:: 11/2004

Ausbau der Kindertagesbetreuung hat Vorteile für die Volkswirtschaft

Ludwig Georg Braun, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), wirbt für den Ausbau der Kinderbetreuung als »eine notwendige Investition in die Zukunft … des Wirtschaftsstandortes Deutschland«.1 Das verstärkte Engagement des DIHK und anderer Wirtschaftsverbände weist darauf hin: Aus demografischer und volkswirtschaftlicher Sicht sprechen gute Gründe für einen bedarfsgerechten Ausbau der Kindertagesbetreuung. Ein verbessertes Betreuungsangebot würde den Erwerbswünschen vieler Mütter entgegenkommen und vielen Familien höhere Einkommen ermöglichen. Auch die Folgen des demografischen Wandels könnten möglicherweise besser bewältigt werden: Eine weitere Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit würde dem zu erwartenden Rückgang des Arbeitskräftepotenzials entgegenwirken. Gute Rahmenbedingungen für eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie können auch die Entscheidung für Kinder wieder leichter machen. Der bedarfsgerechte Ausbau der Kindertagesbetreuung ist aus volkswirtschaftlicher Sicht eine lohnende Investition, für die privaten wie für die öffentlichen Haushalte. Nicht zuletzt die gegenwärtig zurückgehenden Kinderzahlen bieten die Chance für einen konsequenten Umbau und Ausbau des westdeutschen Betreuungssystems.

»Sowohl aus volkswirtschaftlicher Sicht als auch aus Unternehmenssicht hält der DIHK den Ausbau der Kinderbetreuung in Deutschland für dringend erforderlich«, heißt es in der aktuellen DIHK-Stellungnahme zum Tagesbetreuungsausbaugesetz, das jüngst vom Bundeskabinett beschlossen wurde. Das Bundesfamilienministerium sucht beim Thema Kinderbetreuung den Schulterschluss mit allen wichtigen Wirtschaftsverbänden und Kammern, gemeinsam wurde Anfang des Jahres auf Bundesebene die »Allianz für die Familie« ins Leben gerufen. Die baden-württembergische Landesregierung ihrerseits hat nach der Neufassung des Kindergartengesetzes und der neu eingeführten Förderung von Kinderkrippen und Tagespflege im Juli 2003 die »Zukunftswerkstatt Familien« gegründet, um gemeinsam mit den Kommunen, Kirchen, Unternehmen, Sozial- und Wirtschaftsverbänden im Land die Vereinbarkeit von Beruf und Familie voranzubringen.

In den Regionen, Kreisen und Kommunen Baden-Württembergs sind bereits etliche lokale Aktionsbündnisse für Familien entstanden, ebenfalls unter Beteiligung von Wirtschaftskammern und ortsansässigen Unternehmen. Dies dokumentiert auch das Internetportal www.familienfreundliche-kommune.de, das die Familienwissenschaftliche Forschungsstelle im Auftrag des baden-württembergischen Sozialministeriums betreibt (i-Punkt).

Die verstärkte Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Akteure zugunsten von Familien und Kindern ist eine Reaktion auf den grundlegenden Wandel der Bevölkerungsstruktur und des familialen Zusammenlebens, wie er sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat und in der jüngsten Zeit auch zunehmend politische Priorität bekommt.

Zwei Drittel der Mütter sind heute erwerbstätig

Einhergehend mit dem gestiegenen Bildungsniveau sowie dem Wandel der Geschlechterrollen und familialen Lebensentwürfe hat die Erwerbsorientierung der Frauen in Westdeutschland in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. Die Mehrheit der Frauen kombiniert heute Familien- und Erwerbstätigkeit, das Alleinverdiener-Modell hat erheblich an Bedeutung verloren. Im Zeitraum 1985 bis 2003 stieg die Erwerbstätigenquote der Frauen mit Kindern in Baden-Württemberg laut Mikrozenus von 49 % auf 68 % an. Hintergrund ist eine deutliche Zunahme von Teilzeitarbeitsplätzen: Im Jahr 1985 war etwa die Hälfte der erwerbstätigen Frauen mit Kindern teilzeitbeschäftigt, im Jahr 2003 arbeiteten über zwei Drittel Teilzeit (siehe Schaubild 1).

