:: 4/2015

Die Summe der Teile und das Ganze

Überlegungen zur Regionalisierung von Daten der amtlichen Statistik

Wie sähe die perfekte Welt für amtliche Statistiker, die mit Gesamtrechensystemen befasst sind, aus? Vermutlich so, dass unmittelbar nach Ablauf des Berichtszeitraumes alle nötigen Informationen vorliegen, um die jeweilige Größe zu berechnen: idealerweise unterjährig und in der gewünschten regionalen Tiefe. In diesem statistischen Arkadien würden sich mit Ablauf des 31. März berechnete Werte für die Bruttowertschöpfung (Arbeitnehmerentgelt, Treibhausgasemissionen, Gesundheitsausgaben, Erwerbstätige usw. ) des 1. Quartals nach Kreisen zum entsprechenden Quartalswert des Bundeslandes aggregieren und die Länderergebnisse würden zusammengefasst wiederum dem Bundeswert entsprechen. Mit Ablauf des Dezember wären die 4 Quartale des gerade abgelaufenen Jahres abschließend berechnet, die sich zum Jahreswert in einer bruchlosen Zeitreihe zusammenfügen. In der Realität stehen Datenverfügbarkeit und -qualität, auch veränderte rechtliche Rahmenbedingungen oder überarbeitete Wirtschaftszweigsystematiken dieser statistischen Idylle nur allzu oft im Wege. Bei der Berechnung muss man Kompromisse finden zwischen Aktualität und Genauigkeit. Auch sind hinsichtlich der regionalen und temporalen Tiefe mitunter Abstriche hinzunehmen, sodass man auf indikatorgestützte Berechnungen angewiesen ist.

Der vorliegende Beitrag greift anhand eines Beispiels aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen das Problem dieser indikatorgestützten Berechnungen auf, dass die Summe der so berechneten Länderwerte nicht dem vorgegebenen Eckwert des Bundes entspricht. Es sollen Wege aufgezeigt werden, die geeignet scheinen, die vorhandenen Informationen noch effizienter zu nutzen und damit die Datenqualität zu erhöhen. Es wird vorgeschlagen, den Zusammenhang zwischen Indikator- und fortzuschreibender Größe nicht zu postulieren, sondern von den definitorischen Zusammenhängen ausgehend zu schätzen. Diese Vorgehensweise eröffnet auch ein modellendogen begründetes Verfahren zur Einhaltung der Aggregationsrestriktion, wonach die Summe der Länderwerte mit dem Bundeseckwert übereinstimmen muss.

Die folgenden Ausführungen sind eine nichtformale Zusammenfassung des in der Reihe »Statistische Analysen« des Statistischen Landesamtes Baden‑Württemberg erschienenen Diskussionsbeitrages »Extrapolation und Aggregation von Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen«.

Indikatorgestützte Fortschreibung – bekommt jedes Land, was es verdient?

Die in den regionalen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen angewendete Methode der Fortschreibung erfolgt mittels länderspezifischer Indikatoren, die in einem engen inhaltlichen Bezug zur Zielgröße stehen und zeitnah zum Berichtszeitraum verfügbar sind. So steht beispielsweise die Zielgröße »Bruttowertschöpfung« (BWS) in engem Zusammenhang mit dem Indikator »Umsatz«, da die BWS definiert ist als Differenz aus Produktionswert abzüglich Vorleistungen. Für die Fortschreibung der BWS wird demnach die Veränderungsrate der Umsätze herangezogen. Das Verfahren ist in der Übersicht 1 stilisiert dargestellt. Ein Wachstum des Indikators um einen bestimmten Prozentsatz weist auf eine ebensolche Steigerungsrate der Zielgröße hin. Die daraus resultierenden länderspezifischen fortgeschriebenen Absolutwerte der Zielgröße ergeben in der Summe einen Wert, der vom vorgegebenen Bundeseckwert um einen bestimmten Prozentsatz nach oben oder unten abweicht. Die unkoordinierten Länderwerte werden um diesen Prozentsatz korrigiert, und so wird die Konsistenz mit dem Eckwert wiederhergestellt. Man kann leicht nachprüfen, dass dieses Verfahren äquivalent ist zu einer Verteilung des absoluten Koordinierungsbetrages gemäß der Anteile jedes Landes an der unkoordinierten Ländersumme: Der Anteil von Land A an der unkoordinierten Ländersumme beläuft sich im Beispiel auf 57,7 %, auf Land B entfallen 42,3 %. In diesem Verhältnis teilt sich auch der Koordinierungsbetrag von 0,225 Mrd. auf.

