Eigensinn und Selbstgestaltung der Familien
Soziologische Anmerkungen zu »Familie im Wandel«, herausgegeben von Bernadette Breunig, Gottfried Schweiger und Angelika Walser
Das zentrale Problem der modernen Familie entfaltet sich ungeachtet ihrer vielfältigen Formen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: wie aus individuell absolut verschiedenen und dabei gleichberechtigten Persönlichkeiten eine soziale Einheit werden könnte. In dieser Funktion zeigt sich der Wert der Familie. Eine eigensinnige Selbstgestaltung kennzeichnet das Zur-Einheit-Bringen. Sie ist unverzichtbar für die moderne Familie. Kurzum: Individueller Eigensinn erwartet familialen Eigensinn. Gleichzeitig ist die Familie abhängig von ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Besonders Politik, Recht, Wirtschaft und Religion, aber auch Philosophie und die Sozialwissenschaften können entlang ihrer Vorstellungen und Erwartungen die eigensinnige Selbstgestaltung der Familie annehmen und ablehnen, erleichtern und erschweren. Die amtliche Familienstatistik ist ein Beleg dafür, dass eigene kulturelle Vorstellungen und Erwartungen bestimmen, was als Familie gezählt wird und was nicht, und dass sich dieses im Laufe der Zeit wandeln kann.
Zu keinen Zeiten dürfte es nur eine Idee dessen gegeben haben, was Familie ist. Nie ist wohl nur eine einzige Form von Familie verwirklicht und gestaltet worden. Im Wesentlichen unterscheiden sich die pluralen Strukturen der Vergangenheit und der Gegenwart darin, wie Familie primär möglich ist. Einst war die Selbstgestaltung der Familien vor allem außenorientiert an segmentär oder stratifikatorisch differenzierten Traditionen von Clans, Stämmen und »großen« Familien oder Ständen und Schichten mit ihren jeweiligen religiösen, politischen, rechtlichen, ökonomischen und pädagogischen Erwartungen. In modernen Gesellschaften ist die Selbstgestaltung der Familien hingegen primär innenorientiert an den umfassenden Erwartungen der einzelnen Familienmitglieder.
Pluralität, Diversität oder Heterogenität, wie immer man auch die Vielheit der Familienformen bezeichnen mag, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Moderne. Gleichwohl sind weitere Familienformen besonders infolge heutiger Techniken der Reproduktionsmedizin hinzugekommen. Das zentrale Merkmal moderner Gesellschaften ist ihre gesteigerte semantische und strukturelle Kontingenz gegenüber traditionalen Gesellschaften.1 Moderne Gesellschaften haben den Möglichkeitsraum für Familienformen, die aktualisiert werden können, vergrößert: Keine Familienform ist notwendig und unmöglich.
Deshalb ist es auch wenig überraschend, dass die von Bernadette Breunig, Gottfried Schweiger und Angelika Walser herausgegebenen Beiträge den Wandel der Familie hauptsächlich anhand der neuen Möglichkeiten der Selbstgestaltung von Familie behandeln und verhandeln: Die »medizinisch-technische Möglichkeit, die Konstitution der Familie zu beeinflussen«, sei »ein Motor des Wandels der Familie« (S. 6).2 Zugleich belegen die Texte, dass in der Moderne weiterhin Erwartungen existieren, die den Möglichkeitsraum von Familie kleiner sehen. Zu beobachten sind solche Erwartungen vornehmlich in Politik, Recht und Religion, aber auch in der Sozialwissenschaft und Philosophie. Anders formuliert: Nicht überall in unserer Gesellschaft werden alle Lebensformen, die sich selbst als Familie bezeichnen, als Familie anerkannt. Die Begründungen für die Ablehnungen sind vielfältig (siehe i-Punkt »Familie im Wandel der amtlichen Familienstatistik in Deutschland«). Das Folgende zeigt nun, dass durch Unterscheidungen Grenzen gezogen und Zuschreibungen vollzogen, also Lebensformen als Familien inkludiert und dadurch andere exkludiert werden. Gleichzeitig stoßen die Beiträge eine eigene soziologische Beobachtung der Familie an mit der Absicht, die Selbstgestaltung der Familie präziser zu begreifen.3
Zwischen Ideal und Realität
Bereits in ihrer Einleitung treffen die beiden Herausgeberinnen und der Herausgeber die zentralen Unterscheidungen, mit denen die Selbstgestaltung der Familien in Frage gestellt wird. So treffen sie in ihrer vornehmlich theologischen und philosophischen Beschäftigung mit Familie die Unterscheidung zwischen einem Ideal und der Realität heutiger Familien. Das Ideal wird nicht durch die reale Familie bestimmt, sondern programmatisch, hier beispielsweise durch Heilige Schrift und Dogmatik: Zwar wittere man eben nicht überall »moralisch Defizitäres« (S. 5) und plädiere dafür, Familie heute »weiter zu denken« (S. 1), und frage sich, ob nicht »die Konstituierung und Form von Familie letztlich völlig gleich gültig sei« (S. 5), aber »die theologischen Grundanliegen von Schrift und Religion dürften nicht aus dem Auge verloren werden« (S. 1). Hierzu gehöre auch das katholische Leitbild der Familie mit der »Exklusivität einer partnerschaftlichen lebenslangen Bindung zwischen Mann und Frau, die auf Liebe gründet« mit der »Offenheit für Nachkommenschaft« und dem »sakramentalen Verständnis von Ehe als Basis einer Familie« (S. 5). Eine zweite Unterscheidung wird entlang von Erwachsenem und Kind, zwischen Kinderwunsch und Kindeswohl gezogen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Reproduktionsmedizin stelle sich die Frage, »ob den beteiligten Eltern (…) ihre Verantwortung wirklich bewusst« sei, ob »nicht bestimmte Bedingungen erfüllt sein sollten, damit der Wunsch zur Konstitution einer Familie, also die Reproduktion, moralisch legitim« (S. 6) sei, ob nicht eine Grenze erreicht sei und der Staat nicht regulierend eingreifen sollte (S. 2). Der Zweifel gilt der Selbstverpflichtung der künftigen Eltern zur Übernahme von Verantwortung und begründet die dritte Unterscheidung, und zwar die von Familie und Politik, entlang der die Autonomie der Familie, ihre Form selbst zu gestalten, eingeschränkt, aber auch erweitert werden kann durch rechtliche und ökonomische Maßnahmen.
