:: 7/2004

Lebenserwartung in den Kreisen: bis zu drei Jahre Unterschied

Was sind die Gründe für die zum Teil erstaunlich hohen Sterblichkeitsunterschiede in Baden-Württemberg auf Kreisebene? Mit dieser Frage beschäftigt sich die diesem Text zugrunde liegende Studie. Es kann ausgeschlossen werden, dass die Differenzen allein auf Zufallsschwankungen oder Fehlern im Meldewesen beruhen. Eine Ursachenanalyse zeigt, dass Haupterklärungsgrund für die Sterblichkeitsunterschiede der sozioökonomische Status ist: In Kreisen mit hohem Einkommen leben die Menschen im Durchschnitt länger als in Kreisen mit geringem Einkommen. Der Einfluss des sozioökonomischen Status auf die Mortalität scheint durch höhere Bildung verstärkt oder sogar verursacht zu werden. Luftbelastung und Gesundheitsversorgung konnten nicht als diskriminierende Faktoren der Sterblichkeit in Baden-Württemberg festgestellt werden.

Diese Studie entstand in enger Zusammenarbeit zwischen dem Mannheimer Forschungsinstitut Ökonomie und demografischer Wandel (MEA) und dem Statistischen Landesamt Baden-Württemberg. Eine ausführliche Version ist erschienen in der Reihe Statistische Analysen, Regionale Mortalitätsunterschiede, herausgegeben vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg.

Lebenserwartung in Baden-Württemberg

Die Lebenserwartung der Baden-Württemberger lag im Jahr 2001 mit 77 Jahren für neugeborene Jungen und 82,7 Jahren für neugeborene Mädchen bundesweit an der Spitze. Innerhalb des Landes bestehen jedoch Unterschiede von bis zu drei Jahren zwischen den einzelnen Stadt- und Landkreisen, wie eine Berechnung der

Lebenserwartungen für die Jahre 1981 bis 2002 auf Basis sehr detaillierter Bevölkerungsbestands-, Geburts- und Todesfalldaten ergab. Schaubilder 1 und 2 stellen die durchschnittlichen Lebenserwartungen über den Zeitraum 1981 bis 2001 dar. Diese Zahlen sind aussagekräftiger als Werte für einzelne Jahre, weil jene stark durch kurzfristige, unsystematische Schwankungen beeinflusst werden. Die Werte für Männer liegen rund 6 Jahre unter denen für Frauen. Die Differenzen zwischen den Kreisen sind etwa halb so groß wie der Unterschied zwischen Männern und Frauen. In den Landkarten lässt sich leicht erkennen, dass die räumlichen Muster der Sterblichkeit für beide Geschlechter ähnlich sind. Für die Lebenserwartung von Männern finden sich die im Mittel höchsten Werte im Bodenseekreis und in den Landkreisen Tübingen, Böblingen, Esslingen und Breisgau-Hochschwarzwald. Die Schlusslichter bilden der Stadtkreis Mannheim, der Neckar-Odenwald-Kreis, die Landkreise Freudenstadt und Rastatt sowie die beiden Karlsruher Kreise. Bei den Frauen ergibt sich ein ähnliches Bild. Der Bodenseekreis und die Landkreise Tübingen und Breisgau-Hochschwarzwald bilden auch hier die Spitzengruppe, gefolgt von den Stadtkreisen Ulm und Stuttgart. Die geringsten Lebenserwartungen sind wiederum im Neckar-Odenwald-Kreis, im Stadtkreis Mannheim und in den Karlsruher Kreisen zu finden, hinzu kommt der Landkreis Heilbronn.

Zufallsschwankungen und Messfehler

Die gemessenen Lebenserwartungen werden durch Zufallsschwankungen beeinflusst. Auf Kreisebene ist dies besonders stark ausgeprägt, da die Bevölkerungen oftmals nur kleine Größen erreichen. Um auszuschließen, dass Zufallsschwankungen die beobachteten Muster erzeugt haben, wurde ein Simulationsverfahren verwendet. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass die Sterbewahrscheinlichkeiten in jedem Jahr für ganz Baden-Württemberg gleich sind. Zusammen mit dem Bevölkerungsbestand jedes Kreises wurden mittels eines Zufallszahlengenerators 1 000 Werte für die Zahl der Gestorbenen einer jeden Altersklasse erzeugt. Die auf dieser Basis berechneten Lebenserwartungen waren deutlich einheitlicher als die tatsächlich beobachteten Werte. Folglich konnte die Ausgangshypothese verworfen werden, die Sterbewahrscheinlichkeiten sind nicht im ganzen Land gleich. Mit anderen Worten: Zufallsschwankungen allein können die beobachteten Mortalitätsunterschiede nicht erklären, es liegen systematische Differenzen in den Lebenserwartungen vor.