Erwerbswünsche wachsen weiter, Betreuungswirklichkeit hinkt hinterher

Die Erwerbswünsche vieler Frauen gehen über den derzeit verwirklichten Erwerbsumfang deutlich hinaus. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) wünschen sich in Westdeutschland knapp 70 % der nicht erwerbstätigen Mütter mit Kindern bis zu 12 Jahren die Aufnahme einer Erwerbsarbeit.2 Viele erwerbstätige Mütter wollen ihre Arbeitszeiten ausdehnen: In der jüngsten Umfrage »Perspektive Deutschland« von McKinsey u.a. sagen 72 % der berufstätigen Frauen mit Kindern unter 14 Jahren, dass sie mehr Stunden in der Woche arbeiten würden, wenn die Kinderbetreuung besser wäre. Von den befragten Müttern aus Baden-Württemberg sagen dies sogar 78 %.3

Ein zunehmender Anteil der Mütter will frühzeitig wieder in das Erwerbsleben einsteigen und nicht abwarten, bis alle Kinder im Kindergarten oder in der Schule betreut werden. Nach einer Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Westdeutschland wollen lediglich 14 % der Frauen mit Kindern unter 3 Jahren, dass nur ein Partner erwerbstätig ist.4 Rund zwei Drittel der befragten Frauen bevorzugen das Arbeitszeitmodell Vollzeit/Teilzeit (Schaubild 2).

Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt die jüngst vorgestellte Allensbach-Studie zu »Einflussfaktoren auf die Geburtenrate« in Deutschland: 62 % der 18- bis 44-jährigen Frauen raten jungen Müttern mit kleinen Kindern, nicht aus dem Beruf auszuscheiden, sondern weiter erwerbstätig zu bleiben. Die Mehrheit rät in dieser Phase zu einer Teilzeitbeschäftigung.5

Die Wirklichkeit sieht heute noch anders aus. Laut Mikrozensus sind in Baden-Württemberg 43 % der Frauen mit jüngstem Kind unter 3 Jahren nicht erwerbstätig, 20 % nehmen die Elternzeit in Anspruch, 35 % der Frauen mit Kleinkindern sind aktiv erwerbstätig. Die Erwerbsaufnahme bzw. die Ausdehnung der Arbeitszeiten scheitert oftmals an fehlenden oder unflexiblen Betreuungsangeboten und starren Arbeitszeitregelungen. Insbesondere bei der Kleinkindbetreuung besteht in den Flächenländern Westdeutschlands ein deutlicher Nachholbedarf: In Baden-Württemberg liegt der durchschnittliche Versorgungsgrad für Kinder unter 3 Jahren bei unter 5 %, einschließlich des geschätzten Umfangs an Tagespflegeplätzen, wobei in den letzten Jahren die Zahl der Betreuungsplätze schon deutlich gestiegen ist.6

Vorsichtige Abschätzungen für Baden-Württemberg gehen davon aus, dass heute bereits für mindestens 15 % bis 20 % der Familien mit Kleinkindern unter 3 Jahren ein konkreter Bedarf an außerhäuslicher Betreuung besteht.7

Angesichts der wachsenden Erwerbswünsche ist davon auszugehen, dass zunehmend mehr Eltern ein solches Angebot nachfragen, wenn es in ihrer Gemeinde vorhanden ist.

Steigende Frauenerwerbstätigkeit kann demografischen Umbruch mildern

Die weitere Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit hat einen wichtigen Einfluss auf das zukünftige Arbeitskräftepotenzial. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird die Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten deutlich sinken. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) wird die Zahl der Erwerbspersonen im Alter von 15 bis 65 Jahren von heute knapp 41 Millionen auf voraussichtlich 32 Mill. im Jahr 2050 zurückfallen, sofern die Erwerbsbeteilgung auf dem heutigen Niveau konstant bleibt und keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.8 Der Rückgang des Arbeitsangebotes wird damit in einer Größenordnung liegen, die selbst durch einen weit gehenden Abbau der Arbeitslosigkeit nicht kompensiert werden könnte.9

Als arbeitsmarktpolitische Gegenmaßnahmen kommt u.a. neben der Erhöhung des Renteneintrittsalters und der Verkürzung von Schul- und Studienzeiten die gezielte Förderung der Erwerbsbeteiligung von Frauen in Betracht. Nach Einschätzung des IW ist dies mit der effektivste Ansatz, um den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials spürbar zu bremsen, ohne ihn allerdings aufzuhalten. Die Zahl der Erwerbspersonen im Jahr 2050 würde demnach lediglich auf 35 Mill. zurückgehen (Schaubild 3).