Der Vorteil dieser Methode liegt in seiner leichten Nachvollziehbarkeit – einer Eigenschaft, die für die praktische Umsetzung nicht zu unterschätzen ist. Die Handhabbarkeit wird jedoch auch durch Nachteile erkauft, die zum einen auf das spezielle Beispiel zurückzuführen sind, zum anderen jedoch auch prinzipieller Natur sind. Das prinzipielle Problem ist, dass ein Koordinierungsbedarf immer entsteht, wenn die Indikatoren unterschiedliche Veränderungsraten aufweisen. Der Grund ist, dass unterschiedliche Veränderungsraten der Indikatoren zwangsläufig auch eine Veränderung der Gewichtung mit sich bringen. Im Speziellen ist zweierlei problematisch: zum einen, dass sich der angenommene »Eins-zu-eins-Zusammenhang« zwischen den Veränderungsraten von Indikator- und Zielgröße theoretisch nicht begründen und empirisch nicht nachweisen lässt. Tatsächlich lassen sich Argumente für eine Elastizität kleiner als eins besser begründen. Zum anderen kann man hinterfragen, warum der absolute Koordinierungsbetrag proportional zu den unkoordinierten Wertschöpfungsanteilen des Berichtsjahres aufgeteilt wird. Nun wäre all dies allein noch kein hinreichender Grund über alternative Methoden nachzudenken, jedoch sind die Konsequenzen mitunter durchaus erheblich.

Fortschreibung unter Berücksichtigung der Aggregationsrestriktion in der temporalen Variante – die BIP-Quartalsrechnung für Baden‑Württemberg

Welche Alternative zur hergebrachten Fortschreibungsmethode wäre denkbar? Ein Ansatzpunkt, der die Grundidee verdeutlicht, könnte sich aus der Methode zur unterjährigen BIP-Berechnung, wie sie das Statistische Landesamt Baden‑Württemberg für das eigene Land anwendet, ergeben. Auch hier ist man auf indikatorgestützte Berechnungen angewiesen. Die wirtschaftszweigspezifische Auswahl dieser Indikatoren lehnt sich im Wesentlichen an die des »Arbeitskreises Volkwirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder« an. Unterschiedlich ist dagegen die Vorgehensweise, wie mit deren Informationsgehalt umgegangen wird. Wenn ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen zwei quartalsweisen Größen (wie beispielsweise Umsatz und Bruttowertschöpfung) besteht, so besteht er auch zwischen den jährlichen Aggregaten, die beide bekannt sind und für die ausreichend lange Zeitreihen vorliegen, um den Zusammenhang durch zeitreihenökonometrische Schätzungen zu quantifizieren. Diese Schätzergebnisse auf Grundlage der Jahreswerte werden auf die quartalsweisen Indikatoren übertragen und so die Zielgröße Bruttowertschöpfung nach Quartalen approximiert. Da jede Schätzung mit Unsicherheit behaftet ist, werden sich die so ermittelten Quartalswerte höchstens zufällig zum vorgegebenen Jahreswert, dem »Eckwert«, addieren. Die nötige temporale Koordinierung erfolgt, indem die auf den jährlichen Schätzfehler anzuwendende Disaggregationsmatrix deren autokorrelierte Struktur berücksichtigt.

Die BIP-Quartalsrechnung für Baden‑Württemberg folgt damit hinsichtlich der Fortschreibung einem anderen methodischen Ansatz als der Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder. Insofern ist es einleuchtend, dass die fortgeschriebenen Quartalswerte mit den nach der herkömmlichen Methode fortgeschriebenen Halbjahres- bzw. Jahresergebnissen höchstens zufällig übereinstimmen können. Hinzu kommt, dass die BIP-Quartalsrechnung nicht auf den Bundeswert koordiniert werden muss, da es sich ja um eine isolierte Berechnung für das Land Baden‑Württemberg handelt und demzufolge eben keine Ländersumme berechnet werden kann. Solange es keine Quartalsrechnungen für alle Bundesländer gibt, besteht also keine Notwendigkeit der regionalen Koordinierung auf den vom Statistischen Bundesamt berechneten Quartalswert des Bundes, wohl aber die der temporalen Koordinierung auf den vom Arbeitskreis veröffentlichten Jahreswert des Landes.

Fortschreibung regionaler Daten und Koordinierung aus einem Guss – Grundzüge eines alternativen Ansatzes

Die BIP-Quartalsrechnung quantifiziert den Zusammenhang von Indikator- und Zielgröße mittels ökonometrischer Schätzung statt Postulierung. Der Schätzfehler wird mit einem modellendogen begründeten Verfahren auf die Quartale verteilt, um die Konsistenz von Quartalssumme und Jahreseckwert zu gewährleisten. Wie sähe nun eine regionale Variante der vorangegangenen Überlegungen aus? Die bereits genannte Definitionsgleichung der BWS als Differenz aus Produktionswert und Vorleistungen liefert die Grundlage für ein in Veränderungsraten formuliertes Modell, mittels dessen die regionale Fortschreibung vorgenommen werden könnte (schematische Darstellung in Übersicht 2).