Ein weiterer Grund für das Auftreten von Mortalitätsunterschieden in den Daten könnte auf systematischen Fehlern im Meldewesen beruhen. Geburten und Sterbefälle innerhalb Deutschlands werden in der amtlichen Statistik sehr gut erfasst. Problematisch sind Sterbefälle im Ausland sowie Zu- und Fortzüge. Es ist bekannt, dass es in diesen Kategorien erhebliche Erfassungsprobleme gibt.1 Die potenziellen Fehler wurden in enger Zusammenarbeit mit dem Statistischen Landesamt Baden-Württemberg in eine mathematische Form gegossen. So entstand ein Messfehlermodell, welches wiederum den Ausgangspunkt für eine Simulationsanalyse bildete. Die Ergebnisse waren eindeutig: Sämtliche plausibel erscheinenden Messfehler können nicht für die beobachteten Unterschiede verantwortlich sein.

Bestimmungsgrößen der Mortalität

Zur Ursachenanalyse wurde ein umfassender Datensatz aus veröffentlichten und unveröffentlichten Daten des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg, des Verbands der Deutschen Rentenversicherungsträger und des Sozialministeriums Baden-Württemberg erstellt. Darauf aufbauend wurde der Einfluss von sozioökonomischen Charakteristika, von Wanderungsbewegungen, des Gesundheitswesens sowie der Umweltbelastung mithilfe verschiedener Spezifikationen eines Regressionsmodells untersucht. Die wichtigsten Ergebnisse finden sich in der Übersicht (siehe Seite 6). Die Resultate entspringen sehr unterschiedlichen Regressionen, da die Daten zu den erklärenden Variablen in uneinheitlichen Zeitreihen vorlagen. So war das Renteneinkommen zum Beispiel nur für die Jahre 1999 bis 2002 vorhanden, die Messgrößen aus der Einkommensteuerstatistik dagegen für die Jahre 1983 bis 1995. Die Struktur der Daten sowie Messfehler warfen weitere Probleme auf, die hier nicht weiter thematisiert werden können.2

In Kreisen mit hohen Einkommen leben die Menschen im Durchschnitt länger. Dieses Ergebnis findet sich sowohl mit der Verwendung der Einkommensteuerstatistik als auch mit den Renteneinkünften als erklärender Variable. Beide Einkommensvariablen sind in allen Fällen negativ mit der Sterblichkeit korreliert, die Koeffizienten sind in den meisten Fällen statistisch signifikant. Besonders stark ist der Zusammenhang, wenn man die Alterssterblichkeit mit den Renteneinkommen in Beziehung setzt. Dies entspricht den Erwartungen, da die Renteneinkommen eine Messgröße für das Lebenseinkommen darstellen, welches aus theoretischer Sicht die höchste Mortalitätsrelevanz aufweisen sollte. Lediglich für die Einkünfte aus der Einkommensteuerstatistik bei Frauen lässt sich kein Zusammenhang feststellen. Dies liegt möglicherweise darin begründet, dass diese Daten nicht geschlechtsdifferenziert vorlagen. Aufgrund der höheren Erwerbstätigkeit von Männern bilden sie somit eher deren Einkommen ab.

Vergleichsweise eindeutige Ergebnisse sind auch für die höhere Bildung vorhanden; in Kreisen mit einem hohen Anteil an Universitäts- und Fachhochschulabsolventen ist die Sterblichkeit geringer. Wie die vorhergehenden Resultate deckt sich dieses mit denen der einschlägigen Literatur. In einigen Spezifikationen des Modells blieben die Koeffizienten statistisch insignifikant, allerdings ist dies vermutlich mit Kohorteneffekten oder Messfehlern zu erklären: Alle Bildungsindikatoren wurden aus der Beschäftigtenstatistik gewonnen, daher gelten die Werte nicht unbedingt für die Rentnerkohorten. Ferner lagen sie nur für die letzten vier Jahre am Wohnort vor. In den vorhergehenden Zeiträumen wurde die Bildung der Arbeitnehmer nur am Arbeitsort erfasst, was aufgrund von Pendlern zu starken Verzerrungen führen kann, das heißt, die gemessenen Werte bilden nicht exakt die Variable von Interesse ab. Zwischen Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung und der Personengruppe der An- und Ungelernten ließen sich keine Unterschiede feststellen.

