:: 8/2015

Statistik zur Kindeswohlgefährdung ein Jahr nach der Einführung

Am 1. Januar 2012 trat das neue Kinderschutzgesetz1 in Kraft, mit dem nicht zuletzt in der Folge einiger besonders gravierender Fälle von Kindeswohlgefährdung der Schutz von Kindern deutlich verbessert werden sollte. Zentrale Neuregelung des Gesetzes war die Neufassung des § 8a des Achten Buches Sozialgesetzbuch »Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung«. Außerdem wurde in § 98 Abs. 1 Nr. 13 SGB VIII eine neue Statistik zur Kindeswohlgefährdung angeordnet, um eine bessere Datengrundlage für einen aktiven Kinderschutz zu gewährleisten. Nach der erstmaligen Durchführung der Statistik 2012 erweisen sich die Ergebnisse 2013 für Baden‑Württemberg vergleichsweise stabil. Insgesamt wurden im Jahr 2013 fast 10 000 Verfahren zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung in Baden‑Württemberg durchgeführt.

Wie gehen Jugendämter bei Gefährdungseinschätzungen vor?

Durch die Neufassung des § 8a SGB VIII wurde der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe gestärkt.2 Werden einem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, ist es nach § 8a SGB VIII seine Aufgabe, das Gefährdungsrisiko für diesen jungen Menschen einzuschätzen. Die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes haben sich dabei einen unmittelbaren Eindruck vom betroffenen Kind oder Jugendlichen und seiner persönlichen Umgebung zu machen. Dies kann zum Beispiel durch einen Hausbesuch3, den Besuch der Kindertageseinrichtung oder Schule oder die Einbestellung der Eltern ins Jugendamt geschehen. Die Einschätzung des Gefährdungsrisikos erfolgt schließlich im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte. Ergebnis der Gefährdungseinschätzung kann sein:

  • Akute Kindeswohlgefährdung: In diesen Fällen ist eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes oder Jugendlichen bereits eingetreten oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten.
  • Latente Kindeswohlgefährdung: Dabei kann die Frage nach der tatsächlich bestehenden Gefahr nicht eindeutig beantwortet werden. Es besteht jedoch weiterhin der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung bzw. eine solche kann nicht ausgeschlossen werden.
  • Keine Kindeswohlgefährdung, aber Hilfe- oder Unterstützungsbedarf.
  • Keine Kindeswohlgefährdung und auch kein Hilfe- oder Unterstützungsbedarf.

Das Jugendamt bezieht bei der Einschätzung des Gefährdungsrisikos die Erziehungsberechtigten sowie das Kind mit ein. Sollte allerdings dadurch der wirksame Schutz des betroffenen Kindes oder Jugendlichen in Frage gestellt werden, führt das Jugendamt die Gefährdungseinschätzung ohne diese Beteiligung durch. In diesen Fällen wird häufig eine Anrufung des Familiengerichts notwendig.

Wenn es zur Abwendung der Gefährdung für geeignet und notwendig erachtet wird, Hilfen zu gewähren, so muss das Jugendamt diese den Erziehungsberechtigten anbieten. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich hält. Dann hat es das Gericht anzurufen. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.

Gefährdungseinschätzungen in der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik

Über die Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII führt das Statistische Landesamt Baden‑Württemberg seit dem Jahr 2012 bei den Jugendämtern jährlich eine Totalerhebung durch. Mit der Befragung sollen umfassende und zuverlässige statistische Daten über die Wahrnehmung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung, über die Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie über die eingeleiteten Hilfen im Falle einer Kindeswohlgefährdung bereitgestellt werden.

Die Ergebnisse dienen der Planung im örtlichen und überörtlichen Bereich. Sie ermöglichen es, die Auswirkungen des § 8a SGB VIII für einen wirksamen Kinderschutz durch die Kinder- und Jugendhilfe zu beobachten. Auch zur Beantwortung von aktuellen jugend- und familienpolitischen Fragestellungen und zur Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts werden die Daten herangezogen.4

Knapp 10 000 Verfahren zur Gefährdungseinschätzung in Baden‑Württemberg

Im Jahr 2013 wurde in Baden‑Württemberg für 9 861 Kinder und Jugendliche ein Verfahren zur Gefährdungseinschätzung nach § 8a Abs. 1 SGB VIII vorgenommen. Das entspricht einer Steigerung von 231 Verfahren (+ 2,4 %) im Vergleich zu 2012. Bei 1 361 Gefährdungseinschätzungen, das sind knapp 14 % aller Verfahren, wurde eine akute Gefährdungssituation ermittelt. Dabei gab es für 807 jungen Menschen Anzeichen für Vernachlässigung, bei weiteren 427 Kindern und Jugendlichen Anzeichen für körperliche und bei 406 für psychische Misshandlung. Hinweise auf sexuelle Gewalt wurden bei 94 Kindern und Jugendlichen festgestellt.5 Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Hinweise auf psychische Misshandlung um 8 %, dagegen sank die Zahl der Fälle mit Anzeichen für Vernachlässigung um nahezu die gleiche Prozentzahl.

