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Kinderrechte: Probleme ihrer Umsetzung

Bericht zu der Jahrestagung des Deutschen Jugendinstituts 2018

Vor 30 Jahren haben sich 196 Staaten verpflichtet, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als Träger eigener Rechte anzuerkennen. Die UN-Kinderrechtskonvention gilt als Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte. Die derzeitige Koalition aus CDU, CSU und SPD will die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. Dabei zeigt sich, Kinderrechte zu beschließen ist ein erster Schritt. Schwieriger ist es jedoch, sie tatsächlich umzusetzen und deren Verwirklichung wissenschaftlich zu überprüfen. Zwei Probleme treten hervor: Die Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung können in einem Spannungsverhältnis stehen, zum einen zueinander und zum anderen im Wettstreit mit den Rechten und Interessen anderer. Ein Grund dafür ist die rechtliche wie wissenschaftliche prinzipielle Offenheit und damit Mehrdeutigkeit im Begriff »Wohl des Kindes«.

Eine kurze Geschichte der Kinderrechte

Auf die Frage des alten Mr. Brownlow, ob er nicht gern Schriftsteller werden würde, überlegte Oliver »ein Weilchen und antwortete schließlich, ihm erschiene es viel besser, Buchhändler zu werden, worüber der alte Herr von Herzen lachte und erklärte, da habe er was sehr Gutes gesagt«.1 Hans Bertram (Humboldt-Universität, Berlin) stellte dieses Gespräch aus dem Roman »Oliver Twist« des englischen Schriftstellers Charles Dickens an den Anfang seines Eröffnungsvortrages auf der Jahrestagung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) Mitte November 2018 in Berlin zum Thema Kinderrechte und Probleme ihrer Umsetzung.2 Nach Bertram beschreibt Dickens in seinem Roman »zentrale Elemente der kindlichen Entwicklung und der kindlichen Rechte«. In dem Konflikt zwischen dem Hehler Fagan, der Oliver gegen seinen Willen zum Taschendieb ausbilden möchte, und dem alten Herrn Brownlow, der dem Jungen helfen will, zeigt sich nach Bertram das Problem bei der Umsetzung der Kinderrechte: »Ausschließlich Herr Brownlow ist bereit, Oliver das Recht zuzugestehen, selbst über seine Zukunft und damit auch über die eigene Bildung und die eigene Entwicklung mitzuentscheiden«.3

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es ungewöhnlich, dass ein Kind seine Wünsche äußerte und von einem Erwachsenen ernst genommen wurde. Die meisten Kinder, zumal aus der sozialen Schicht, in der Oliver lebte, der im Armenhaus zur Welt kam und dessen Mutter unmittelbar nach seiner Geburt verstarb, mussten von klein auf in Familie und Landwirtschaft mit anpacken oder zunehmend in Fabriken und Gruben arbeiten. Häufig wurden die Kinder von zuhause weggeschickt, um in der Fremde Geld zu verdienen. Ging es doch einmal um Schule und Ausbildung, zählte der Wille des Kindes selten. Es war in seinem Lebensweg ausschließlich von den Wünschen der Eltern abhängig und musste sich dem Familienoberhaupt bedingungslos unterordnen.4