Für Baden-Württemberg ergibt sich nach der aktuellen Erwerbspersonenvorausrechnung ein ähnliches Bild, wenn auch der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials aufgrund der etwas günstigeren demografischen Entwicklung nicht ganz so hoch ausfällt wie im Bundesdurchschnitt.10 Ohne Gegenmaßnahmen wird die Zahl der Erwerbspersonen von heute 5,3 Mill. zunächst noch bis 2020 auf voraussichtlich 5,6 Mill. ansteigen und dann bis 2040 auf voraussichtlich unter 5 Mill. abfallen. Der Anteil der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung wird demnach im Jahr 2040 lediglich 45 % betragen, gegenwärtig sind es 50 % (Schaubild 4).

Unter der Annahme, dass die Erwerbsquote von Frauen in den nächsten Jahrzehnten moderat ansteigt, ohne sich jedoch an die Erwerbsquote der Männer anzugleichen, ergibt sich folgende Entwicklung: Bis 2020 würde die Zahl der Erwerbspersonen zunächst auf voraussichtlich 6,1 Mill. ansteigen und dann bis 2040 auf voraussichtlich 5,5 Mill. zurückgehen. Der Anteil der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung läge demnach im Jahr 2040 bei knapp unter 50 %, also lediglich knapp unter dem Ausgangsniveau von 2002.

Die zunehmende Erwerbsorientierung von Frauen kann somit den demografisch bedingten Rückgang des Arbeitskräftepotenzials verzögern, insbesondere wenn weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen hinzukommen. Die mit dem Rückgang des Arbeitsangebots verbundenen Anpassungsprobleme für Produktion und Konsum, öffentliche Haushalte und soziale Sicherungssysteme könnten insgesamt etwas abgemildert werden.

Gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert Entscheidung für Kinder

Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Folgen des demografischen Wandels kommt der anhaltend niedrigen Geburtenrate in Deutschland eine besondere Bedeutung zu. In Zeiten einer zunehmenden Erwerbsorientierung von Frauen kann ein spürbarer Ausbau der außerhäuslichen Kinderbetreuung neben anderen Maßnahmen mit dazu beitragen, die Entscheidung für Kinder wieder leichter zu machen.

Eine hohe Frauenerwerbstätigkeit muss nicht immer zwangsläufig mit niedrigen Geburtenraten einhergehen, wie dies in den vergangenen Jahrzehnten für Deutschland und andere westeuropäische Länder der Fall war. Es gibt keinen feststehenden kausalen Zusammenhang zwischen Erwerbsverhalten und Fertilität. Es gibt Länder, die eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleisten und die trotz hoher Frauenerwerbsquoten auch hohe Geburtenraten aufweisen. Insbesondere die Betreuungssituation für Kinder unter 3 Jahren kann wesentlich mit dazu beitragen, wie eine Studie der OECD zeigt.11

In Nordeuropa beispielsweise (Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden) konnten trotz hoher und kontinuierlich steigender Frauenerwerbsquote Ende der 80er-Jahre wieder ansteigende Geburtenraten festgestellt werden.12 Wenn auch dort zwischenzeitlich wieder rückläufig, so liegen die Geburtenraten in Nordeuropa heute auf einem deutlich höheren Niveau als in Deutschland oder in südeuropäischen Ländern wie Griechenland, Italien oder Spanien. In Nordeuropa wird tendenziell eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erreicht, worauf die höheren Betreuungsquoten für unter 3-Jährige hinweisen (Schaubild 5).

Deutschland liegt im europäischen Vergleich mit einer Geburtenrate von 1,34 Kindern je Frau und einem Versorgungsgrad für unter 3-Jährige von durchschnittlich 10 % im unteren Drittel. Die Diskrepanz zwischen Kinderwunsch und Wirklichkeit ist hier zu Lande erheblich. Dies zeigt zuletzt wieder die Umfrage »Perspektive Deutschland« von McKinsey u.a.: Demnach wünschen sich Frauen im Alter von 20 bis 34 Jahren im Durchschnitt 1,8 Kinder (einschließlich bereits geborener). Ein Viertel der Frauen, die derzeit keinen Kinderwunsch haben, kann sich vorstellen, sich bei einem verbesserten Angebot von Betreuungsplätzen doch noch für ein Kind zu entscheiden.