Tatsächlich ist mit der dritten Unterscheidung das Verhältnis von Familie zu anderen Teilen der Gesellschaft, besonders zu Politik, Recht, Ökonomie, schulischer Erziehung, Theologie und Philosophie aufgerufen. Dieses Verhältnis kann als paradox beschrieben werden. Die Selbstgestaltung der Familie ist abhängig von den Erwartungen und Forderungen ihrer sozialen Umwelt, aber grundsätzlich unabhängig, wie sie diese externen Sachverhalte intern mit eigenen Ansprüchen zur Einheit bringt. Es bleiben stets Entscheidungen der Familie, die auch anders getroffen werden können. Aus einer philosophischen Sicht sind diese Entscheidungen »der ethischen Reflexion nicht enthoben« und können »auf ihre moralische Legitimität hinterfragt werden« (S. 6). Dabei können Unterschiede sichtbar werden zwischen dem, was eine Familie ist und dem, was als Familie gilt, und dafür Begründungen gefunden werden in den Beobachtungen, wie Familie möglich ist, »wie die Familienmitglieder miteinander umgehen« (S. 7).
Starre Geschlechtsrollen und Eigensinn der Familie
Die folgenden Beiträge verhandeln die Selbstgestaltung der Familie und vertiefen die Möglichkeiten sie einzuschränken. Zunächst wird der Möglichkeitsraum für Familie mit der Kontingenz seiner Ausdehnung durch einen Blick in die Vergangenheit sichtbar, dann die Selbstgestaltung der Familie anhand des theoretischen Konzeptes »Un-/Doing« begriffen. Im Beitrag von Eva Matthes zur Geschichte der Familie sind zwei Aspekte hervorzuheben. Zum ersten Aspekt: Über die letzten 2 Jahrhunderte hat sich der Möglichkeitsraum für Familie zwar letztendlich ausgedehnt, aber während dieser Zeit durchlief er auch Phasen der Verengung manifester Familienformen. Bis auf wenige Ausnahmen: Adel und Großbürgertum, finden sich in den Häusern westeuropäischer Gesellschaften des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit »keine spezifischen Räume für weibliche Tätigkeiten (…) und auch diese waren nicht prinzipiell für Männer verschlossen«.4 Der verstärkt einsetzende Wandel von Familien- und Haushaltsstrukturen zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte dies. Er führte zu einer Verengung, die sich in den verschieden sozialen Schichten und Regionen mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit vollzog. Entscheidend für die Kontraktion war weniger die zunehmende Konzentration auf die Kernfamilie aus Frau und Mann mit zwei oder drei Kindern, sondern die räumliche Trennung von Familie und Arbeit, mit der eine geschlechterpolare Aufteilung in weibliche und männliche Tätigkeiten einherging: Hausarbeit und Erziehung der Kinder einerseits und Erwerbsarbeit andererseits. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzieht sich eine stärkere Ausdehnung bislang latenter Familienformen durch die Aufhebung rechtlicher Einschränkungen der Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen. Hervorzuheben sind die Gleichstellung von Frauen und Männern in Partner- und Elternbeziehung, das Zusammenleben nicht verheirateter Partner, aber auch das homosexueller Partner mit ihrer Möglichkeit der Elternschaft und Ehe. Zum zweiten Aspekt: Gerade in den nichtlinearen Phasen der Moderne, besonders während der NS-Zeit und in der DDR, zeigt sich das paradoxe Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Familien von einer Politik mit totalitären Verfügungsansprüchen. Einerseits griff der Staat früh auf die Kinder und Jugendlichen zu mit der Intention ihrer ideologischen Beeinflussung, andererseits blieb die Familie oft der einzige Ort, der Schutz vor Indoktrination bot und an dem offen gesprochen werden konnte. Der Eigensinn der Familie gegenüber anderen Teilen in der Gesellschaft kommt auch im Schlussgedanken von Matthes zum Ausdruck: Die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierende Familienform: Mann, Frau, Ehe mit »starrer Geschlechtsrollenstereotypisierung« und zwei Kindern war in Theorie und Praxis nie alternativlos (S. 33).
