:: 8/2015

Die amtlichen Landesbeschreibungen des Königreichs Württemberg

Am 26. März 1821 wurde vom württembergischen Finanzdepartement per Dekret verkündet, dass »das Statistisch-Topographische Bureau die Bestimmung habe, eine genaue und vollständige Landes-, Volks- und Ortskunde von Württemberg zu liefern und die in jedem Jahre sich ergebenden Veränderungen sorgfältig zu sammeln, sodass jede Regierungsbehörde und jeder Württemberger fortdauernd eine richtige und umfassende Kenntnis von dem Zustand und den Verhältnissen des Vaterlandes sich zu verschaffen Gelegenheit habe«. Eine der wichtigsten Publikationen, die aufgrund dieser Verordnung im Verlauf der nächsten hundert Jahre in immer neuen Ausgaben erstellt wurde, war die Landesbeschreibung des Königreichs Württemberg.

Der geistige Vater

Das Dekret des württembergischen Finanzdepartements vom 26. März 1821 regelte die Aufgabenstellung des neu geschaffenen Statistisch-Topographischen Bureaus. Sein erster wissenschaftlicher Leiter wurde Johann Daniel Georg Memminger. Dieser stammte aus einer Handwerkerfamilie, sein Vater war Schuhmacher-Obermeister in Tübingen. Als Schüler besuchte er die Lateinschule in Tübingen und wurde auf Fürsprache seiner Lehrer in das Gymnasium in Stuttgart und danach in die Klosterschule Maulbronn aufgenommen. 1792 begann Memminger im Evangelischen Stift in Tübingen mit einem breit angelegten Studium. Nach seinem Magisterabschluss 1796 erhielt er 1798 eine Lehrerstelle an der Lateinschule in Cannstatt. Memmingers Interesse galt bereits damals der Statistik im Sinne einer umfassenden Staatskunde. Memminger wurde 1822 als wissenschaftlicher Leiter des Statistisch-Topographischen Bureaus berufen. Diese Aufgabe versah er bis zu seinem Tod 1840.

Bereits 1820 – vor der Gründung dieser Behörde – veröffentlichte er privat die »Beschreibung oder Geographie und Statistik von Württemberg«. Sie gilt heute als die erste Landesbeschreibung des Königreichs Württemberg. 1823 wurde dieses Werk – um einige Kapitel ergänzt – neu herausgegeben. Darüber hinaus fielen in seine Amtszeit die Publikationen der Oberamtsbeschreibungen von Reutlingen, Münsingen, Ehingen, Riedlingen, Rottenburg, Saulgau, Blaubeuren, Urach, Cannstatt, Waldsee, Ulm, Ravensburg, Biberach und Tettnang. Weiterhin gab er auch die ersten Jahrbücher für Statistik und Landeskunde heraus. Memminger kann aufgrund seiner sehr erfolgreichen Schaffensperiode in der Frühzeit der württembergischen amtlichen Statistik als der eigentliche Schöpfer der württembergischen Landesbeschreibungen bezeichnet werden.

Ein Werk mit immer besseren Ausgaben

Nach Memmingers Tod gab das Statistisch-Topographische Bureau eine weitere Auflage seiner Landesbeschreibung zum Regierungsjubiläum König Wilhelms 1841 heraus. Weniger eine neue Ausgabe als ein neues und selbstständiges Werk war die im Jahr 1863 vom ­Bureau herausgegebene Landesbeschreibung »Das Königreich Württemberg«. Zu Beginn der 1880er-Jahre entschloss man sich zu einer nochmaligen Neubearbeitung der Landesbeschreibung, da die bisher erschienenen Ausgaben nicht mehr den Bedürfnissen des beginnenden Industriezeitalters entsprachen und auch die Wissenschaften einen bedeutenden Fortschritt gemacht hatten. Diese neu aufbereitete Landesbeschreibung erschien in vier Bänden – zwei ganze und zwei Halbbände – in den Jahren 1882 bis 1886 und ist eine im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen um wesentliche Komponenten erweiterte Neubearbeitung mit insgesamt 2 736 Seiten. Das Gesamtwerk ist untergliedert in fünf Bücher: Geschichtliche Einleitung und Altertümer, Land und Natur, Volk, Staat, Bezirks- und Ortsbeschreibung. Erstmals enthält diese Landesbeschreibung auch reichhaltige Literaturangaben. Paul Stälin, der Verfasser des historischen Teils, legte besonderen Wert auf eine Darstellung der inneren Zustände des Königreichs und führte die geschichtliche Darstellung bis zur damaligen Gegenwart weiter.1