Vor übergroßen Erwartungen ist allerdings zu warnen: Für die anhaltend niedrigen Geburtenraten in Deutschland sind vielfältige Ursachen verantwortlich. Die Gründe für das Geburtenverhalten reichen von der Pluralisierung der Lebensformen und veränderten Ansprüchen an Partnerschaft und Elternschaft über die nachteilige finanzielle Situation von Familien bis hin zur schwierigen Vereinbarkeit von Ausbildung, Beruf und Familie angesichts langer Ausbildungszeiten, unflexibler Arbeitszeiten und unzureichender Kinderbetreuung.13

Soll die Entscheidung für Kinder langfristig wieder leichter werden, erscheint ein Bündel aufeinander abgestimmter familienpolitischer Maßnahmen erforderlich: Neben Betreuungsangeboten für alle Altersgruppen in ausreichender Zahl, Qualität und zu erschwinglichen Preisen sind unter anderem auch flexible Arbeitszeitmodelle und neue Arbeitsformen wie etwa Telearbeit gefragt. In den alten Bundesländern müsste insbesondere auch ein Bewusstseinswandel einsetzen und die traditionelle Vorstellung verabschiedet werden, dass Mutterrolle und Beruf nicht vereinbar sind.14

Der Ausbau der Kinderbetreuung ist eine lohnende Investition

Gelingt es, durch den bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbetreuung und begleitende familienfreundliche Maßnahmen mehr Müttern die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu ermöglichen, dann führt dies zu Mehreinnahmen und Einsparungen für die öffentliche Hand. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hat die Brutto-Einahmeeffekte für die öffentlichen Haushalte und die Sozialversicherungsträger mittels Einkommensschätzungen und Einkommenssteuersimulationen berechnet. Berücksichtigt werden Mütter in Westdeutschland, die arbeitslos gemeldet sind oder in absehbarer Zeit wieder erwerbstätig sein möchten (so genannte stille Reserve) und deren jüngste Kinder im Alter von 2 bis 12 Jahren bislang nicht ganztägig betreut werden.15