Wie lässt sich der Eigensinn der Familien theoretisch begreifen? Barbara Thiessen versucht dies mit dem sogenannten »Doing-Family-Konzept«, mit dem »Tiefenstrukturen von Familie« (S. 37) nachzuzeichnen und zu verstehen seien.5 Dabei bezieht sich das »Doing« auf die Herstellung von Gemeinsamkeit und Identität als Familie, »Undoing« (S. 48) auf Gegenbewegungen wie die Distanzierung bis hin zur Auflösung und Zerstörung von Beziehungen und schließlich »Not Doing Family« (S. 49), also all jene Beziehungen außerhalb der Familie wie die Berufstätigkeit, zu der auch die professionelle Erziehung und Sorgearbeit gehören. Es mag an der theoretischen Reichweite des Konzeptes liegen, dass zum einen der Familie Eigensinn und Selbstgestaltung zugeschrieben wird, zum anderen aber, dieser Eigensinn nicht ernst genommen wird. Nicht nur in Politik und Religion, auch in den Sozialwissenschaften wird das, was als Familie gilt, programmatisch gerahmt, und dabei kann unbeobachtet bleiben, wie Familie möglich ist. Für Thiessen sind Familien »auf Verbindlichkeit angelegte Sorgebeziehungen zwischen Generationen in privaten Kontexten« (S. 39). Kurzum: Als Familie gilt nur, wenn drei Kriterien erfüllt sind: »auf Dauer angelegt, intergenerational, careorientiert«. Weder das »Zusammenleben in einem Haushalt« noch »romantische Liebesbeziehungen oder sexuelle sowie geschlechtliche Positionierungen« seien »hinreichende oder bedeutsame Kriterien« (S. 39). Solche theoretischen Vorgaben kann man konstruieren, aber sie sind nicht notwendig, zumal dieses Eingrenzen auch empirisch nicht zu begründen ist und einen Eigensinn der Familie ausgrenzt. Tatsächlich ist das bedeutsame semantische und strukturelle Kriterium der Familie ihre eigensinnige Selbstbezüglichkeit. Denn was sich in der Moderne als Familie aktualisiert im voneinander abhängigen Verhältnis der Ideen und Erwartungen, bestimmt die einzelne Familie für sich selbst. Zu unterscheiden ist danach, was zur Familie zählt, und wie sie benannt wird. Zu den notwendigen Merkmalen der Familie gehören weder eine Reproduktionsfunktion noch eine Generationsbeziehung, auch solche Merkmale wie Solidarität, Exklusivität und relative Dauerhaftigkeit bedienen den Zähler und nicht den Nenner. Hat Elternschaft eine Generationsbeziehung, kann Familie auf sie verzichten. Empirisch reicht das Spektrum von Familienformen ohne Elternschaft und Kindschaft bis hin zu Familienformen mit unterschiedlichen Konstellationen von Partnerschaft, Elternschaft und Kindschaft.6
Steigerung der Möglichkeiten – Risiken der Überforderung
Die Selbstgestaltung der Familien ist abhängig von Erwartungen des Rechts. Das Recht kann die Selbstgestaltung einschränken und erweitern. So gelten rechtlich in Deutschland als Familie nur Eltern-Kind-Beziehungen. Das Kind kann höchstens zwei rechtliche Eltern haben. Geregelt wird das Verhältnis der Eltern untereinander und zu den Kindern etwa mit Blick auf Abstammung, Sorge und Umgang. Das Recht tritt gegenüber der Familie jedoch nur dann in Erscheinung, wenn es darum geht, einen Konflikt zu regulieren, und hält sich ansonsten aus dem Leben der Familie heraus – zumindest in einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie. Als Maßstab für die ungleiche Behandlung von Familienformen dient dem Recht das grundsätzlich, auch rechtlich unbestimmbare Wohl des Kindes. Soweit der gegenwärtige Zustand. Der Beitrag von Karin Neuwirth zeigt aber auch, dass die Selbstgestaltung der Familien kontinuierlich rechtlich ausgedehnt und abgesichert worden ist. Der Motor für diese Entwicklung sind in (West-)Deutschland seit den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart seltener die Parlamente als die Höchstgerichte wie das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof gewesen. Sie haben Verstöße bestehender Normen gegen die gleichberechtigte und gleich gültige Teilnahme der Individuen an Familien aufgezeigt und, auch gegen Vorstellungen in der Politik, die Legislative aufgefordert, bestehende Gesetze zu ändern. Dazu zählt nach Neuwirth in den 1970er-Jahren die Gleichheit von Frau und Mann im Ehe- und Familienrecht, in den 2000ern die Gleichbehandlung der ehelich und nicht ehelich geborenen Kinder sowie der Eltern ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung.
