Wie kann Bürokratieentlastung gelingen?
Neue Instrumente und Angebote in der Landesverwaltung
2023 zog der Nationale Normenkontrollrat (Nationaler NKR) als unabhängiges Kontroll- und Beratungsgremium Bilanz zur aus Bundesrecht stammenden Belastung von Unternehmen, Bevölkerung und Behörden. Laut Jahresbericht 2023 stieg diese in Deutschland von Juli 2022 bis Juli 2023 weiter an. Die jährliche Belastung erhöhte sich gegenüber den Vorjahren um 9,3 Milliarden (Mrd.) Euro. Dazu kommen durch Bundesrecht verursachte Umstellungsaufwände von 23,7 Mrd. Euro. Dem Nationalen NKR zufolge waren der Zeitaufwand und die Kosten, die durch neue Regelungen auf Bundesebene Jahr für Jahr entstehen, seit Beginn der Aufzeichnungen noch nie so hoch.1 Wie sieht die Lage zur Bürokratieentlastung in Baden-Württemberg aus? Und welche neuen Wege werden im Land beschritten, um unnötige Bürokratie zu vermeiden? Erfahren Sie mehr über neue Instrumente und Angebote in der Landesverwaltung und über erste Erfahrungen.
Für Baden-Württemberg zeigen die Jahresberichte des Normenkontrollrats Baden-Württemberg (NKR BW) zur Bürokratiebelastung durch neues Landesrecht von 2018 bis 20212 folgenden Trend: Wirtschaft, Bürgerschaft und Verwaltung wurden um insgesamt rund 342,8 Mio. Euro entlastet.3 Ohne Berücksichtigung der Amortisation der Investitionskosten durch die Photovoltaik-Pflicht ergibt sich laut NKR BW eine Entlastung von rund 96,2 Millionen (Mill.) Euro. Über die Jahre profitierte vor allem die Wirtschaft von Entlastungen. Aber auch für Bürgerschaft und Landesverwaltung konnten Entlastungen erreicht werden (Schaubild).
Um diesen Landestrend zu stabilisieren und die Entlastungsdynamik auf Grundlage der bisherigen Erfahrungen weiter auszubauen, hat die Landesregierung 2021 ein Entlastungsziel in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. 200 bis 500 Mill. Euro an Bürokratiebelastung sollen bis 2026 abgebaut werden. Unter anderem durch bessere Rechtsetzung und durch die Modernisierung bestehenden Rechts.4 Dazu gibt es seit Ende 2023 neue Instrumente und Angebote für die Landesministerien.
Digitaltaugliches Landesrecht: der Digitaltauglichkeits-Check BW
In der Rechtsetzung werden die Weichen für das Digitalisieren von Verwaltungsleistungen gestellt. Digitale Verwaltungsleistungen sind einer der wichtigsten Hebel für Bürokratieentlastung. Deshalb ist in Baden-Württemberg seit 1. Oktober 2023 für alle Regelungsvorhaben der Landesregierung und der Ministerien, die für digitale Verwaltungsverfahren von Bedeutung sind, ein Digitaltauglichkeits-Check verpflichtend.
Nutzendenfreundliche elektronische Zugänge zu leistungsfähigen Verwaltungsverfahren mit medienbruchfreien elektronischen Geschäftsprozessen sind das Ziel. Voraussetzung dafür sind Rechtsgrundlagen, die das möglich machen und nicht behindern. Der neue Digitaltauglichkeits-Check ist ein Werkzeug für Legistinnen und Legisten. Er unterstützt sie dabei, Digitaltauglichkeit in der Rechtsetzung von Anfang an mitzudenken und zu realisieren. Arbeitsgrundlage ist der Leitfaden Digitaltauglichkeits-Check. Er liegt dem Kerndokument der baden-württembergischen Rechtsetzung, der Verwaltungsvorschrift der Landesregierung und der Ministerien zur Erarbeitung von Regelungen (VwV Regelungen), als Anlage bei.