In Kreisen mit einem hohen Anteil an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war die Sterblichkeit höher als in solchen mit einem geringen Anteil. Da die Quoten von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen in den Regressionen enthalten waren, bedeutet dies, dass die Sterblichkeit von Beamten, Selbstständigen und Freiberuflern im Durchschnitt geringer ist als diejenige von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Aufgrund des in der Regel höheren sozioökonomischen Status in diesen Personengruppen ruft auch dieses Ergebnis kein Erstaunen mehr hervor. Bezüglich der Quoten von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern ergab sich erwartungsgemäß fast immer ein negativer Zusammenhang mit der Lebenserwartung, in den meisten Fällen blieben die Werte jedoch statistisch insignifikant.

Wenn man sich den Wanderungsbewegungen zuwendet, so findet sich bei Männern ein sterblichkeitsmindernder Effekt von Zuwanderungen und ein gegenteiliger von Abwanderungen. Dies entspricht den Erwartungen insofern, als dass mobile Personen vergleichsweise gesund sein dürften. Diese Selektionseffekte scheinen bei Frauen weniger ausgeprägt zu sein. Betrachtet man nur die Wanderungsbewegungen von älteren Personen, so schlagen die Effekte bei Frauen umso stärker in umgekehrter Richtung zu Buche: Die Abwanderungen haben einen negativen, die Zuwanderungen einen positiven Effekt auf die Mortalität, beide sind statistisch hochsignifikant. Die Umkehrung der Vorzeichen lässt sich auch bei Männern beobachten, die Effekte sind anhand der Daten jedoch nicht präzise zu bestimmen. Diese Befunde decken sich mit der Erwartung, dass Umzüge bei den über 65-Jährigen vor allem aufgrund von einsetzender Pflegebedürftigkeit und damit einem höheren Mortalitätsrisiko erfolgen. Da Ehemänner aufgrund der geringeren Lebenserwartung häufiger im eigenen Haushalt gepflegt werden können, ist der Effekt für Frauen deutlich stärker ausgeprägt.

Bezüglich der Einrichtungen des Gesundheitswesens lassen sich keine einheitlichen Aussagen treffen. Genauso wenig konnte ein Einfluss von Umweltbelastungen nachgewiesen werden. Auch wenn die Datenqualität in beiden Bereichen Wünsche offen lässt, legen die Ergebnisse den Schluss nahe, dass diese Komplexe keine bedeutenden Auswirkungen auf die Gesamtsterblichkeit haben.

Kernaussagen und Interpretation

Diese Arbeit hat gezeigt, dass die regionalen Sterblichkeitsunterschiede in Baden-Württemberg weder ausschließlich auf zufälligen Schwankungen noch auf falsch erfassten Bevölkerungsdaten beruhen können. Die Ursachenanalyse zeigte zum einen, dass die Bildung stark negativ mit der Sterblichkeit korreliert. Über die Gründe lässt sich allerdings nur spekulieren, in der einschlägigen Literatur werden zum Beispiel eine bewusstere Ernährung, bessere Vorsorgemaßnahmen und ein geringerer Raucheranteil unter höher gebildeten Personen diskutiert. Ferner ließ sich ein deutlicher Einfluss des Einkommens nachweisen: In der ein oder anderen Form scheinen sich Reiche selbst in Deutschland mehr Gesundheit leisten zu können. Dies muss sich nicht zwangsläufig auf den Zugang zu Gesundheitsleistungen beziehen, sondern kann beispielsweise auch über die Wohnsituation oder wiederum über Ernährungsaspekte wirken. Eine andere Interpretation wäre, dass gesunde Personen ein höheres Einkommen erzielen. Dass Umwelt nicht als diskriminierender Faktor festgestellt werden konnte, bedeutet nicht, dass Umweltbelastungen per se keinen Einfluss hätten. Vielmehr erscheint es so, dass mittlerweile die Unterschiede in den Luftbelastungen so gering sind, dass auf Kreisebene keine Wirkungen auf das Gesamtsterblichkeitsniveau mehr feststellbar sind.

1 Vgl. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Leibing: »Verteilung von Finanzmitteln auf Basis unzutreffender Einwohnerzahlen?«, Eildienst, hrsg. vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg, 2000.

2 Eine detaillierte Beschreibung und der Umgang mit diesen Problemen finden sich in der ausführlichen Version der Studie.