Auch künftig dürfte es darum gehen, die rechtlichen Möglichkeiten von Familie zu erweitern und an die faktischen Wirklichkeiten der Familien anzupassen. Zu nennen sind hier besonders:
- Formen von Co-Elternschaft mit drei und mehr Eltern, Queerfamilien mit mehr als zwei homosexuellen Eltern, etwa mit zwei Müttern und zwei Vätern;
- Zugänge zu den gegenwärtigen und künftigen Techniken der Reproduktionsmedizin wie (a) die Gleichstellung weiblicher und männlicher Infertilität, also der bislang verbotenen Eizellspende durch ihre Legalisierung mit der bereits legalen Samenspende oder (b) die Orientierung des Rechts am faktischen Wohl der Kinder, die durch Leihmutterschaft geboren wurden.7
Im Ergebnis stünde eine rechtliche Entgrenzung der Zwei-Elternschaft und einer kulturell überformten biologischen Zweigeschlechtlichkeit. Der biologischen Abstammung würde weniger Bedeutung beigemessen und der sozialen Elternschaft würden mehr Möglichkeiten eingeräumt. Im Mittelpunkt stünden das Wohl des Kindes und seiner faktischen Eltern, ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer Anzahl.
Die Steigerung der Möglichkeiten von Elternschaft und Familie birgt Risiken der Überforderung. Elisabeth Zschiedrich weist auf einige dieser Risiken im Verhältnis privater und öffentlicher Erwartungen hin (S. 79). Die Entscheidung für Kinder, für Elternschaft und Familie kann ökonomisch belasten durch finanzielle und berufliche Einschränkungen, die individuelle Identität und die Stabilität einer Partnerschaft negativ beeinflussen, und schließlich kann die Erziehung, die Pflege und Sorge des Kindes die Eltern und das Kind überfordern.
Neue Risiken der Überforderung
Darüber hinaus sind neue Risiken der Überforderung hinzugekommen, zum einen durch eine Entdifferenzierung bislang getrennter Teilbereiche der Gesellschaft, zum anderen durch die Inanspruchnahme der Reproduktionsmedizin.
Bis Mitte des 17. Jahrhunderts dominierte das »Ganze Haus« als Einheit von Familie, Wirtschaft, Erziehung, Recht und Herrschaft die Lebensformen der Bauern und Handwerker. Dies änderte sich grundlegend mit dem bereits oben genannten Wandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Eine sogenannte funktional differenzierte Gesellschaft begann sich durchzusetzen mit der Trennung von Wohnen, Arbeiten und schulischer Erziehung; abstrakt formuliert: von Familie, Wirtschaft und Erziehungssystem. Mit der Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit entstanden dort Wohn-, Kinder- und Schlafzimmer und hier Fabriken, Büros und Klassenzimmer. Die funktionale Differenzierung hat gleichsam zu einer Entflechtung von Aufgaben und zu einer Verselbständigung der verschiedenen Bereiche geführt. Diese Entwicklung gilt als eine »notwendige Bedingung« für die Möglichkeit der modernen Familie, »ein sich selbst steuerndes System« dauerhafter höchstpersönlicher Beziehungen zu entwickeln.8 Progressiv galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Abschaffung der Heimarbeit: Das Arbeitsgerät im Schlafzimmer galt als Relikt aus düsteren Zeiten. Heute »erfreuen« sich Mutter, Vater und Kind am Laptop im Schlaf- und Kinderzimmer oder am Küchentisch. Homeoffice und während der Pandemie Homeschooling haben zu einer Entdifferenzierung von bislang räumlich und sozial getrennten Sphären geführt. Die traditionale Vermischung von Arbeiten, Unterricht und Wohnen widerspricht jedoch der Funktion der modernen Familie, die Erwartungen ihrer Mitglieder möglichst umfassend zu erfüllen, und kann deshalb das heutige Familienleben erschweren und gefährden. Privilegiert sind dann jene im Homeoffice, die sich nicht um Haushalt und Erziehung kümmern müssen, die eine Vermischung der Sphären nicht zu befürchten haben. Hier schimmert das von Ulrich Beck beschriebene Marktindividuum durch, das alleinstehend ist, unbehindert von Partnerschaft, Ehe und Familie.9
Auf dem Weg zum Wunschkind mit Hilfe der Reproduktionsmedizin gilt es: a) die Ontologie der Unfruchtbarkeit zu überwinden, die Kontrolle über den eigenen Körper zurückzugewinnen durch die psychische Macht des Willens und der sozial assistierten Empfängnis.10 Die Möglichkeit, die physiologischen Beeinträchtigungen zu beheben, geht einher mit der selbst gewählten Notwendigkeit, die Fertilität herzustellen. Auch dann, wenn die körperlichen, psychischen und sozialen Reserven aufgebraucht sind. b) das biologische Material zu optimieren, etwa durch eine Präimplantationsdiagnostik oder die penible Auswahl der Samenspende. c) die Deszendenz, also die biologische Abstammung neu zu bewerten und »das genetische Patchwork der Familien« freizulegen. Statt Geheimnis und Ausschluss entwickelt sich eine Vorstellung von einer Großfamilie, die »randständige Figuren« wie Samenspender, Eizellspenderin und Halbgeschwister mit den sozialen Eltern zu integrieren versucht.11
