demografiemanagement

Was alle angeht, können nur alle lösen

Drei mögliche Verhaltensmuster sieht Bürgermeister Dr. Armin König aus Illingen im Saarland, wenn kommunale Entscheidungsträger mit dem demografischen Wandel konfrontiert sind: »Kopf in den Sand stecken und abwarten, bis das Problem vorbeigeht. Zweitens: mit Macht gegensteuern. Drittens: strategisches Handeln mit Anpassung an die Realität.«

Bürgermeister König war zum Auftakt des Landesprojekts »Managementverfahren familienfreundliche, bürgeraktive & demografiesensible Kommune« nach Baden-Württemberg gekommen und sprach vor rund 100 Vertretern aus den 22 Pilotkommunen, die sich mit der Teilnahme an dem Projekt den Herausforderungen des demografischen Wandels stellen wollen. Zahlreiche Bürgermeisterkolleginnen und -kollegen, Gemeinderäte und Verwaltungsfachleute waren ins Statistische Landesamt Baden-Württemberg gekommen, um über notwendige Anpassungsstrategien in ihren Kommunen zu beraten.

»Kopf-in-den-Sand« und »interkommunaler Kannibalismus« führen nicht weiter

Variante 1, »Kopf in den Sand stecken und abwarten – obwohl gern genommen«, verwirft Bürgermeister König gleich als »nicht zielführend, weil die Probleme nicht vorbeigehen«. Die Mädchen, die künftig Kinder gebären könnten, seien selbst gar nicht geboren. Variante 2, »machtvoll gegensteuern«, hält König auch für nicht aussichtsreich. »Das Magazin Spiegel hat uns das ja allen empfohlen: ‚Macht doch ein bisschen auf Konkurrenz und bietet Baby-Geld und Ähnliches an‘«, so König weiter. Der Bürgermeister weiß aus eigener Erfahrung, dass ein solches Buhlen um Einwohner nicht weiterführt. Er sieht darin einen ruinösen Wettbewerb, weil immer mehr Kommunen solche Prämien und Vergünstigungen zahlen. »Und jetzt mal ehrlich«, fragt er in die Runde, »wenn Sie von Ihrer eigenen Familie ausgehen, spielt es bei Ihrer Familienplanung eine Rolle, ob eine Gemeinde 100 oder 200 Euro Begrüßungsgeld zahlt?« König findet dafür deutliche Worte, »interkommunaler Kannibalismus« sei das. Eine einzelne Kommune würde kurzfristig an Einwohnern gewinnen, alle Nachbarkommunen aber würden verlieren und auf einer nicht ausgelasteten Infrastruktur sitzen bleiben. Zudem könne sich letztlich keine Kommune gegen den demografischen Trend stellen.

Die Realitäten akzeptieren – die Bürger beteiligen – strategisch handeln

»Die einzige Variante, die funktioniert, ist strategisch handeln – Strategie statt Durchwursteln«, ist sich Bürgermeister König sicher. Dazu gehört für ihn, den Bürgern die Wahrheit zu sagen und sie an der künftigen Entwicklung der Gemeinde zu beteiligen. »Wenn Sie Bürgerbeteiligung ernst nehmen, dann werden sich Einstellungen und Prozesse in der Gemeinde verändern, Sie werden zielführendes Handeln erleben und Sie werden sehen, dass nachher etwas dabei herauskommt«, so König weiter. Ein solcher Beteiligungs- und Veränderungsprozess brauche aber auch »Leadership, einen oder eine, der oder die die Sache in die Hand nimmt«. Und der Gemeinderat muss sich darauf ernsthaft einlassen. Das weiß König auch aus eigener Erfahrung. Seine »Mit-Komm-Strategie Illingen 2030« gewann erst an Fahrt, als er den Gemeinderat für den Prozess gewonnen hatte.

Was alle angeht, können nur alle lösen

Nach dieser Erkenntnis von Friedrich Dürrenmatt entwickelt König mit seinen Bürgerinnen und Bürgern zusammen seit 2006 Anpassungsstrategien für den demografischen Wandel.

Das erste Thema, das in Illingen angegangen wurde, waren die zunehmenden Gebäudeleerstände. Es wurde Kontakt zu den Eigentümern gesucht und ein Leerstandskataster zur besseren Vermarktung der Immobilien aufgebaut. Viele private Gebäude im Ort bekamen auf diese Weise neue Besitzer. Viele leerstehende öffentliche Gebäude bekamen neue Nutzungen. Eine ehemalige Dorfschule wurde zur Dorfkäserei, das ehemalige Arbeitsamt zum Jugendzentrum, die leerstehende Post zum ASB-Sozialzentrum mit Mädchencafé, Demenzcafé, Kleiderbörse und Altentreff. Diese und viele weitere Projekte wurden gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern in mehreren Zukunftskonferenzen und Projektgruppen auf den Weg gebracht.