  • Mehreinnahmen durch höhere Erwerbsbeteiligung: Könnten durch den bedarfsgerechten Ausbau der Betreuungsangebote in Westdeutschland alle erwerbslosen Mütter (1,6 Mill. Frauen) entsprechend ihren Wünschen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, wäre mit zusätzlichen Steuermehreinnahmen von bis zu 6 Mrd. Euro und zusätzlichen Sozialversicherungsbeiträgen von bis zu 8,9 Mrd. Euro pro Jahr zu rechnen. Geht man davon aus, dass angesichts des Fachkräftemangels vor allem erwerbslose Mütter mit Hochschulabschluss (148 000 Frauen) gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, so würde allein diese Gruppe bei einer Erwerbsaufnahme Einkommensteuern von jährlich bis zu 1,1 Mrd. Euro und Sozialversicherungsbeiträge von bis zu 1,4 Mrd. Euro pro Jahr erwirtschaften (Tabelle).
  • Einsparungen von Sozialhilfe: Bei der Sozialhilfe kommt es zu Einsparungen, wenn arbeitslosen Müttern passgenaue Betreuungsmöglichkeiten vermittelt werden können und dadurch eine Erwerbsaufnahme ermöglicht wird. Berücksichtigt man lediglich die allein erziehenden Mütter mit Kindern bis zu 12 Jahren in Westdeutschland (244 000 Frauen) und würde ihnen den Ausstieg aus der Sozialhilfe ermöglichen, ergäbe sich ein Einsparpotenzial von bis zu 1,5 Mrd. Euro pro Jahr. Geht man davon aus, dass allein Erziehende mit einem Schulabschluss eher eine Erwerbstätigkeit finden, verbleiben Einsparmöglichkeiten von rund 580 Mill. Euro.
  • Mehreinnahmen durch neue Arbeitsplätze: Der bedarfsgerechte Ausbau der Kinderbetreuung würde nach dem Berechnungsmodell des DIW gemäß der Maximal-Variante bis zu 430 000 neue Arbeitsplätze für Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen schaffen. Daraus ergäben sich weitere Steuermehreinnahmen von bis zu 1,3 Mrd. Euro sowie zusätzliche Sozialversicherungsbeiträge von bis zu 4,4 Mrd. Euro jährlich.
  • Die Einnahmeeffekte übersteigen die entsprechend erforderlichen Betriebsausgaben für Ganztagesangebote je nach Berechnungsvariante um gut das Doppelte. Wenn zum Beispiel 1 000 Akademikerinnen mit einem Kind im Krippenalter durch ein Betreuungsangebot entsprechend ihren Wünschen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen könnten, würden sie zusätzlich 18,5 Mill. Euro Einkommensteuer und Sozialversicherungsbeiträge pro Jahr erwirtschaften. Hinzu kämen weitere 2,6 Mill. Euro pro Jahr durch die zusätzliche Beschäftigung von Betreuungspersonal. Demgegenüber stehen Betriebskosten für das Ganztagesangebot in Höhe von 9 bis 10 Mill. Euro.
  • Familien können höhere Einkommen erzielen: Bedarfsgerechte und finanziell erschwingliche Betreuungsangebote ermöglichen Familien, die Erwerbsarbeit auszudehnen und infolgedessen unmittelbar höhere Einkommen zu erzielen. Zudem ergibt sich ein mittelbares Mehreinkommen, weil mit zukünftig höheren Lohnsätzen zu rechnen ist, wenn keine längere Erwerbspause eingelegt wird.
  • Wird die Einnahme- und Ausgabeseite der Eltern bei der volkswirtschaftlichen Betrachtung mit berücksichtigt, ergibt sich ein noch günstigeres Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Kindertagesbetreuung, wie eine Anaylse für die Kindertagesstätten der Stadt Zürich zeigt. Das Ergebnis: Aus volkswirtschaftlicher Sicht fließen pro Franken, der in den Betrieb der Kinderbetreuung investiert wird, rund 4 Franken an die Gesellschaft zurück.16
  • Sozialisations- und Bildungseffekte: Nicht berücksichtigt in den Kosten-Nutzen-Analysen sind zusätzliche frühkindliche Sozialisations- und Bildungseffekte, die von Kindertagesbetreuung ausgehen. Die Ergebnisse der international vergleichenden Schulstudien PISA und IGLU haben die Relevanz frühkindlicher Förderung im Elementarbereich für den späteren Schulerfolg aufgezeigt. Der jüngste OECD-Vergleich »Bildung auf einen Blick 2004« weist in diesem Zusammenhang auf die unterdurchschnittlichen Bildungsausgaben in Deutschland hin und insbesondere auf das ungünstige Betreuungsverhältnis in deutschen Kindergärten (pro Betreuungsperson rund 24 Kinder, im OECD-Mittel rund 15 Kinder).17 Eine eingehende Vergleichsstudie zur frühkindlichen Förderung, an der auch Baden-Württemberg teilnimmt, wird voraussichtlich Anfang 2005 erscheinen.

Die Kosten sollten gemeinsam geschultert werden

Kosten-Nutzen-Betrachtungen zur Kindertagesbetreuung können gewisse Anhaltspunkte geben für eine angemessene Kostenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen.

Von den Einnahmeeffekten bei einem Ausbau der Kindertagesbetreuung profitieren die Kommunen lediglich zu einem kleinen Teil: durch die Beteiligung an den Einnahmen aus der Einkommensteuer (derzeit 15 %) sowie durch mögliche arbeitsmarktabhängige Einsparungen bei der Sozialhilfe. Die Kosten für Kindertagesbetreuung tragen die Kommunen zum größten Teil, unterstützt durch die jeweiligen Landeszuschüsse. In Baden-Württemberg lag der Finanzierungsanteil der Kommunen am Kindergartenbetrieb (Personal- und Sachkosten) im Jahr 2000 bei ca. 55 %. Das Land bezuschusste ca. 28 % der Betriebskosten durch Vorwegentnahmen aus dem kommunalen Finanzausgleich.

Ein finanzielles Engagement des Bundes erscheint demnach angebracht, soll angesichts der desolaten kommunalen Finanzen und des drängenden Handlungsbedarfs ein spürbarer Ausbau der Kinderbetreuung erreicht werden. Die Bundesregierung plant derzeit die Kindertagesbetreuung mit rund 1,5 Mrd. Euro zu fördern und hat das Tagesbetreuungsausbaugesetz vorgelegt. Um diesen Betrag sollen die Kommunen bei der geplanten Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe entlastet werden. Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände bezweifelt allerdings, dass diese Entlastungen zustande kommen, und hält zudem auch ein Fördervolumen von 2,5 Mrd. Euro für erforderlich.18 Der Bundesrat hat sich mehrheitlich dieser Auffassung angeschlossen und den Gesetzentwurf in den Vermittlungsausschuss verwiesen.