In allen drei Situationen vollzieht sich ein zentrales Merkmal der Moderne – eine Umstellung von Fremdgestaltung auf Selbstgestaltung: von biologischer Ontologie auf Selbstkontrolle, von biologischem Zufall auf Selbstselektion, von selbstverständlicher Blutsverwandtschaft auf optionale Einschließung des ausgeschlossenen Dritten. Die Möglichkeit selbst zu entscheiden, geht jedoch einher mit der Notwendigkeit, entscheiden zu müssen. Kinderlosigkeit, biologische Disposition und Verwandtschaft sind nun weder Schicksal noch Vorgabe. Doch sie haben eine Kehrseite: Sie können umschlagen in ad a): ein Diktat der Fruchtbarkeit, ad b): einen Zwang zur Prävention und ad c): eine Überforderung der multiplen Elternschaft.12
Ambivalenz von Elternschaft im Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit
Elternschaft ist ambivalent. Sie kann einerseits zeitweise individuell überfordern und als Last empfunden werden und – so Zschiedrich – andererseits zur »persönlichen Entwicklung und Selbstvergewisserung« (S. 83) beitragen und auf diese Weise die Inklusion der Eltern durch die Gesellschaft stärken. Ambivalent ist nicht nur das Verhältnis von Individuum und Familie, sondern auch das der Familien zu anderen Bereichen der Gesellschaft. Es wird bestimmt von der sozialen Anerkennung der Eltern, aber auch durch »kinder- und elternfeindliche Tendenzen« (S. 84) und einer zunehmenden Einschränkung der Selbstgestaltung der Familie durch »normative Leitbilder und rechtliche Regelungen« (S. 85). Zschiedrich nennt hier »die Norm der bestmöglichen Gewährleistung des Kindeswohls« (S. 85). In der Gesellschaft wird – wie bereits Max Wingen hervorhob – eine »verantwortete Elternschaft« gefordert.13 Kinder liefen nicht mehr neben her, sondern ihre Erziehung sei »intensiv« durch die Eltern zu begleiten und »in möglichst optimaler Weise zu gestalten« (S. 85).
Aus verschiedenen Gründen gibt es in der Gesellschaft dieses Interesse an den Leistungen der Familie. Neben Erziehung und Sozialisation ermöglicht die Familie Raum und Zeit für die physische und psychische Regeneration ihrer Mitglieder. Die Wirtschaft ist interessiert wegen der Erwerbsfähigkeit der Mütter, Väter und jungen Erwachsenen, die Schule wegen der Schulfähigkeit der Kinder, die sozialen Sicherungssysteme wegen der Erziehung der Kinder und Pflege der Kranken, und schließlich die Politik wegen mündiger Bürgerinnen und Bürger, die nicht nur für sich selbst Verantwortung übernehmen, sondern auch für ihren Staat, in Deutschland für einen demokratisch verfassten Rechtsstaat. Es ist eine Folge der funktionalen Differenzierung, dass in Familien durch ihre Konzentration auf eine Funktion: die Inklusion des Individuums als ganze Person, die Erziehung und Pflege zeitlich und sachlich am effizientesten geleistet werden kann. Erziehung und Pflege sind zwar auch außerhalb der Familie möglich, aber sie kosten mehr Zeit und Geld.
Somit ist Familie nie allein nur »reine Privatsache«. Das Verhältnis von Familie und anderen Teilen der Gesellschaft ist stets bestimmt durch Unabhängigkeit und Abhängigkeit, von eigensinniger Selbstgestaltung der Familien und Forderungen sowie Leistungen, die an anderen Orten in der Gesellschaft gestellt beziehungsweise erbracht werden.
Co-Elternschaft und das Wohl des Kindes
Neue Familienformen mit homosexuellen Eltern oder Co-Elternschaft stehen unter besonderer Beobachtung, dass sie das Wohl des Kindes nicht gefährden. In den Auffassungen vom Wohl des Kindes und seiner vermeintlichen Gefährdung steckt ein Misstrauen in die Erziehung der faktischen Eltern und damit in die Fähigkeit, eine Familie selbst zu gestalten. Deutlich wird dies in den beiden Beiträgen von Bernadette Breunig und Angelika Walser zum »Co-Parenting«.
Nach Breunig unterscheiden sich Co-Eltern-Familien von einer »klassischen« Familie wesentlich darin, dass Freundschaft und nicht Liebe ihre Beziehungen bestimmt und deshalb das Kind zumeist mittels reproduktionsmedizinischer oder anderer Maßnahmen gezeugt wurde und nicht durch einen sexuellen Akt (S. 95). Beide Co-Eltern tragen die familiale und rechtliche Verantwortung für das Kind. Daneben können beide Co-Eltern, jeweils Liebesbeziehungen zu weiteren Partnern und Partnerinnen unabhängig von deren sexuellen Orientierung haben, die auch an der Erziehung des Kindes teilnehmen können. Bei Partnerschaft, Wohnsituation und Aufgabenverteilung sind daher viele Varianten möglich. Der Ausschluss einer Liebesbeziehung bei geteilter elterlicher Verantwortung werde beispielsweise darin sichtbar, dass manche Frauen gezielt homosexuelle Männer als Co-Väter suchten (S. 101).