Vom Abbruch zum Aufbruch

König macht aber auch deutlich, dass man nicht vor unpopulären Maßnahmen zurückschrecken darf. Einzelne Gebäude, die nicht mehr sanierungsfähig waren und für die sich kein Käufer fand, wurden aufgekauft und abgerissen. »Mich hat’s zuerst erwischt«, lautete das Transparent, das König an das erste Abrisshaus hat anbringen lassen. »Und ich bin als nächstes dran«, stand auf dem zweiten. Eine Begleitaktion, die König viel Kritik einbrachte, aber auch Anerkennung.

Das Beispiel zeigt: Auch im Abbruch kann Aufbruch liegen. Für Illingen trifft das zu.

Herausforderungen für Baden-Württemberg

Was das Saarland schon teilweise hinter sich hat, haben viele Kommunen in Baden-Württemberg möglicherweise noch vor sich. Im kommenden Jahrzehnt wird jeder dritte Baden-Württemberger über 60 Jahre alt sein. Die Altersgruppe der Generation 60+ wird im Zeitraum 2011 bis 2030 um voraussichtlich 30 % zunehmen, die Zahl der Hochbetagten ab 85 Jahren sogar um über 60 %. In den meisten Kommunen wird dann die Bevölkerungszahl rückläufig sein, sofern zumindest die Wanderungsgewinne für Baden-Württemberg künftig nicht deutlich höher ausfallen als bisher angenommen.

Das stellt die Städte und Gemeinden vor große Herausforderungen: Wie kann die kommunale Infrastruktur mit den sich wandelnden Bedürfnissen der Bevölkerungsgruppen Schritt halten? Wie lassen sich die Fürsorge zwischen den Generationen und der soziale Zusammenhalt in den Kommunen stärken? Wie können auch angesichts rückläufiger Bevölkerungszahlen eine attraktive Grundversorgung und ein intaktes Gemeinschaftsleben erhalten werden?

22 Kommunen erarbeiten Zukunftskonzepte

22 Städte und Gemeinden aus 19 Landkreisen in Baden-Württemberg wollen jetzt ihre Weichen für die Zukunft neu stellen und starten das neue »Managementverfahren familienfreundliche, bürgeraktive & demografiesensible Kommune«. Mit Unterstützung des neuen Landesprojekts erarbeiten die Kommunen in den nächsten Monaten strategische Handlungskonzepte für ihre zukünftige Entwicklung. Professionelle Prozessbegleitung, Veranstaltungen zur Bürgerbeteiligung sowie landesweite Qualifizierungsangebote im Kreis der teilnehmenden Kommunen sind Teil des Projekts.

Das Managementverfahren ist ein neues Angebot des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg und wird von einem breiten landesweiten Netzwerk getragen. Programmpartner sind das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, der Gemeindetag, der Städtetag und der Landkreistag Baden-Württemberg, der Kommunalverband für Jugend und Soziales, die Akademie Ländlicher Raum sowie die FamilienForschung Baden-Württemberg des Statistischen Landesamtes. Die FamilienForschung und der Kommunalverband führen im Auftrag der Partner die gemeinsame Geschäftsstelle. Zu dem Netzwerk gehören weitere professionelle Berater und Prozessbegleiter, die den Kommunen vor Ort zur Seite stehen.

Bürgermeister berichten von Herausforderungen

Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Gemeinderäte und Verwaltungsfachleute, die zur Auftaktveranstaltung ins Statistische Landesamt gekommen waren, berichteten von ihren alltäglichen Herausforderungen im demografischen Wandel. »Wie sieht die Fußgängerzone der Zukunft aus? Bei uns sterben die Läden in der Stadt«, sagt ein Bürgermeister und andere Kollegen nicken. »Bei uns gehen die Schülerzahlen stark zurück. Von fünf Werkrealschulen bleiben nur zwei übrig, langfristig nur eine«, bemerkt der nächste. »Wir sind heute schon einwohnermäßig im freien Fall«, so ein weiterer Kollege aus einer der vielen kleinen Gemeinden im Land. »Trotzdem müssen wir die Infrastruktur aufrechterhalten. Die Kanalsanierung steht an: die Nutzerzahlen sinken, die Kosten steigen.« Wollen die Kommunen an anderer Stelle sparen, ist durchaus mit erheblichem Widerspruch zu rechnen. »Wir wollten, dass unsere freiwillige Feuerwehr mit den Nachbarwehren zusammenarbeitet«, so ein weiterer Teilnehmer. »‘Wenn das nicht mehr unsere Feuerwehr ist, dann kommen wir nicht mehr‘, haben wir dann zu hören bekommen. Das ganze Projekt ist dann gescheitert.«