Der Digitaltauglichkeits-Check BW steht unter der Federführung des Innenministeriums (IM). Er wird iterativ und praxisorientiert weiterentwickelt. Die Landesministerien und weitere Partner werden kontinuierlich einbezogen. Das jeweils verantwortliche Ressort führt den Digitaltauglichkeits-Check zu seinem Regelungsvorhaben selbst durch. Die Stabsstelle für Bürokratieentlastung (SfBe) beim Statistischen Landesamt und die Prüfstelle Digitaltauglichkeits-Check im Innenministerium stehen den Ministerien beratend zur Seite. Die Ergebnisse der Digitaltauglichkeits-Checks werden von der Prüfstelle Digitaltauglichkeits-Check im Innenministerium geprüft.
Das erste Feedback zum neuen Instrument aus den Ressorts fällt positiv aus: Die Regelungsvorhaben lassen sich mithilfe des Leitfadens systematisch auf Digitaltauglichkeit untersuchen. Schwachstellen werden identifiziert, priorisiert und wenn möglich direkt entschärft. Die Ressorts können ihren Aufwand für den Digitaltauglichkeits-Check dadurch begrenzen, dass sie sich durch die Stabsstelle für Bürokratieentlastung unterstützen lassen. Es empfiehlt sich, die Vorprüfung zum Digitaltauglichkeits-Check frühzeitig zu durchlaufen.
Belastungsarmes Landesrecht: die Bürokratielastenschätzung
Zum 1. Oktober 2023 wurde die Pflicht die Folgekosten von Landesregelungen (Erfüllungsaufwand) zu berechnen durch das neue Instrument Bürokratielastenschätzung ersetzt. Bürokratielasten sind der wesentliche mess- und beschreibbare Aufwand, der durch das Befolgen einer Vorschrift bei Wirtschaft, Bürgerschaft und Verwaltung entsteht.
In welchen Konstellationen können/sollen die Landesministerien das Instrument Bürokratielastenschätzung einsetzen?
- Bei Gesetzesvorhaben, die erhebliche Auswirkungen für Unternehmen, Verwaltung und Bürgerinnen und Bürger oder aufwendige Verwaltungsverfahren erwarten lassen, sollen die Bürokratielasten durch die Stabsstelle für Bürokratieentlastung beim Statistischen Landesamt BW geschätzt werden (Nummer 4.3.4 VwV Regelungen).
- Bei Verordnungen und Verwaltungsvorschriften mit erheblichen Auswirkungen können die Bürokratielasten durch die Stabsstelle für Bürokratieentlastung beim Statistischen Landesamt BW geschätzt werden (Nummer 4.3.4 VwV Regelungen).
Was ist unter »erheblichen Auswirkungen« zu verstehen? Anhaltspunkte im Sinn der Nummer 4.3.4 VwV Regelungen können sein:
- Komplexe Verwaltungsverfahren, die die Mitwirkung einer Vielzahl von Landes- und Kommunalbehörden und ggf. Sachverständigen und sonstigen Institutionen auslösen.
- Handlungspflichten für eine große Anzahl von Unternehmen und Bürgerinnen und Bürgern.
- Zahlreiche Handlungspflichten, die in Summe einen hohen Vollzugsaufwand auslösen.
Die Bürokratielasten werden durch die Stabsstelle für Bürokratieentlastung in Zusammenarbeit mit den Ministerien geschätzt. Berechnungsmethode ist der Erfüllungsaufwand auf Grundlage des Standardkosten-Modells oder eine andere angemessene Methodik. Den Auftrag an die Stabsstelle erteilt das jeweils federführende Ministerium.
Das Instrument Bürokratielastenschätzung kommt im Idealfall frühzeitig im Rechtsetzungsprozess zum Einsatz. Durch den neuen Service der Stabsstelle werden die Ministerien entlastet. Die Legistinnen und Legisten müssen die Bürokratielasten nicht mehr selbst ermitteln, sondern können sich darauf konzentrieren, sie zu reduzieren. Die Bürokratielastenschätzung der Stabsstelle liefert dazu wichtige Anhaltspunkte. Bei Regelungsvorhaben mit erheblichen Auswirkungen empfiehlt es sich, die Stabsstelle frühzeitig zu kontaktieren.