In 1 782 Fällen (18 %) lag eine sogenannte latente Kindeswohlgefährdung vor. Bei 3 485 Gefährdungseinschätzungen (35 %) ergab sich zwar keine Kindeswohlgefährdung, wohl aber ein anderweitiger Unterstützungsbedarf. Bei 33 % der Gefährdungseinschätzungen (3 233 Verfahren) wurden keine Gefährdung und kein weiterer Hilfebedarf ermittelt. Im Jahr 2012 lag der Anteil der akuten (16 %) sowie latenten (20 %) Kindeswohlgefährdungen etwas höher als bei der Erhebung 2013.

Mädchen und Jungen sind gleichermaßen betroffen

Insgesamt betrafen die Gefährdungseinschätzungen fast ebenso viele Mädchen (4 920) wie Jungen (4 941). Während allerdings in den Altersgruppen mit Kindern unter 10 Jahren stets für etwas mehr Jungen als Mädchen Gefährdungseinschätzungen vorgenommen werden mussten, war dies bei den Jugendlichen im Alter von 14 bis unter 18 Jahren umgekehrt. Hier waren mit 808 Fällen deutlich mehr Mädchen betroffen als Jungen (608 Fälle).

Bei jüngeren Kindern werden relativ mehr Gefährdungseinschätzungen durchgeführt

Im Durchschnitt kamen in Baden‑Württemberg auf 10 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren 54 Gefährdungseinschätzungen. Je niedriger jedoch das Alter der Kinder und Jugendlichen ist, umso höher liegt diese Quote. Bei den Kindern, die das 1. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wurde für 98 von 10 000 Kindern eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen, bei Kindern im Alter von 1 oder 2 Jahren waren es 76 von 10 000 Kindern. Mit steigendem Alter nahm die Quote weiter ab und lag in der Altersgruppe der 14- bis unter 18-Jähri­gen noch bei 30 von 10 000.

Bei den jüngsten und jüngeren Kindern wurde überwiegend Vernachlässigung als Art der Kindeswohlgefährdung festgestellt. Etwa ab einem Alter von 10 Jahren lagen körperliche und psychische Misshandlung genauso oft wie Vernachlässigung vor. Sexueller Gewalt waren insbesondere Kinder im Alter von 5 bis 15 Jahren ausgesetzt. Die Art der Kindeswohlgefährdung ist immer dann anzugeben, wenn die Gesamtbewertung der Gefährdungseinschätzung eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung ergeben hat. Hierbei sind Mehrfachnennungen möglich.

Kinder, die bei Alleinerziehenden leben, sind vergleichsweise häufig betroffen

Zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzungen hielten sich 4 351 der betroffenen Minderjährigen (44 %) bei den Eltern auf. In 3 718 (38 %) der erfassten Fälle befand sich der/die Minderjährige bei einem alleinerziehenden Elternteil. In Baden‑Württemberg leben allerdings nur etwa 13 % aller Kinder unter 18 Jahren bei der alleinerziehenden Mutter oder dem alleinerziehenden Vater.6 Bei Alleinerziehenden-Familien wurden also vergleichsweise häufig Verfahren zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung durchgeführt. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Lebenslage »Alleinerziehend« unter bestimmten Umständen das Aufwachsen und die Erziehung von Kindern und Jugendlichen in besonderer Weise belasten und erschweren kann. Darüber hinaus könnte möglicherweise die Sensibilität für potenzielle Kindeswohlgefährdungen bei Alleinerziehenden besonders ausgeprägt sein.7

Vielfältige Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung

Hinweise auf mögliche Gefährdungen kommen von verschiedensten Personen und Institutionen. So wurde zum Beispiel in 1 860 aller Fälle (19 %) das Jugendamt von der Polizei, Gerichten oder der Staatsanwaltschaft über die mögliche Gefährdung informiert. Dabei stieg der Anteil an Meldungen, die durch diese Institutionen bekannt gemacht wurden, um 2-Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. In weiteren 1 561 Fällen (16 %) informierten Nachbarn oder Bekannte des betroffenen Kindes oder Jugendlichen das Jugendamt. In 9 % der Fälle kam der Hinweis von anonymen Meldern (880), in jeweils 8 % aus Schulen (818), von Eltern oder Personensorgeberechtigten (765) sowie den sozialen Diensten bzw. Jugendämtern selbst (770). Rund 7 % der Fälle gehen auf Meldungen von Verwandten (684) zurück und jeweils 5 % auf den medizinischen Bereich, beispielsweise Hebammen, Ärzte, Kliniken oder Gesundheitsämter (526), Sonstige (483) und Kindertageseinrichtungen oder Kindertagespflegepersonen (477). In 2 % (212) der Fälle informierte der/die betroffene Minderjährige das Jugendamt selbst.