Co-Elternschaft sei für homosexuelle und heterosexuelle Personen eine Möglichkeit ihren Kinderwunsch zu erfüllen, ohne die vermeintlichen Risiken eingehen zu müssen, die mit den hohen Erwartungen einer Liebesbeziehung zwischen den Eltern einhergingen. Im Mittelpunkt stehe dabei stets das Wohl des Kindes.
Bislang fehlt empirische Forschung über die Stabilität und Verlässlichkeit der Eltern-Kind-Beziehung und der Beziehung zwischen den beiden Co-Eltern. Aber im Rahmen ihrer kleinen Studie ist Breunig zu dem Ergebnis gekommen, wer sich für Co-Parenting entscheidet, will sich um das Kind kümmern und an der Erziehung des Kindes beteiligen.14 Angesichts des hohen Aufwandes, den besonders homosexuelle Personen für ihre Elternschaft in Kauf nehmen, sei es wohl wenig verwunderlich, dass die interviewten Eltern der Familie »einen hohen Stellenwert« zuschreiben und in ihr »eine dauerhafte lebenslange Gemeinschaft« sehen (S. 103).
Co-Parenting ist allerdings nicht nur eine Eltern-Kind-Beziehung, sondern auch eine Beziehung der Erwachsenen. Hier sieht Walser in ihrer kritischen Würdigung des Co-Parenting Unterschiede. Die Würde und das Wohl des Kindes sieht sie im Co-Parenting »als durchaus stabil und verlässlich« gewährleistet (S. 109). Hingegen beurteilt sie die Elternbeziehung »aufgrund des unklaren Commitments der beteiligten Erwachsenen« als eher »fragil« (S. 109). Sie fragt sich, ob die allumfassende Verantwortung und Sorge für den anderen zweifelsohne dem Kind, aber auch zweifelsfrei dauerhaft für den anderen Erwachsenen gelte. In der Familie gehe es »nicht nur um die Verantwortung für ein Kind, sondern auch um die Verantwortung der beteiligten Erwachsenen füreinander« (S. 119). Sie konstatiert eine »Bindungsschwäche« zwischen den Eltern beim Co-Parenting, die nicht »spurlos« am Kind vorbei gehen dürfte (S. 119).
Beide Autorinnen bewerten die Co-Elternschaft aus der Perspektive einer katholisch-theologischen Familienethik und verknüpfen sie mit der Soziologie, die der Liebe eine spezifische Semantik zuschreibt: Freunde kann man viele haben, Liebe hingegen bevorzugt die Exklusivität einer Zweierbeziehung und die Höchstrelevanz der anderen Person. Die Romantik mag im Laufe der Zeit vergehen, aber die Liebe nicht. In der alltäglichen Praxis ist sie primär problem- und lösungsorientiert, also die gesellschaftliche Funktion der Familie: die Inklusion der beteiligten Individuen als Vollpersonen und nicht jeweils nur durch ihre einzelnen Rollen, zu ermöglichen.
Einerseits erkennen beide Autorinnen die »Spannung zwischen Idealen und Normen der offiziellen katholischen Familienethik (…) und der Realität gelebten Lebens moderner Familien« (S. 111), und nehmen eine »positiv-würdigende Perspektive auf plurale Familienformen« (S. 105) ein, andererseits »soll nicht einer undifferenzierten Gleichgültigkeit aller Familienformen das Wort geredet werden« (S. 123). »Die katholisch-theologische Vorstellung von der Institution Ehe als Liebes-, Fortpflanzungs- und Verantwortungsgemeinschaft« liefere als »Leitbild« den »äußerst günstigen« Rahmen für das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen (S. 123). In ihrer wohlwollenden Inkaufnahme anderer Familienformen bleibt dieses Ideal der Maßstab, an dem sich die Familie mit der Co-Elternschaft zu messen hat.
Familie – ein dichtes Netzwerk aus Beziehungen
Einen ambivalenten Eindruck hinterlässt auch der folgende Beitrag von Gottfried Schweiger. Gleichsam verdienstvoll und problematisch ist, dass er das Augenmerk von den Familienformen auf die sozialen Beziehungen lenkt, und dass es eben nicht die Familie sei, die zähle, sondern nur »gelungene Beziehungen in Familien« (S. 125).