Es gibt bereits gute Ansätze

Aber auch von guten Ansätzen und Lösungswegen ist zu hören. »Wir entwickeln mit unseren Nachbarkommunen ein Konzept für junge Menschen und junge Familien in der Region«, so ein Teilnehmer, »damit es attraktiv bleibt, bei uns im Tal zu leben«. Dazu gehört die Zusammenarbeit der Kommunen bei der Kinderbetreuung, beim Schulangebot genauso wie bei den Angeboten der Jugendarbeit. Denn längst ist die Abwanderung junger Menschen zu einem neuen demografischen Trend geworden, der den Bevölkerungsrückgang im Ländlichen Raum weiter verstärkt.

Besonders in Gemeinden des Ländlichen Raums und in vielen kleinen Ortsteilen ist der Bevölkerungsrückgang schon deutlich spürbar. So haben einige Kommunen im Rahmen des Managementverfahrens damit begonnen, die Versorgungssituation und die Gebäudeleerstände in ihren Ortsteilen zu erfassen, um daraus geeignete Maßnahmen abzuleiten. »Bei uns im Dorf wollen wir überlegen, wo man kleine Grundstücke im Ortskern zu größeren Grundstücken zusammenlegen kann«, so ein Teilnehmer. »Dann wird es wieder attraktiver im Ortskern zu bauen statt im Neubaugebiet auf der grünen Wiese.«

Andere Kommunen kümmern sich um das Thema Älterwerden. »Wir möchten wissen, wie die Menschen im Alter wohnen wollen und die passenden Wohnformen mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen entwickeln«, ist von mehreren Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu hören. Dass es hierbei nicht nur um Pflegeheime und Betreutes Wohnen geht, ist allen Beteiligten klar. Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden heute zu Hause versorgt. Gefragt sind mehr barrierefreie Wohnungen, eine Wohnberatung für ältere Menschen und ihre Angehörigen sowie zuverlässige Dienstleister für die Unterstützungsangebote zu Hause. Deutlich wird aber auch, dass die Menschen unterschiedliche Wohnformen im Alter bevorzugen. »Bei uns im Ort gibt es eine Gruppe von Interessierten, die ein Wohnprojekt für mehrere Generationen bauen will«, so eine Teilnehmerin. »Wir schauen uns gerade solche Modelle in anderen Kommunen an.«

Kommunale Familienpolitik hat Schlüsselrolle

Bei allen geschilderten Lösungsansätzen wird klar, dass die Gestaltung des gesellschaftlichen und demografischen Wandels nur zusammen mit den Menschen gelingen kann. »Das Managementverfahren setzt stark auf die Beteiligung und Mitgestaltung der Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen«, betont auch Ministerialdirigent Günter Mächtle, dessen Abteilung im Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg das Projekt fördert. »Der kommunalen Familien- und Generationenpolitik kommt im demografischen Wandel eine Schlüsselrolle zu. Es wird darauf ankommen, die bürgerschaftlichen Netzwerke in den Kommunen zu stärken und den Austausch und die Selbsthilfe zwischen den Familien und Generationen zu fördern«, so Mächtle weiter.

Lösungen müssen aus den Kommunen kommen

Johannes Stingl, Beigeordneter des Gemeindetags Baden-Württemberg, sieht die landesweite Zusammenarbeit in dem Projekt auf dem richtigen Weg. »Die Auswirkungen des demografischen Wandels sind örtlich ganz unterschiedlich, und so lassen sich die Antworten und Lösungen auch nur in den Kommunen selbst finden«, resümiert Stingl. »Es ist zu begrüßen, wenn die Kommunen dabei auf ihrem Weg unterstützt werden.«

Weitere Arbeitstagungen und Exkursionen folgen

Die Beteiligten aus den 22 Pilotkommunen werden sich in den nächsten 1 bis 2 Jahren häufiger sehen. Alle 3 Monate werden sie zu einer Arbeitstagung zusammenkommen, um von ihren örtlichen Managementprozessen zu berichten und neue Impulse für Ihre Arbeit zu bekommen. Die erste Arbeitstagung zum Thema »Alter(n) als kommunale Gestaltungsaufgabe« fand bereits in Herrenberg-Gültstein statt. Im Februar 2014 sind die Kommunen zur Bürgergemeinschaft in Eichstetten am Kaiserstuhl eingeladen, um sich dieses modellhafte generationenübergreifende Zusammenleben aus der Nähe anzuschauen. Im April 2014 kommen sie dann im Landratsamt Offenburg zum Thema »Infrastruktur und Daseinsvorsorge« zusammen, im Sommer und Herbst werden weitere Veranstaltungen folgen.