Die Vorstellung, dass ein Kind eine Persönlichkeit und Träger eigener Rechte sei, dessen Bedürfnisse und Wille in der Erziehung zu respektieren seien, um es in die Lage zu versetzen, autonom über die Art seiner Lebensgestaltung zu entscheiden, war zu dieser Zeit relativ neu. Seitdem sind 200 Jahre vergangen. In dieser Zeit wurde die Kinderarbeit verboten, die Schulpflicht eingeführt, wandelte sich die staatliche Nothilfe zum Kinderschutz; in Deutschland durch das erste Jugendwohlfahrtsgesetz, das 1924 in Kraft trat. International entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Initiativen und Organisationen, die sich für die Anerkennung der Rechte der Kinder einsetzen. Zu nennen ist beispielsweise die englische Grundschullehrerin Eglantyne Jebb. Sie gründete das britische Komitee Save the Children.5 Ihr Fünf-Punkte-Programm, Children’s Charta, enthielt grundlegende Rechte der Kinder, und wurde, bekannt als Genfer Erklärung, am 26. September 1924 von der Generalversammlung des Völkerbundes verabschiedet. Bertram nannte in seinem Vortrag Eleanor Roosevelt. Als einflussreiche Frau des amerikanischen Präsidenten setzte sie sich für die Lebens- und Bildungsbedingungen der Kinder ein. Sie versuchte, die Kinder und Jugendlichen selbst an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Während der Amtszeit ihres Mannes erhielt sie rund 200 000 Briefe von Kindern und Jugendlichen. Nach dem zweiten Weltkrieg verabschiedete die UN 1948 die Erklärung der Menschenrechte, die in den Artikeln 16 und 25 Kinderrechte als Menschenrechte anerkennt: der Anspruch der Familie auf Schutz durch Gesellschaft und Staat sowie der Anspruch der Kinder auf Bildung, besondere Fürsorge, Unterstützung und sozialen Schutz. In Deutschland sind die Kinderrechte als Menschenrechte mit dem Grundgesetz (GG) von 1949 rechtsverbindlich. Sie lassen sich unter anderem ableiten aus den Grundrechten: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 GG), das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG) und der Schutz der Familie (Art. 6 GG); dabei bleiben Kinder als eigenständige Rechtssubjekte jedoch unerwähnt.

Am 20. November 1989 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen fast einstimmig die UN-Kinderrechtskonvention (Convention on the Rights of the Child, CRC). Deutschland ratifizierte sie 2010 uneingeschränkt.6 Sie gilt als ein Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte: 196 Staaten erkennen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als Träger eigener Rechte an. Bei allen privaten und öffentlichen Handlungen, die Kinder betreffen, soll das Wohl des Kindes (the best interests of the child) vorrangig berücksichtigt (primary consideration) werden. Zudem hat jedes Kind ein Recht auf Förderung (promotion), Beteiligung (participation) und Schutz (protection). Die Staaten haben sich verpflichtet, alle 5 Jahre dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zu berichten, und zwar erstens: Über die Maßnahmen, die sie getroffen haben, um die Kinderrechte zu verwirklichen, zweitens: Über die Fortschritte ihrer Verwirklichung und drittens: Über bestehende Schwierigkeiten bei der Verwirklichung.

Damit sind Kinderrechte nicht länger allein dem Nationalstaat anvertraut. Ihre Einhaltung und die Verstöße sind erst durch die Konvention feststellbar geworden. Daran müssen sich die Staaten heute messen lassen.

Kinderrechte: Jetzt wird´s ernst!

Die Anerkennung, dass Kinder eigene Rechte haben, mag zwar weltweit wachsen, aber die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Kinder sind oft ernüchternd. Auch in Deutschland wachsen Kinder in Armut auf. Sie werden vernachlässigt und misshandelt, nicht ausreichend gefördert oder angehört . So zeigt sich, Kinderrechte zu beschließen ist ein erster Schritt. Schwieriger ist es jedoch, so Thomas Rauschenbach (Direktor des DJI, München) bei seiner Begrüßung, sie tatsächlich umzusetzen. Doch wie der Titel der Tagung »Kinderrechte: Jetzt wird´s ernst!« es regelrecht heraus- und vielleicht auch herbeiruft, kommt in Deutschland Bewegung in die praktische Umsetzung der Kinderrechte. Ausgelöst wurde dies vor allem durch den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom Februar 2018. Die drei Parteien haben vereinbart, dass die »Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankert« werden. Bis spätesten Ende 2019 soll ein Vorschlag für ein Kindergrundrecht vorliegen.7 Darüber hinaus soll die künftige Reform des Sozialgesetzbuchs (SGB) VIII die Kinder- und Jugendhilfe weiterentwickeln, den Kinderschutz verbessern und die Familien unterstützen.8

