:: 1/2004

»Glaubwürdigkeit der Information ist unser Markenzeichen«

Präsidentin des Statistischen Landesamtes will den wachsenden Anforderungen mit stärkerer Rationalisierung begegnen

Statistiken bilden wichtige Entscheidungsgrundlagen für die Beurteilung der gesellschaftlichen Lage. Das Statistische Landesamt bietet Informationen zu den unterschiedlichen Bereichen, vom Apfelertrag bis zur demografischen Entwicklung. Informationen, die zunächst gesammelt und verarbeitet werden müssen. Über die Situation des öffentlichen Statistikwesens erschien im Staatsanzeiger für Baden-Württemberg ein Interview von Klaus Fischer mit der Präsidentin des Statistischen Landesamtes, Gisela Meister-Scheufelen. Wir geben dieses in Auszügen wieder.

Fischer: Frau Meister-Scheufelen, ist das öffentliche Statistikwesen ein aufgeblähter Kropf?

Meister-Scheufelen: Das öffentliche Statistikwesen umfasst inzwischen einen umfangreichen Aufgabenbereich, eine Vielzahl von Lebenssachverhalten, vorwiegend im Wirtschaftsbereich, wobei man durchaus fragen muss, ob das alles sein muss, beispielsweise im Landwirtschaftsbereich. Aber wir haben auch Lücken, die wir eigentlich schließen müssten, wenn wir eine fundierte Konjunktur- oder Strukturanalyse für Baden-Württemberg oder für Deutschland machen wollen. Dies gilt beispielsweise für den Dienstleistungsbereich: Wir erfassen nach wie vor nicht den wichtigen Wachstumsbereich der Humandienstleistungen.

Fischer: Warum müssen denn die Ernteerträge von Obstbäumen und die Zahl der Koch- und Bratwürste der Metzgereien erfasst werden? Das hatte früher vielleicht einmal Bedeutung zur Ernährungssicherung, ist aber heute doch überholt?

Meister-Scheufelen: Die Obstbäume und speziell der Apfelertrag werden aufgrund von EU-Beschlüssen statistisch erhoben. Die Europäische Union ist daran interessiert, in jeder Hinsicht die Struktur und die Produktion der landwirtschaftlichen Betriebe und entsprechende Veränderungen einschließlich sozioökonomischer Tatbestände zu erfassen. Das Interesse der EU an diesen Statistiken besteht darin, dass sie im Wesentlichen ihre Subventionen daraufhin überprüfen will, ob sie ihre Förderrichtlinien verändern muss: Übrigens hat auch das baden-württembergische Landwirtschaftsministerium großes Interesse an diesen Statistiken, denn 60 % der deutschen Apfelproduktion stammen aus dem Land. Allerdings erbringt die Landwirtschaft nur noch 1,2 % der Bruttowertschöpfung aller Wirtschaftsbereiche; deshalb haben wir diese Statistik auch zur Streichung vorgeschlagen. Was die Koch- und Bratwürste betrifft, so betreffen diese den Produktionsbereich der Nahrungsmittelindustrie.

Das entsprechende Güterverzeichnis umfasst 6 100 Arten; davon werden ungefähr 4 500 Güter für die EU erfasst. Das heißt, dass 1 600 Güter nicht aufgrund einer Entscheidung der EU, sondern des Bundes statistisch erfasst werden. Diese Daten werden auch nur an den Bund gemeldet, der sie für seine Marktanalysen verwendet.

Fischer: Es gibt also doch Erhebungen, die überflüssig sind. Sie selbst haben ja eigene Vorschläge zur Abschaffung von Statistiken gemacht – warum sind Sie damit nicht durchgedrungen?

Meister-Scheufelen: Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg zeichnet sich bundesweit traditionell dadurch aus, dass es regelmäßig Streichvorschläge macht, und wir setzen uns mit einer Reihe von Vorschlägen auch immer wieder durch. Aktuell setzen wir uns für die Streichung von 15 Statistiken und sechs Prüfauträgen ein. Was das Güterverzeichnis für die Produktionsstatistiken betrifft, so haben wir uns damit nicht durchgesetzt, weil das Bundeswirtschaftsministerium dem Wunsch des Bundesverbands für Ernährungswirtschaft nach solchen Statistiken Rechnung trägt.

Fischer: 90 % der Erhebungen werden vom Bund und von der EU vorgeschrieben. Der Rest bezieht sich wohl auf landesspezifische Statistiken.