Das Problem liegt im Ziel des Autors, »den Wert der Familie unter dem Gesichtspunkt der politischen Philosophie nachzugehen« (S. 126). Den Rahmen bildet eine liberale politische Ordnung, ihre Aufgaben und Legitimation, hier: die Verteilung und soziale Gerechtigkeit familienpolitischer Maßnahmen, ihre Äquidistanz zu den verschiedenen Familienformen und ihre Legitimation durch die Antwort auf die Frage: Ist die Familie ungeachtet ihrer Konstellationen ein »politischer Wert«, der zu einem »objektiv guten Leben« beitrage? Die Antwort sucht er in drei Beziehungsformen: Liebe, Fürsorge und Erziehung und nicht in bestimmten Familienformen. Liebe kann drei Formen annehmen: »die romantische, freundschaftliche und familiäre Liebe«; die letzte Form umfasst »die elterliche, kindliche und geschwisterliche Liebe« (S. 129). Im Gegensatz zur Liebe können Fürsorge und Erziehung auch professionalisiert werden. Die drei Beziehungen werden trotz ihrer auch defizitären Seiten »zumeist als positiv verstanden« und sind deshalb »Dimensionen eines objektiv guten Lebens« (S. 133). Die Menschen haben einen »moralischen Anspruch«, »dass Liebe, Fürsorge und Erziehung in einem ausreichenden Maße und ausreichend gut vorhanden sind« (S. 133). Es sei Aufgabe der politischen Ordnung in Form des Staates diese Beziehungen zu fördern und zu schützen. Dieser Anspruch impliziere: »Solche Familien, denen es an diesen Beziehungen fehlt, verdienen auch keine Förderung durch die Öffentlichkeit und den Staat« (S. 138).
Auch wenn sich ein liberaler Staat zurückhalten mag bei der genauen Ausgestaltung dessen, was »richtig« ist in Liebe, Fürsorge und Erziehung, und dies weitgehend den Menschen selbst überlässt, bleibt die Frage: Wenn die Erziehung in der Familie etwa durch einen Alkoholismus der Eltern aus Sicht von Staat oder Schule zu misslingen scheint, wäre dann die staatliche Förderung zu beenden, das Kindergeld und der Aufenthalt im Kindergarten zu streichen, die Familie nicht mehr schützenswert? Die normativ aufgeladenen Argumente verschleiern nur den Blick darauf, welche kulturelle Bedeutung den familialen Beziehungen wie zugeschrieben wird, und schließlich den sachlichen Blick auf eine Unterscheidung von Funktion und Leistungen, jene mit Bezug zur Gesellschaft als Ganzes und diese hinsichtlich der Teile der Gesellschaft. Eigensinn und Selbstgestaltung bestimmen das Wie im dichten Netzwerk familialer Beziehungen ungeachtet der jeweiligen Familienform; zudem von außen allenfalls in kleinen Ausschnitten und ausschließlich über die beteiligten Personen, die Eltern und Kinder, beobachtbar. Die Beziehungen vollziehen sich mit Bezug nur auf die beteiligten Personen mit ihren umfassenden Erwartungen. Die jeweilige Familie erfüllt mehr oder weniger ihre gesellschaftliche Funktion, wie es ihr gelingt, diese individuellen Erwartungen zu erfüllen. Diese eigensinnige Selbstgestaltung vollzieht die einzelne Familie nur für sich und nicht für die Gesellschaft, aber dadurch, dass die Familie sie nur in der Gesellschaft vollziehen kann, kann sie wichtige Leistungen für andere Bereiche der Gesellschaft erbringen. Zu den spezifischen Leistungen der Familien gehört, dass sie ihre Kinder auf die spätere Beteiligung in Schule, Wirtschaft und Staat vorbereiten und mit den jeweils dort geltenden Regeln vertraut machen, also das Kind in einer liebenden und sorgenden Weise zu befähigen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Eltern übernehmen damit umfassende Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder, Familien übernehmen Verantwortung und damit Zeit und Kosten für die Pflege und Sorge kranker oder alter Familienmitglieder. Schweiger ist insofern zuzustimmen, als die Familie austauschbar ist hinsichtlich ihrer Leistungen, die auch außerhalb der Familie erbracht werden können (S. 133–134). Nicht austauschbar ist dagegen die Familie in ihrer Funktion, als der Ort in der modernen Gesellschaft, an dem mittels Liebe, Fürsorge und Erziehung die einzelne Person umfassend möglich sein kann. Kurzum: Allein die Funktion begründet die Existenz der Familie der modernen Gesellschaft. Eine Familie gründet sich hingegen nicht wegen ihrer möglichen Leistungen für andere Bereiche der Gesellschaft.
Leihmutter und Co-Eltern – Personen multipler Elternschaft
Zwei Beiträge zum Verhältnis von normativen Familienbildern und neuer Reproduktionsmedizin beschließen den Band »Familie im Wandel«. Das Verhältnis ist paradox. Die moderne Form von Leihmutterschaft ist ohne den Einsatz moderner Reproduktionsmedizin nicht möglich, auch das Co-Parenting dürfte durch die neuen Techniken eher erleichtert werden. Zugleich enthalten beide Familienformen »Potenziale existenzieller Irritationen« kultureller Gewohnheiten.15 Einerseits vollziehen diese Techniken das, was als Ideen von Familie bereits manifest ist. Die Techniken der Reproduktionsmedizin können als »evolutionäre Errungenschaften« aufgefasst werden, »als Herausforderung dessen, worauf es vor allem ankommt«.16 Sie sollen die Bildung von Familie erleichtern und fördern.17 Sie dienen einer Normalität von Elternschaft, also dem, was im Alltag als Elternschaft zunehmend selbstverständlich gelebt und anerkannt wird. Andererseits können Ideen von Familie die Anwendung neuer Techniken der Reproduktionsmedizin rechtlich oder religiös einschränken.