Kinderrechte und ihre Umsetzung sind in Politik und Recht zunehmend bedeutsam, aber ihre konkrete Bedeutung gewinnen sie in der täglichen Praxis der Kindertageseinrichtungen und Schulen, bei Gericht und im Jugendamt, vor Ort in den Kommunen, Vereinen, Verbänden sowie in den Familien und schließlich in den sozialen Medien. Die Diskussionen, wie sich Kinderrechte im Alltag umsetzen ließen und wie deren Verwirklichung wissenschaftlich überprüft werden könnte, bildeten dann auch den roten Faden in neun Foren und auf dem Podium. Dabei traten zwei Probleme hervor. Die Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung können in einem Spannungsverhältnis stehen, zum einen zueinander und zum anderen im Wettstreit mit den Rechten und Interessen anderer. Ein Grund dafür ist die rechtliche wie wissenschaftliche prinzipielle Offenheit und damit Mehrdeutigkeit im Begriff »Wohl des Kindes«.

Was ist das Wohl des Kindes? Wie lässt sich seine Verwirklichung messen?

Ein zentrales Problem bei der Umsetzung der Kinderrechte, aber auch bei der Berichterstattung über ihre Verwirklichung ist die Offenheit des Begriffs »Wohl des Kindes« hinsichtlich seiner Begründung und des Gegenstandes, auf den sich das Wohl bezieht. Dem Begriff ist das Normative eigen aufgrund seiner auch etymologischen Verweise etwa auf gut, zufrieden, glücklich oder sittlich richtig.9 Zudem bezieht sich das Wohl auf die Identität des einzelnen Kindes. Damit rückt das Individuum in den Mittelpunkt, also die weder von Wissenschaft noch vom Recht beobachtbare psychische Einheit körperlicher und sozialer Eigenschaften, wie sie in der Würde des Menschen beispielsweise in Art. 1 GG zum Ausdruck kommt. Medizin und Naturwissenschaften mögen zwar körperliche Eigenschaften beobachten können, aber über die jeweilige psychische Beobachtung und Beschreibung körperlicher Zustände und Prozesse, auch in Abhängigkeit von der spezifischen Sozialisation des Individuums, sind keine Gewissheiten, allenfalls Annäherungen und Vermutungen möglich. Wissenschaftlich lässt sich wegen der normativen Begründung und der methodischen Unmöglichkeit das Wohl des Kindes prinzipiell weder theoretisch noch empirisch allgemein valide bestimmen und begründen. Rechtlich hat das zur Folge, dass zum Beispiel das Bürgerliche Gesetzbuch in § 1666 zwar von einem körperlichen, geistigen und seelischen Wohl des Kindes redet, aber weder dort, noch an anderer Stelle im deutschen Recht ist das Kindeswohl definiert. Es bleibt ein unbestimmter Rechtsbegriff. Folglich muss in jedem rechtlichen Einzelfall eine eigenständige Interpretation erfolgen.

Wie weit trägt ein aus der Konvention entwickeltes Konzept des kindlichen Wohlbefindens, kindliche Lebensverhältnisse in ganz unterschiedlichen Situationen zu vergleichen? Nach Claudia Kittel (Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention, Berlin) gibt es bislang nur wenig Wissen darüber, mit welchen Indikatoren Kinderrechte und ihre Umsetzung operationalisiert und gemessen werden können.10 Das nationale wie internationale Monitoring steht vor den Problemen der Multiperspektivität und Multipartizipation der beteiligten Personen. Kinder und Erwachsene haben nicht nur unterschiedliche Perspektiven, weil sie unterschiedlichen Generationen angehören, sondern auch weil jeder von ihnen in mehreren sozialen Bereichen parallel teilnimmt. Ein Kind ist nicht nur Kind seiner Eltern, sondern auch Freundin oder Freund, Schülerin oder Schüler. Wie sind dann beispielsweise die Wahrnehmungen und Beteiligungen des Kindes ohne Vermittlung der Erwachsenen methodisch messbar? Wie können die Kinder ihren Wirklichkeiten und zu welchen Themen Gehör verschaffen? Wie sind ihre Aussagen altersmäßig zu klassifizieren und zu interpretieren?11

Nicht nur das Berichtsverfahren zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention steht vor diesen Fragen und methodischen Problemen. Grundsätzlich wird ein Spannungsfeld sichtbar, zum einen zwischen den Kinderrechten und zum anderen zwischen den Rechten und Interessen der beteiligten Personen.