Vollzugstaugliches Landesrecht: der Praxis-Check
Mit dem neuen Instrument Praxis-Check wird geprüft, ob Regelungen und deren Umsetzung vollzugstauglicher und belastungsärmer gestaltet werden können. Im direkten Austausch mit der Praxis werden bürokratische Hemmnisse identifiziert und Lösungsansätze entwickelt. Zum Beispiel über Interviews, Anhörungsrunden oder Simulationen mit Normadressatengruppen und Normanwendenden. Praxis-Checks können im Bestandsrecht (ex post) und beim Entwickeln neuer Regelungen (ex ante) zu einfacheren Lösungen und zu einem belastungsarmen leistungsfähigen Vollzug beitragen. Bürokratische Hemmnisse lassen sich auch ebenen- und themenübergreifend identifizieren. Dazu können Prozesse oder Lebenslagen analysiert werden.
Ein Praxis-Check kommt vor allem für Regelungsvorhaben in Frage, die erhebliche Auswirkungen für Unternehmen, Bürgerschaft und Verwaltung oder aufwendige Verwaltungsverfahren erwarten lassen.
Der Normenkontrollrat BW kann den Landesressorts in geeigneten Fällen einen Praxis-Check empfehlen und bei der Durchführung eingebunden werden. Im Konfliktfall entscheidet der Koordinator der Landesregierung für Verwaltungsmodernisierung, Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung.
Das Staatsministerium Baden-Württemberg hat als erstes Landesressort Erfahrungen mit einem ebenenübergreifenden Praxis-Check zur Genehmigung von Windrädern gemacht.5 Auf Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) wurde im Oktober 2023 das Genehmigungsverfahren von Windenergieanlagen analysiert. An dem Praxis-Check im Workshop-Format nahmen Projektierende und Mitarbeitende aus Landratsämtern und Regierungspräsidien teil. Der Workshop fand im Regierungspräsidium Stuttgart statt. Die Teilnehmenden entwickelten 34 Vorschläge, wie das Verfahren vereinfacht und beschleunigt werden kann. Zum Beispiel durch Änderungen in Bundesgesetzen oder in Verfahrensabläufen.
Neue Wissensbasis für die Rechtsetzung
Für das Landespersonal mit Rechtsetzungsaufgaben gibt es viele Arbeitshilfen, Qualifizierungen und Services. Der neue Themenbereich »Rechtsetzung VwV Regelungen« im verwaltungsinternen BW-Portal ist als zentraler Zugangspunkt angelegt. Er bündelt die wichtigsten Materialien, Beratungs- und Weiterbildungsangebote und stellt sie aktuell und übersichtlich zur Verfügung. Zum Einarbeiten in die praktische Rechtsetzung oder um sich zwischendurch schnell auf den neuesten Stand zu bringen. Der neue Themenbereich ist ein Angebot des Innenministeriums, das von der Stabsstelle für Bürokratieentlastung konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium, dem Staatsministerium und dem Umweltministerium aufgebaut wurde.
Die neue Wissensbasis bietet Rechtsgrundlagen, Arbeitsmaterialien, Fortbildungen und Kontakte zu folgenden Aspekten der Rechtsetzung:
- VwV Regelungen
- Bessere Rechtsetzung
- Praxis-Check
- Bürokratielastenschätzung
- Digitaltauglichkeits-Check
- Nachhaltigkeits-Check
- FAQ
Fazit und Perspektiven
Das erste Feedback aus der Landesverwaltung zu den neuen Instrumenten und Angeboten des Landes zur Bürokratieentlastung durch bessere Rechtsetzung ist positiv. Jetzt kommt es darauf an, dass das neue Instrumentarium in der Rechtsetzung breit und frühzeitig zum Einsatz kommt und im Austausch mit den Anwendenden weiter verbessert wird.