  • Das erste Buch »Geschichtliche Einleitung und Altertümer« der 1882er-Ausgabe ist chronologisch aufgebaut. Es beginnt in der Urzeit, geht über die römischen Herrschaftsverhältnisse hin zu den Alemannen im fränkischen Reich. Der Abschnitt endet mit der Geschichte des Herzogtums Schwaben und dem Untergang der staufischen Dynastie. Im mittleren und umfangreichsten Abschnitt des ersten Buches wird das Haus Württemberg dargestellt. Es beginnt mit den Ursprüngen des Hauses Württemberg, schildert die Regierungszeit der württembergischen Grafen und Herzöge und schließt mit der Regierungszeit von Herzog Friedrich II. Besonders eingegangen wird auf die politischen Verhältnisse, die Verfassung und Verwaltung sowie die kirchlich­religiösen Verhältnisse während der Regentschaft der württembergischen Herzöge. Die geschichtliche Einleitung endet mit einem kurzen Abriss der Regierungszeit der würt­tembergischen Könige in der Zeit zwischen 1806 und 1871.Anschließend werden die sogenannten Altertümer des Königreichs Württemberg vorgestellt. Die Bezeichnung Altertümer bezieht sich hier allgemein auf Zeugnisse der Kulturgeschichte aus historischen Epochen des Landes Württemberg. Von keltischen Grabhügeln über Bauwerke aus der römischen Zeit bis hin zu erhaltenen Kulturdenkmälern aus der alemannisch-fränkischen Zeit wird alles mit großer Akribie aufgeführt. Ein besonderer Abschnitt ist den römischen Inschriften und Bildwerken gewidmet, die in tiefer regionaler Differenzierung aufgelistet werden. Ein zusätzlicher Anhang beschreibt die neuwürttembergischen Erwerbungen nach Friedensschlüssen und Verträgen, durch die das Königreich Württemberg sein Staatsgebiet beträchtlich erweitern konnte. Die klassischen Disziplinen der Geschichtswissenschaften werden in diesem Buch vorbildlich erfüllt, indem die Themenfelder Aspekte fürstlicher Herrschaft, Gewerbe- und Agrarlandschaften, Verwaltung und Bürokratisierung, Konfessionalisierung und soziale Gruppierungen unter Verwendung des damaligen Historikerverständnisses analysiert werden, ohne Hofberichterstattung zu betreiben. Das erste Buch wird abgerundet durch einige kartografische Darstellungen und Tabellen.
  • Im zweiten Buch »Land und Natur« werden geowissenschaftliche Besonderheiten des Königreichs Württemberg aufgezeigt. Begonnen wird mit der Lage des Landes und seiner flächenmäßigen Größe. Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit den höchsten Erhebungen, den Gewässern und Flüssen. Breiten Raum nimmt die Darstellung des Klimas in Württemberg ein. Vielfältige Tabellen mit meteorologischen Aufzeichnungen runden dieses Kapitel ab. Es folgt eine Beschreibung der einzelnen Naturräume, wobei hier unterschieden wird zwischen dem Schwarzwald, der Alb, dem Neckar- und dem Tauberland sowie der oberschwäbischen Landschaft. In einem weiteren Abschnitt wird die erdgeschichtliche Entwicklung des Landes beschrieben. Das Buch endet mit einer umfangreichen Beschreibung und Auflistung des württembergischen Tier- und Pflanzenreichs. Wissenschaftlich sind die in diesem Buch enthaltenen Beiträge auf der Höhe ihrer Zeit, erreichen oftmals sogar den Stand der Naturwissenschaften, die sich dieser Zeit zu etablieren begannen.
  • Das dritte Buch »Das Volk« beginnt mit kurzen anthropologischen Abhandlungen zur Abstammung und körperlichen Beschaffenheit der Württemberger. Es folgt eine Skizzierung der Lebensweisen und Sitten. Auch ein klassisches Thema der Volkskunde, die Sagen aus Württemberg, wird in diesem Abschnitt dargestellt. Nach einem linguistischen Exkurs zu den einzelnen Mundarten der Württemberger wird der erste Abschnitt beendet mit recht unterschiedlichen Beiträgen zur Kulturstatistik.Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der württembergischen Bevölkerungsstatistik. Von der Methodenlehre über die Bevölkerungsdichte, die Geburten, die Sterbefälle und die Eheschließungen bis hin zur Wanderungsstatistik werden hier alle Aspekte der württembergischen Bevölkerungsstatistik analysiert. Im dritten und zugleich letzten Abschnitt dieses Buches werden in unterschiedlicher Breite die anderen damals durchgeführten amtlichen Statistiken vorgestellt. Informationen über Land- und Forstwirtschaft, Bergbau, Gewerbe und Handel, Industrie und Verkehrsmittel unterrichten den Leser über den ermittelten Zustand des Königreichs.
  • Im vierten Buch »Der Staat« werden klassische kameralistische Themen zum Königreich Württemberg vorgestellt. Das Staatsgebiet, die Verfassung, die Gesetzgebung und die Verwaltung, der König und das Königliche Haus, die Landstände, die Staatsdiener und die Staatsbehörden, der Staatshaushalt, die Gemeinden und Amtskörperschaften, Staat und Kirche sowie Staat und Schule werden hier jeweils in einem Kapitel beschrieben. Das Buch endet mit einem Anhang, in dem in einer kurzen Abhandlung die Beziehungen des Königreichs Württemberg zum Deutschen Reich aufgezeigt werden.
  • Das Gesamtwerk wird abgeschlossen durch das fünfte Buch »Bezirks- und Ortsbeschreibung«. Systematische Zusammenstellungen kennzeichnen diesen Teil des Gesamtwerks. Die Bezirksbeschreibung nennt und behandelt erstmals alle Siedlungen eines Oberamtes. Die einzelnen Gemeinden erscheinen entsprechend dem lexigrafischen Grundcharakter in alphabetischer Reihenfolge. Das Werk gewinnt durch diese umfassende Darstellung, war doch in der Ausgabe von 1863 nur eine Aufgliederung der Landschaften angelistet und behandelt worden.
  • Eine späte Blüte erlebten die Landesbeschreibungen in Württemberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einigen – wenn auch nicht so umfangreichen – Neuausgaben. Besonders hervorzuheben ist die Edition des Jahres 1903, denn sie zeichnet sich durch eine sehr gelungene bibliophile Gestaltung aus.