Kinderrechte: Spannungen zwischen Schutz, Förderung und Beteiligung – …

Nach Thomas Meysen (International Centre for Socio-Legal Studies (SOCLES), Heidelberg) können sich Spannungen zwischen Schutz, Förderung und Beteiligung zeigen: An der Person des Kindes, bei seinen Eltern und in den Entscheidungen des Staates. Wenn das Wohl des Kindes durch Vernachlässigung oder Missbrauch offensichtlich gefährdet ist, dann kann das Kind zwischen dem Wunsch, bei seinen Eltern zu bleiben, und dem Bedürfnis nach Schutz hin- und hergerissen sein. Die Spannung zwischen seinem Recht auf Familie, auf Erziehung und Förderung durch die Eltern und seinem Recht auf gewaltfreie Erziehung und Schutz ist nicht allein normativ-juristisch zu begreifen, sondern existiert als Einheit des Unvereinbaren im Denken, Fühlen und Handeln des Kindes. Soll in solchen Situationen das Kind gegen seinen Willen und gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt werden?

Kann die Spannung dadurch gemindert werden, dass dem Kind sein Recht auf Beteiligung, auf Gehör stärker ermöglicht wird? Bei welchen Ansprüchen und Wünschen ist das Kind zu beteiligen? Wie sind seine Informationen einzuschätzen? Nach Aussage von Heinz Kindler (DJI, München) dürfte sich die Mehrheit der Kinder in gefährdeten Lebenslagen an niemanden wenden, da sie den Erwachsenen nicht trauten. Die Identität des Kindes kann bei der eigenen Einschätzung der Gefährdung sowohl Ressource als auch Belastung sein, etwa aufgrund der Widersprüchlichkeit im Verhältnis zu seinen Eltern. Kinder mit Gewalterfahrungen in der Familie können weiterhin den Kontakt zu ihren Eltern wollen, andere Kinder nicht. Das Kind kann unter der Trennung von den Eltern selbst dann leiden, wenn sein Wohl bei den Eltern nicht gesichert war. Vor der Trennung des Kindes von den Eltern sei deshalb auch zu erwägen, ob nicht eher die Eltern für wirksame Hilfe zu gewinnen seien, um eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden.

Den Fachkräften stünden bei ihrer Abwägung Menschen gegenüber, die schwer an Konflikten und Belastungen zu tragen haben. Es bliebe eine Gratwanderung zwischen keinem oder zögerlichem Eingreifen und übermäßigem oder rigidem Eingreifen. Zwischen zu langem Zusehen und Abwarten und zu schnellem Eingreifen und Handeln blieben Fehler in einer solch hochkomplexen und dynamischen Situation unvermeidlich.12 Wenig hilfreich sei dann auch die Vorstellung des Bundesverfassungsgerichtes, dass eine Maßnahme nur dann als zur Wahrung des Kindeswohls geeignet gelten kann, »wenn die Folgen der Fremdunterbringung für das Kind nicht gravierender sind als die Folgen eines Verbleibs in der Herkunftsfamilie« (Rn. 15).13

Denn das kleinere Übel heute, so Heinz Kindler, muss nicht das kleinere Übel in 10 Jahren sein: »Wie gut Deutschland den versprochenen besonderen Schutz und Beistand tatsächlich leistet, ist bislang völlig unklar. Für zentrale Ergebniskriterien – wie die Häufigkeit wiederholter Gefährdungen, den letztlich erreichten Bildungsstand oder die psychische Gesundheit am Ende der Hilfen und Schutzmaßnahmen – fehlen belastbare Befunde«.14 Von Kindern in Einrichtungen und Pflegefamilien weiß man, dass sie zumeist nur über niedrige Schul- und Berufsausbildungsabschlüsse verfügen und dass ihre Zukunft deshalb eben nicht offen sei.

Wer das Kind stärker beteiligen will, sich auf seine Willensäußerungen beziehen will, müsse ihm zunächst Raum und Vertrauen geben, sich mitzuteilen. Um seine Äußerungen zu verstehen, bedürfe es Fachkompetenz, also Ausbildung, und intensive Gespräche, also Zeit. Die juristische Normativität allein reiche, so Klinger in seinem Fazit, nicht aus, um den Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden.