Meister-Scheufelen: Wir erstellen als Landesamt ungefähr 250 Statistiken im Jahr. Der Bund macht darüber hinaus noch etwa 50 eigene Statistiken. 72 % der Statistiken werden aufgrund von EU-Beschlüssen erstellt, von denen die meisten erst innerhalb der vergangenen zehn Jahre gefasst wurden. Die EU hat ein ganz stark anwachsendes Informationsbedürfnis. Knapp 10 % der Statistiken beruhen auf Landesrecht. Die meisten davon werden in

einem so genannten koordinierten Verfahren erstellt; das sind zum Beispiel Schulstatistiken, weil die Länder ja über die Kulturhoheit verfügen. Eine spezifisch baden-württembergische Statistik gilt beispielsweise der beruflichen Weiterbildung. Diese Statistik halten wir allerdings für gerechtfertigt, und auch die EU hält sie für so interessant, dass sie eine entsprechende Erhebung in ihr Programm aufnehmen will.

Fischer: Der Landesrechnungshof hat das öffentliche Statistikwesen kritisiert und eine stärkere Kooperation zwischen Bund und Ländern empfohlen. Aber gibt es eine solche Zusammenarbeit nicht schon?

Meister-Scheufelen: Diese Kooperation gibt es zum Teil. Der Rechnungshof moniert, dass 16 Länder exakt die gleichen Statistiken erheben. Es ist ja auch nahe liegend, eine stärkere Vernetzung anzuregen, um dadurch Kosten zu sparen. Allerdings gibt es auf einem Bereich schon eine strengere Aufgabenteilung. Sie betrifft die so genannte Verbundprogrammierung bei der Aufbereitung von Daten. Baden-Württemberg hat die Aufbereitungsprogramme für die Baugewerbe-Statistiken und Teile der Umwelt-Statistiken übernommen. Diese Arbeitsteilung hat sich bewährt, erfordert allerdings auch einen hohen Abstimmungsbedarf. Derzeit wird ein Reformpapier erarbeitet, mit dem das Ziel verfolgt wird, die arbeitsteilige Konzentration im IT-Bereich auszuweiten. Unser Ziel ist dabei natürlich nicht eine zusätzliche Arbeitsbelastung, sondern eine Entlastung.

Fischer: Was sagen Sie zu der Feststellung des Rechnungshofs, allein beim Statistischen Landesamt Baden-Württemberg könnten 200 Stellen eingespart werden, wenn die Arbeit besser rationalisert würde und das Land auf eine Reihe überflüssiger Statistiken verzichten würde?

Meister-Scheufelen: Wie schon ausgeführt, ist das Land für fast keine Statistik selbst verantwortlich. Vor allem aufgrund von Beschlüssen der EU nimmt das Aufgabenvolumen ständig zu. Richtig ist, dass die Arbeit des Statistischen Landesamtes stärker automatisiert werden kann. Tatsächlich sind wir bei der Datenerhebung noch im Postkutschenzeitalter, denn für 82 % der Statistiken werden uns die Daten nach wie vor auf Papier geliefert. Deshalb wollen wir die Datenerhebung automatisieren. In Zusammenarbeit mit dem Finanzministerium führen wir ein Projekt mit dem Titel »Medienbruchfreie plausibilisierte Datenlieferung« durch, mit dem ein elektronischer Fragebogen eingeführt wird. Das bringt eine nennenswerte Arbeitserleichterung. Allerdings sind die Berichtspflichtigen bis jetzt gesetzlich nicht zur elektronischen Anlieferung ihrer Daten verpflichtet.

Fischer: Und lassen sich durch die Rationalisierung Personalstellen einsparen?

Meister-Scheufelen: Wir hatten 1993 einen Bestand von 791 Stellen. Bis zum 1. Januar 2004 wurden insgesamt 18 % dieser Stellen eingespart, sodass wir 2004 über 648,5 Stellen verfügen.

Fischer: Wo erreicht die Sparaktion ihren kritischen Punkt?

Meister-Scheufelen: Das hängt vom Aufgabenumfang ab. Wenn immer mehr Statistiken zu erheben sind, schaffen wir das mit den rund 649 Stellen nicht mehr. Es gibt ja auch schon Bundesländer, die mit der Anlieferung ihrer Daten bis zu einem Jahr im Verzug sind. Im Übrigen hat der Landesrechnungshof die für möglich gehaltenen Stelleneinsparungen selbst von der Voraussetzung abhängig gemacht, dass eine stärkere Rationalisierung eingeführt wird und keine nennenswerten neuen Aufgaben auf uns zukommen.

Fischer: Wenn die große Mehrheit der Daten immer noch auf Papier angeliefert wird, böte die elektronische Datenverarbeitung doch erhebliche Möglichkeiten zur Rationalisierung des Geschäftsablaufs.