Zu lösen bleibt das Problem der Aggregationsrestriktion. Ein Analogon zur hergebrachten Methode wäre, den Koordinierungsbetrag gemäß den Beiträgen an der unkoordinierten Veränderungsrate der Ländersumme aufzuteilen. Allerdings legt das Fortschreibungsverfahren eine andere Lösung nahe. Die Schätzung des linearen Regressionsmodells erfolgt ja, indem die Summe der Fehlerquadrate und damit die Varianz der Schätzfehler minimiert wird. Die empirische Evidenz zeigt jedoch, dass sich der Zusammenhang von Indikator- und Zielgröße nicht nur von Land zu Land und von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig hinsichtlich der geschätzten Parameter unterscheidet, sondern vor allem hinsichtlich der Fehlervarianzen. Mit anderen Worten, die Güte der Schätzungen sind für die einzelnen Länder mitunter deutlich verschieden. Hierin ist eine wesentliche Ursache dafür zu sehen, dass überhaupt ein Koordinierungsbedarf entsteht. Wenn dies aber so ist, wäre es ursachenadäquat, im Koordinierungsverfahren die eventuell unterschiedlichen Schätzgenauigkeiten zu berücksichtigen.

An einem hypothetischen Beispiel wird die Problematik deutlich. Angenommen, zwei regionale Einheiten wären identisch hinsichtlich Größe, Wirtschaftsstruktur und der geschätzten Modellparameter. Der Unterschied bestehe allein darin, dass die Varianz in einem Land wesentlich höher sei als in dem anderen. Wenn nun der Eckwert von der unkoordinierten Ländersumme abweicht, dürfte dies wesentlich auf das Land mit der ungenaueren Schätzung zurückzuführen sein. Statt nun den absoluten Koordinierungsbetrag den Ländern zu gleichen Teilen zuzuordnen (bzw. den gleichen Koordinierungsfaktor an die unkoordinierten Veränderungsraten anzulegen), leitet die alternative Methode den Koordinierungsfaktor aus einem Optimierungskalkül her, das, von den modelltheoretischen Überlegungen ausgehend, die Summe der länderspezifischen Likelihood-Funktionen minimiert. Im Ergebnis trägt das Land mit der höheren Varianz unter sonst gleichen Umständen die größere Koordinierungslast, wobei jedoch auch die unterschiedliche relative Größe der Länder, die die übergeordnete regionale Einheit bilden, Berücksichtigung findet. Neben den jeweiligen Fehlervarianzen werden also auch die unterschiedlichen Wachstumsbeiträge verschieden großer Länder einbezogen. Aus diesem Grund ist sogar denkbar, dass der Koordinierungsbetrag eines kleinen Landes mit großer Fehlervarianz geringer ist als bei der herkömmlichen Methode.

Eurostats Unbehagen und Ockhams Rasiermesser

Auch Eurostat hat sich Gedanken gemacht, wie die Regionalisierung volkswirtschaftlicher Aggregate vorgenommen werden kann. Die indikatorgestützte Koordinierung nach herkömmlicher Methode, wie in Übersicht 1 schematisch dargestellt, wird von Eurostat in einer methodischen Handreichung zur regionalen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen dargelegt als ein Verfahren, das »üblicherweise« verwendet wird.1 Man liest allerdings das Unbehagen der Autoren deutlich heraus, wenn diesbezüglich von einem »pragmatischen Ansatz« die Rede ist, der »nicht immer angemessen« sei und demzufolge »andere Lösungen stets erwogen werden sollten«. Etwas weiter ist sogar davon die Rede, dass weniger zuverlässigen Schätzungen eine größere Anpassungslast aufgebürdet werden könne. Dieser Gedanke wird jedoch verworfen, da befürchtet wird, dass die vergleichsweise unzuverlässigeren Schätzungen tendenziell kleinere Regionen betreffen (was zutreffen kann) und diese dann auch einen größeren Anpassungsbetrag zu tragen hätten (was nicht unbedingt zutrifft).

Das beschriebene herkömmliche Regionalisierungsverfahren wird nicht durchgängig angewandt. Die Datenverfügbarkeit lässt für viele Wirtschaftsbereiche, gerade im Dienstleistungssektor, lediglich eine sogenannte Top-down-Regionalisierung zu, die den nationalen Wert unmittelbar mit regionalen Schlüsselgrößen auf die untergeordneten regionalen Einheiten verteilt. Die Koordinierungsproblematik stellt sich unter diesen Umständen nicht. Auch hier wäre jedoch denkbar, den postulierten Zusammenhang zwischen Schlüssel- und zu schlüsselnder Größe zu schätzen und die Residuen mit regionalökonometrischen Verfahren aufzuteilen.

Eine theoretisch begründete Herleitung einer Alternative ist für sich genommen sicherlich noch kein hinreichender Grund, um einem bewährten »pragmatischen Ansatz« zu verwerfen. Es ist stets zu fragen, ob der zusätzliche Aufwand durch den möglichen Erkenntnisgewinn aufgewogen wird. Es zeigt sich jedoch angesichts der empirischen Evidenzen in den regionalen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, dass sich weitergehende Überlegungen lohnen dürften, zumal ein solcher Ansatz auch in anderen Bereichen der amtlichen Statistik Anwendung finden könnte, wo es um Fortschreibung und Regionalisierung von Daten geht.