… und im Wettstreit mit Rechten und Interessen anderer

Bei allen Maßnahmen, die das Kind betreffen, ist das Wohl des Kindes (best interests of the child) ein Gesichtspunkt der vorrangig zu berücksichtigen ist (primary consideration) (Art. 3 CRC). Trotzdem stellte sich Jörg Maywald (Deutsche Liga für das Kind, Berlin) die Frage, welches Interesse tatsächlich zählt. Denn neben dem Interesse des Kindes gibt es Rechte und Interessen anderer. Fraglich ist, ob diese stets das Beste des Kindes im Sinn haben oder statt dessen mit den Bedürfnissen des Kindes wettstreiten. Die zahlreichen Beispiele, die während der Tagung vorgeführt wurden, belegen wie schwierig es im Alltag ist, die verschiedenen Perspektiven von Eltern, Politik, Recht, Wirtschaft und pädagogischen Fachkräften und vom Kind zur Geltung und zur Einheit zu bringen. So fragte zum Beispiel Bernhard Kalicki (DJI, München), was beim Ausbau der Tageseinrichtungen für Kinder unter 3 Jahren wichtiger war: Der Betreuungsbedarf der Eltern, also ihr Wunsch nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie, oder das Wohlergehen des Kindes. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass das Wohl der Eltern, ihre Zufriedenheit wichtig für das Wohl des Kindes ist.

Bei all den Situationen zeigte sich, dass die Interessen des Kindes gegenüber den Interessen Dritter oft zu kurz kommen und ihnen eben nicht Vorrang eingeräumt wird. Umgekehrt gilt auch: Der Verantwortung des Erwachsenen für das Kind kommt in vielen Fällen eine Vorrangstellung zu. Aber eben nicht in allen Fällen: Das Recht auf Partizipation kennt keine Altersgrenze, die Beteiligung muss jedoch alters- und reifeangemessen erfolgen. Besondere Sensibilität bei der Bestimmung der »besten Interessen« des Kindes erfordert die Wahrnehmung und das Erkennen des Willens noch nicht sprachfähiger Kinder.

Fazit

Das grundsätzliche Problem, so das wissenschaftliche Ergebnis der Tagung, ist der Vollzug der Regelungen. Dabei gäbe es in der Kinder- und Jugendhilfe noch genügend Möglichkeiten für die Umsetzung der Kinderrechte, etwa bei der Aufklärung des Kindes und der beteiligten Erwachsenen über ihre Rechte und bei der Qualifikation der medizinischen, pädagogischen und juristischen Professionellen. Bei Konflikten in Angelegenheiten der Jugendhilfe oder Verfahren vor Gericht könnten eine Ombudsstelle oder ein Verfahrensbeistand den Vollzug unterstützen.15 Dazu gehöre auch, dass jeder Fall ein Einzelfall ist und einer Einzelfallprüfung bedarf. Voraussetzung dafür sei der professionelle Umgang mit Normalitätsvorstellungen und Normalitätsabweichungen, also mit der Vielfalt, in der Eltern und ihre Kinder leben, in der Eltern die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder wahrnehmen und ausüben.

Der wissenschaftlich zutreffenden Analyse folgte deshalb regelmäßig die politische Forderung nach Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Maßstab für die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz müsse die UN-Kinderrechtskonvention sein. Diese Anerkennung der Kinder als Grundrechtsträger und ausgestattet mit besonderen Rechten hätte eine symbolische Bedeutung, stärke das »Bewusstsein« für Kinder bei Professionellen und könnte dadurch dazu beitragen, die Umsetzungsdefizite etwa in Rechtsprechung und Verwaltung zu verringern. Zudem erhielten die Kinderrechte eine größere Verbindlichkeit. Ihre Verletzung wäre »explizit und dezidiert« vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbar.16

Die UN-Kinderrechtskonvention selbst kann zwar politisch, aber nicht rechtlich binden.17 Unter Berufung auf die Konvention können Kinder keinen rechtlichen Anspruch auf Förderung, Beteiligung und Schutz einfordern. Dennoch können UN-Vereinbarungen vor Gericht eine Rolle spielen. Deutsche oder europäische Richter können sich darauf beziehen – nicht als Rechtsquelle, aber als zusätzliche Argumentationshilfe für Entscheidungen.