Meister-Scheufelen: Immerhin sind alle 4 000 Schulen in Baden-Württemberg schon mit Computern ausgestattet, nicht allerdings die Privatschulen und die Schulen im Verantwortungsbereich des Sozialministeriums und des Landwirtschaftsministeriums. Und das Justizministerium will vom Jahr 2005 an alle Gerichte mit der elektronischen Datenverarbeitung ausstatten. Es geht also voran, und wir hoffen auf weitere Erleichterungen.

Fischer: Sie erhalten als öffentlicher Informationsdienstleister täglich einige hundert Anfragen. Von wem kommen die?

Meister-Scheufelen: Die Menschen und Institutionen, die sich an uns wenden, sind ein

repräsentativer Querschnitt unserer Gesellschaft. Vor allem erhalten wir Anfragen aus dem Bereich der Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung. Darüber hinaus gehören viele Wirtschaftsunternehmen, fast alle Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie die verschiedensten Interessenverbände zu unserer Klientel. Nicht zu vergessen sind hierbei aber auch privat interessierte Bürger, die aus den unterschiedlichsten Interessenlagen unsere Zahlen anfordern oder abrufen. Internet und E-Mail sind dabei mit weitem Abstand unsere wichtigsten Mittel der Kommunikation. Wenn Sie uns im Internet unter www.statistik-bw.de besuchen, sehen Sie, warum unser Auftritt von allen Seiten so gelobt wird. Übrigens: Bei Anregungen oder Kritik können Sie mir auch persönlich direkt eine E-Mail zusenden.

Fischer: Ist der Service eigentlich kostenlos?

Meister-Scheufelen: Die Grundinformation ist kostenlos; soweit die Auskunft den Zeitaufwand von einer Viertelstunde übersteigt, wird die Leistung in Rechnung gestellt. Aber alle Daten der informellen Grundinformation, also mit Ausnahme wissenschaftlicher Analysen und vertiefender Erhebungen, können übers Internet abgerufen werden.

Fischer: Statistiken sind wichtig als Entscheidungsgrundlagen für die Beurteilung der gesellschaftlichen Lage, für die Planung und zur Kontrolle von Entscheidungen. Lässt sich damit auch Politik beeinflussen?

Meister-Scheufelen: Insoweit, als Fakten die Politik beeinflussen. Ohne Statistik kann man keine Politik machen. Nehmen wir als Beispiel die Demografie. Bereits vor 20 Jahren hat mein Vorvorgänger Max Wingen schon auf die demografische Entwicklung hingewiesen, aber niemand hat ihm zugehört. Inzwischen halte ich alle zwei Wochen einen Vortrag über dieses Thema, insbesondere die Politik und die Wirtschaft haben daran großes Interesse. Eine fundierte Analyse ist eine hervorragende Voraussetzung für eine gute Politik. Aber ich stehe nicht unter Druck, es gibt keine Einflussnahme durch die Politik.

Fischer: Sie sind in besonderem Maße zur Neutralität und zur Objektivität verpflichtet. Wo ist die Grenze?

Meister-Scheufelen: Wir sind zur neutralen Berichterstattung verpflichtet. Wenn wir anfingen, in unsere Daten subjektive politische Meinungen zu integrieren, würde es mit Sicherheit Ärger geben. Wir legen die Zahlen so vor, wie sie sind. Daher haben unsere Informationen auch so eine hohe Glaubwürdigkeit. Das ist eines unserer Markenzeichen. Allerdings müssen wir die Fakten auch erklären und bewerten, und das ist manchmal eine Gratwanderung.

Fischer: Wie sehen Sie Ihre Rolle?

Meister-Scheufelen: Wir sind Zulieferer der Politik und aller Entscheidungsträger. Wir liefern die Informationen als wichtige Entscheidungsgrundlagen. Im Übrigen sind wir per Gesetz zur informellen Grundversorgung verpflichtet; darauf hat die Bevölkerung Anspruch. Dies schließt die Pflicht zur Veröffentlichung ein.

Fischer: Wäre es für die Unabhängigkeit des Statistischen Landesamtes nicht von Vorteil, wenn es selbstständig und nicht dem Finanzministerium unterstellt wäre?

Meister-Scheufelen: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dadurch nichts gewinnen würden. Die Nachordnung zum Finanzministerium verschafft uns ein hohes Maß an Unabhängigkeit, weil das Finanzministerium uns gegenüber keine Ressortinteressen verfolgt. Tatsächlich räumt das Finanzministerium der Statistik eine hohe Bedeutung ein.