Nikolai Münch zeigt in ihrem Beitrag, dass normative Vorstellungen von Familie, Mutterschaft und Geschlecht die zentralen Einwände gegen Leihmutterschaft bestimmen. (siehe i-Punkt »Formen der biologischen und sozialen Mutterschaft«). Hinter der »Kritik an einer Verdinglichung und Kommodifizierung von Kind und Leihmutter, aber auch der Sorge vor einer Gefährdung des Kindeswohls« (S. 141) stehe ein Verständnis von Familie als »Scharnier zwischen Natur und Kultur« (S. 143). Solche »Naturalisierungen« kultureller Zusammenhänge sind beim Thema Familie besonders häufig und können mit der Exklusion anderer Personen einhergehen. Sie leugnen dann deren Selbstbestimmung und Teilnahme an Elternschaft und missachten die Selbstgestaltung der Familie.18 Bei der Leihmutterschaft wird die traditionale Einheit von biologischen und sozialen Rollen als Differenz vollzogen, wenn sich die Mutterrolle in austragende Mutter, genetische Mutter und soziale Mutter aufspaltet, »und so Vorstellungen zu Familie und Familiengründung nachhaltig irritiert« (S. 143). Hierzu gehören seit dem 18. Jahrhundert gewachsene Vorstellungen davon, was eine gute Mutter ausmache, und die Überzeugung, dass die Mutter und ihre Beziehung zum Kind prägend für das Bild von Familie sei (S. 149). Damit ging eine sich vertiefende »Polarisierung und Naturalisierung von Geschlechterrollen« einher: die »Mutterliebe« als normative Anforderung und zugleich natürlich, da biologisch und psychologisch bedingt, mit der alleinigen Verantwortung für die Sorge und Erziehung der Kinder; eine Liebe des Vaters, »die für die Entwicklung des Kindes, wenn überhaupt, nur am Rande von Belang« war (S. 149).
Normativ aufgeladene Familienbilder können die Anwendungen der Reproduktionsmedizin präformieren, umgekehrt können die neuen Techniken Familienideale und -realitäten verändern. Diesen Einfluss erörtert aus ethischer Sicht Markus Zimmermann vor allem mit Blick auf das Co-Parenting. Die moderne Reproduktionsmedizin trage zu einer »starken Ausweitung der reproduktiven Autonomie« bei (S. 174). Gleichzeitig sei mit der Ausweitung der Familienrealitäten eine gewisse »Re-Orientierung« an »traditionale Geschlechterbilder und Arbeitsteilungsformen« zu beobachten. Offensichtlich haben die neuen Techniken »keinen oder kaum einen Einfluss auf Familienwerte- und -ideale« (S. 174). Für Zimmermann haben neue Formen von Elternschaft wie Co-Parenting nur einen utopischen Charakter, der sich, ungeachtet der Reproduktionsmedizin, kaum realisieren lässt. Denn egalitäre Vorstellungen von Gender und Rollenzuteilungen in der Elternschaft führten weiterhin in der familialen Praxis zu großen Problemen.
Fazit
Der Band »Familie im Wandel« ist durchweg gut lesbar und voll gespickt mit sachlicher Information zu neuen Familienrealitäten und Techniken der Reproduktionsmedizin. Welches weitere Fazit lässt sich durch die soziologischen Anmerkungen aus systemtheoretischer Perspektive ziehen? Das »Lebensproblem« der modernen Familie entfaltet sich ungeachtet ihrer vielfältigen Formen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: »wie aus individuell absolut verschiedenen und dabei gleichberechtigten Persönlichkeiten« eine soziale Einheit werden könnte.19 In dieser Funktion zeigt sich der Wert der Familie. Eine eigensinnige Selbstgestaltung kennzeichnet das Zur-Einheit-Bringen. Sie ist unverzichtbar für die moderne Familie. Denn nur auf diese Weise ermöglicht die einzelne Familie das Erleben der Einzigartigkeit des jeweils anderen Familienmitgliedes, kann die einzelne Familie ihre Einheit als Vielheit individuellen Eigensinns vollziehen. Zu ihr gehört die selbstbestimmte Trennung biologischer und sozialer Sachverhalte ebenso wie die soziale Wertschätzung der biologischen Abstammung. Besonders politische, rechtliche und ökonomische Erwartungen können die Selbstgestaltung der Familien erschweren und erleichtern. Gelungene familiale Beziehungen zeichnen sich dann nicht darin aus, ob sie extern, etwa politisch, als gut oder nicht gut bewertet werden, sondern ob und wie die Beziehungen Erwartungen der beteiligten Familienmitglieder erfüllen oder enttäuschen. Der Eigensinn wird von einer Semantik der Liebe bestimmt, wie sie bereits Niklas Luhmann differenziert ausgeführt hat: Die moderne Liebe gibt sich die Gesetze selbst, »und zwar nicht abstrakt, sondern im konkreten Fall und nur für ihn«.20 In ihrer Vernunft ist sie in ihrem Möglichkeitssinn gleichsam allumfassend und selektiv diesseits und jenseits traditionaler Leidenschaft und Romantik.