und die anderen Länder …

Nicht nur das Statistisch-Topographische ­Bureau im Königreich Württemberg gab im 19. Jahrhundert Landesbeschreibungen heraus. Auch in Baden veröffentlichten Privatpersonen bereits mehrere Landesdarstellungen, bevor im Jahre 1885 die erste halbamtliche Landesbeschreibung herausgegeben wurde. Diesem Werk ist neben einem umfangreichen allgemeinen Teil ein alphabetisches Wohnplatzverzeichnis beigegeben, in dem geografische, statistische und geschichtliche Angaben über die einzelnen Orte zu finden sind. Obwohl das Werk einen privaten Herausgeber hat, ist davon auszugehen, dass das Badische Statistische Landesamt auf Grund der Vielzahl der statistischen Angaben an dieser Edition beteiligt war.

Auch das Statistische Bureau des Ministeriums für Elsass-Lothringen veröffentlichte in der Zeit zwischen 1898 und 1903 eine dreibändige Landesbeschreibung unter dem Titel »Das Reichsland Elsass-Lothringen«. Die neben der württembergischen Landesbeschreibung wohl umfangreichste Darstellung erfolgte im Nachbarland Bayern. Hier gab einer der bedeutendsten Volkskundler des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Heinrich Riehl, die fünfbändige »Bavaria« heraus, deren Schwerpunkt aber mehr im volkskundlichen Bereich liegt.2

Alle Landesbeschreibungen des 19. Jahrhunderts hatten ein gemeinsames Ziel, den Bewohnern und Mitarbeitern der Behörden fundiertes Wissen über ihr jeweiliges Vaterland zu vermitteln. Insofern waren sie für viele damals lebende Menschen ein Mittel der Emanzipation.

1 150 Jahre Amtliche Statistik in Baden‑Württemberg, Stuttgart 1970, S. 265 ff.

2 150 Jahre Amtliche Statistik in Baden‑Württemberg, Stuttgart 1970, S. 267.