Wer die UN-Konvention als Maßstab für eine Änderung des Grundgesetzes heranzieht, sollte gleichwohl wissen, die UN-Kinderrechtskonvention feiert 2019 ihren 30. Geburtstag. Sie ist ein Kind ihrer Zeit, und die Zeit ist nicht stehengeblieben. Die englische und rechtlich maßgebliche Version vertritt aus heutiger Sicht und mit heutigem Wissen in zwei Punkten ein traditionales Familienbild: Geschlecht des Kindes und Anzahl der Eltern. Die Zweigeschlechtlichkeit von Junge und Mädchen wird sichtbar in: »his or her parents« (Artikel 7 und 9 CRC), »his or her identity« (Artikel 8 CRC), »his or her own views« (Artikel 12 CRC). Damit dürfte die Konvention auch bei den Eltern von einer Zweigeschlechtlichkeit von Frau und Mann ausgehen. Die Anzahl der Elternschaft beschränkt sich auf ein Elternteil oder zwei Eltern und zeigt sich in: »one or both parents« (Artikel 9 und 18 CRC). Im Gegensatz dazu ist das Grundgesetz offen mit Blick auf das Geschlecht der Kinder und Eltern sowie der Anzahl der Eltern, wenngleich das Bundesverfassungsgericht Elternschaft rechtlich, bislang noch, auf zwei Eltern begrenzt.18 Das Grundgesetz ist damit offener gegenüber einem kulturellen Wandel familialer Lebenswirklichkeiten und auch gegenüber neuem Wissen und neuen Techniken der Reproduktion.

Was bleibt zusammenfassend? Die Tagung bezeugte das Problem der Umsetzung von Kinderrechten und vermittelte den Eindruck: Kinder und Erwachsene handeln nicht auf Augenhöhe. Allzu oft noch erfolgt nicht mit dem Kind, sondern über das Kind und sein Interesse der Austausch eigener Interessen. Das Wohl des Kindes wird zwar im Mund geführt, aber das Handeln lenken politische und ökonomische Interessen oder folgt schlicht der eigenen Sozialisation und Ideologie.

1 Dickens, Charles (1983): Oliver Twist. Rütten & Loening. Berlin, S. 146.

2 Das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) betreibt seit 1963 sozialwissenschaftliche Forschung. Es untersucht die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Familien sowie sozialstaatliche Maßnahmen für diese Gruppen. Mit derzeit 238 wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ist das DJI eine der größten außeruniversitären Forschungsorganisationen in Deutschland.

3 Bertram, Hans (2015): Kindliches Wohlbefinden als Maßstab, in: DJI Impulse, 3, S. 4–7.

4 Siehe Gestrich, Andreas; Krause Jens-Uwe; Mitterauer, Michael (2003): Geschichte der Familie. Kröner. Stuttgart, S. 584–599.

5 Save the Children und Genfer Erklärung siehe: https://www.savethechildren.ch/de/ueber_uns2222/geschichte22/ (Abruf: 15.01.2019).

6 In Deutschland ist die UN-Kinderrechtskonvention 1992 in Kraft getreten. Dabei wurden Vorbehalte formuliert, die sich vor allem auf den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bezogen. Diese Vorbehalte wurden 2010 zurückgenommen. Zur englischen und deutschen Version der Kinderrechtskonvention: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/kinderrechtskonvention-crc/ (Abruf: 15.01.2019).

7 In der Landesverfassung (LV) des Landes Baden-Württemberg sind Ende 2015 die Kinder- und Jugendrechte zu den Staatszielbestimmungen hinzugefügt worden: »Kinder und Jugendliche haben als eigenständige Persönlichkeiten ein Recht auf Achtung ihrer Würde, auf gewaltfreie Erziehung und auf besonderen Schutz«, Artikel 2a LV; Gesetzblatt Baden-Württemberg, GBl 2015, Nr. 22, S. 1032, veröffentlicht am 04.12.2015.