Betrachtet man allerdings nur die Verfahren mit dem Ergebnis einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung, so zeigt sich, dass hier der Anteil der Nachbarn und Bekannten mit knapp 9 % deutlich niedriger lag als bei den Verfahren insgesamt, während der Anteil der Sozialen Dienste bzw. Jugendämter in diesen Fällen deutlich höher ausfiel (12 % gegenüber 8 % bei den Verfahren insgesamt).

Wie geht es nach der Gefährdungseinschätzung weiter?

Als Ergebnis der Gefährdungseinschätzungen wurden zahlreiche Hilfen neu eingerichtet. Dabei können für ein Kind auch mehrere Hilfen in Frage kommen. In 1 756 Fällen wurden ambulante oder teilstationäre Hilfen zur Erziehung neu eingerichtet (2012 waren es noch 2 006 Fälle). Leistungen zur allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie, Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung oder Scheidung sowie Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge und des Umgangsrechts (§§ 16 bis 18 SGB VIII) wurde als Folge von 1 234 Gefährdungseinschätzungen gewährt. Hier hat sich eine deutliche Erhöhung zum Vorjahr (1 133) ergeben. 517 Kinder oder Jugendliche wurden im Rahmen vorläufiger Schutzmaßnahmen in Obhut genommen. Das sind 5 % mehr als im Jahr 2012 (492). In 374 Fällen wurden familienersetzende Hilfen zur Erziehung (§§ 27, 33 – 35 SGB VIII) eingeleitet, in weiteren 374 Fällen Erziehungsberatung nach § 28 SGB VIII.

In 800 Fällen hielten die Jugendämter das Tätigwerden eines Familiengerichtes für erforderlich. Hierbei lässt sich zum Vorjahr (952) eine deutliche Abnahme beobachten. Notwendig wird dies dann, wenn die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, die Gefahr für das Kind abzuwenden, indem sie zum Beispiel angebotene Hilfen ablehnen. Wenn die Gefährdung nicht ohne Eingriff in das elterliche Sorgerecht abgewendet werden kann, wird eine Anrufung des Familiengerichts notwendig.

Gefährdungseinschätzungen im Ländervergleich

Insgesamt wurden im Jahr 2013 in Deutschland 115 687 Verfahren zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung durchgeführt. Das entspricht einer Quote von 89 Verfahren pro 10 000 der unter 18-Jährigen. Demnach waren bundesweit weniger als 1 % der Minderjährigen von einem solchen Verfahren betroffen. Zwischen den Bundesländern gab es jedoch erhebliche regionale Unterschiede. Die Quote schwankte zwischen 52 Verfahren pro 10 000 Minderjährigen in Niedersachsen und 233 in Bremen. In Baden‑Württemberg war die Quote mit 54 Verfahren pro 10 000 Minderjährigen vergleichsweise niedrig.

Ein Blick in die Kreise Baden‑Württembergs

Auch innerhalb von Baden‑Württemberg gibt es deutliche regionale Unterschiede. Während im Landkreis Lörrach nur knapp 7 Verfahren je 10 000 Kinder durchgeführt wurden, waren es im Stadtkreis Mannheim 175 Verfahren je 10 000 Kinder. Insgesamt wiesen unter den 44 Stadt- und Landkreisen 16 Kreise eine entsprechende Quote oberhalb des Landesdurchschnitts auf. Dazu gehörten mit Ausnahme der Stadt Freiburg im Breisgau alle übrigen acht Stadtkreise. Insbesondere in den Stadtkreisen Mannheim (175), Heilbronn (173) und Pforzheim (166) wurden deutlich mehr Verfahren zur Kindeswohlgefährdung durch geführt als im Landesdurchschnitt. Vergleichsweise niedrige Quoten ergaben sich in den acht Landkreisen mit weniger als 20 Verfahren je 10 000 Kinder und Jugendliche.

Der unterschiedlichen Zahl an Gefährdungseinschätzungen in den Kreisen können vielfältige Ursachen zugrunde liegen. So können Unterschiede in der Sozialstruktur, in der Arbeitsweise der Sozialen Dienste, aber auch die unterschiedliche Vernetzung von Agenturen des Bildungs-, Sozial-, und Gesundheitswesens Einfluss auf die Häufigkeit von Gefährdungseinschätzungen haben. Außerdem lässt sich vermuten, dass besonders gravierende Fälle von Kindeswohlgefährdung, die auch von der Presse aufgegriffen wurden, die Sensibilität im Kreis und damit die Zahl der Gefährdungseinschätzungen möglicherweise erhöhen. Auch durch Familien, die mehrfach in einem Jahr auffällig werden, könnte die Zahl an Gefährdungseinschätzungen in den betroffenen Kreisen steigen.