8 Zum Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD siehe: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1 (Abruf: 15.01.2019).

9 Das Adjektiv »wohl« entspricht im Englischen dem Wort »well«. Dieses findet sich in den Verbindungen »well-being« oder »welfare« wieder. In der englischen, rechtsverbindlichen Version der UN-Kinderrechtskonvention wird neben diesen beiden Begriffen noch der Begriff »best interests of the child« verwendet. In der deutschsprachigen Version werden alle drei Begriffe gleichermaßen mit »Wohl des Kindes« übersetzt.

10 Für eine Übersicht zu Konzepten zur Messung des kindlichen Wohlbefindens siehe Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015): Wohlergehen von Familien, S. 63–73.

11 Siehe hierzu beispielsweise Eriksson, Maria; Näsman, Elisabet (2012): Interviews with Children Exposed to Violence, in: Children & Society, 26, S. 63–73, DOI:10.1111/j.1099-0860.2010.00322.x; Hagemann-White, Carol; Grafe, Bianca (Eds.) (2017): Experiences of Intervention Against Violence. An Anthology of Stories. Budrich. Opladen, S. 153–251.

12 Siehe Biesel, Kay (2016): Problematisch verlaufene Kindesschutzfälle verstehen. Ursachen und Hintergründe von Fehlern im Kindesschutz. Fachtagung Kindesschutz 1. Dezember 2016. Kinder- und Jugendpsychiatrie Graubünden, https://kjp-gr.ch/wp-content/uploads/k-biesel_problematisch-verlaufene-kindesschutzfaelle-verstehen.pdf (Abruf: 15.01.2019).

13 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22.9.2014 - 1 BvR 2108/14 - Rn. (1–26), http://www.bverfg.de/e/rk20140922_1bvr210814.html (Abruf: 15.01.2019).

14 Kindler, Heinz (2015): Schutzrechte für Kinder, in: DJI Impulse, 3, S. 10–13.

15 Siehe Hamburgische Bürgschaft (2018): Enquete-Kommission »Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken«, Zusammenfassung zu den Befunden der Analysephase und Ausblick auf die Erarbeitung von Empfehlungen, https://www.hamburgische-buergerschaft.de/contentblob/11285844/95bec9ebd2889e89c4bd07ae57d2c31f/data/zwischenstand.pdf (Abruf: 15.01.2019), Gottschalk, Yvonne (2018): Wie kindergerecht ist die Justiz? in: Neue Juristische Wochenschrift, 48, S. 12–13.

16 Weitere Erwägungen, etwa gegen eine Verfassungsänderung zugunsten von Kindern, sind: Das Grundgesetz setzt nicht auf Grundrechte, die nach Alter unterscheiden, sowie: Kinderrechte gegenüber Elternrechten mit Verfassungsrang könnten die Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig belasten; siehe Kirchhof, Gregor (2018): Die Kinderrechte des Grundgesetzes, in: Neue Juristische Wochenschrift, 37, S. 2690–2693; Wapler, Friederike (2015): Starke Kinderlobby statt Gesetzeslyrik: Was Kindern wirklich hilft, ist eine Politik, die ihre bestehenden Rechte konsequent umsetzt, in: DJI-Impulse, 3, S. 9.

17 Zu unterscheiden ist hier die UN-Konvention als Völkerrecht, das Grundgesetz als nationales Verfassungsrecht und Bundesgesetze wie das SGB VIII als einfaches Recht. Nationale Rechte verbinden diese drei Rechtsquellen.

18 Im englischen Familienrecht sind der rechtliche Status als Eltern und das elterliche Sorgerecht, die Elternverantwortung, stärker entkoppelt als im deutschen Recht. Zwar können nicht mehr als zwei Personen den Status als rechtliche Eltern innehaben, aber die Elternverantwortung kann durch gerichtliche Anordnung auf mehr als zwei Personen übertragen werden. Zur »Mehrelternschaft« als multiples Sorgerecht siehe Scheiwe, Kirsten (2016): Mehr als nur zwei Sorgeberechtigte? in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 2, S. 227–240.