Rückgang der Kinderzahlen schafft freie Kapazitäten

Die demografische Entwicklung bietet in gewisser Weise günstige Rahmenbedingungen für eine Verbesserung des Betreuungsangebots: Nach der aktuellen Bevölkerungsvorausrechnung für Baden-Württemberg wird die Kinderzahl der 3- bis 6,5-Jährigen im Jahr 2012 im Landesdurchschnitt um voraussichtlich 16 % niedriger liegen als im Ausgangsjahr 2001 (Schaubild 6), mit regionalen Abweichungen nach oben und unten.19 Dadurch werden in den Kindergärten Kapazitäten frei, die für eine Angebotsausdehnung (längere Öffnungszeiten, Aufnahme von Kleinkindern, Hortkindern) oder auch zur Steigerung der Betreuungsqualität genutzt werden können (Frühförderung, Sprachförderung, Elternarbeit u.a.).

Einfluss auf die zukünftige Zahl der Kindergartenkinder haben neben der demografischen Entwicklung natürlich auch der Anteil der Eltern, die ihr Kind tatsächlich in den Kindergarten geben, ferner das Alter der Kinder, wenn sie in den Kindergarten kommen, sowie das Einschulungsalter. Laut Mikrozensus besuchten im Jahr 2003 in Baden-Württemberg rund 87 % der Kinder im Alter von 3 bis 6,5 Jahren den Kindergarten. Würde diese Betreuungsquote weiter steigen, zum Beispiel weil noch mehr Kinder direkt mit 3 Jahren in den Kindergarten kommen, würde der demografisch bedingte Rückgang der Kindergartenplätze etwas gebremst. Umgekehrt würde eine Absenkung des Einschulungsalters durch eine veränderte Stichtagsregelung den Rückgang der Kindergartenplätze erhöhen.

Um abzuschätzen, wie das Betreuungsangebot durch die frei werdenden Kapazitäten erweitert werden kann, lässt sich auf Grundlage der aktuellen Bevölkerungsvorausrechung folgende überschlägige Berechnung anstellen: Unter Annahme einer konstanten Betreuungsquote könnte die Zahl der Kindergartenplätze in Regeleinrichtungen bis zum Jahr 2012 landesweit um voraussichtlich 64 000 Plätze verringert werden. Bei der Umwandlung von Regelplätzen sind die höheren Kosten betreuungsintensiverer Angebote (Ganztagesplätze im Kindergarten durchschnittlich mit Faktor 1,4, in altersgemischten Einrichtungen mit Faktor 1,9 und in Kinderkrippen mit Faktor 2,8) sowie die längeren Betreuungszeiten bei Ganztagesplätzen (wöchentlich 35 bis 50 Stunden statt 30 Stunden) zu berücksichtigen.20

Demnach könnten durch Umwandlung der nicht mehr benötigten Regelplätze im Laufe der nächsten 10 Jahre beispielsweise rund 27 000 bis 39 000 zusätzliche Ganztagesplätze im Kindergarten geschaffen werden (bei 35 bis 50 Stunden wöchentlicher Öffnungszeit), ohne für den Gesamtbetrieb mehr Geld auszugeben.

  • Alternativ könnten rund 20 000 bis 29 000 Ganztagesplätze in altersgemischten Gruppen entstehen (bei 35 bis 50 Stunden wöchentlicher Öffnungszeit).
  • Alternativ könnten rund 14 000 bis 44 000 Krippenplätze für unter 3-Jährige geschaffen werden (bei 15,5 bis 50 Stunden wöchentlicher Öffnungszeit).

Der Versorgungsgrad mit Ganztagesplätzen im Kindergarten würde demnach auf rund 17 % bis 20 % ansteigen – oder alternativ die Betreuungsquote für unter 3-Jährige auf rund 9 bis 20 %. Weitere alternative Berechnungen zum Umbau der Tageseinrichtungen sowie zur Förderung der Tagespflege sind denkbar.

Der Ausbau der Kindertagesbetreuung kann also zu einem nicht unerheblichen Teil durch einen kostenneutralen Umbau des Systems erreicht werden. Ob das tatsächlich auch eintritt, hängt stark ab von den Prioritäten und dem finanziellen Handlungsspielraum der Städte und Gemeinden sowie auch von den Wirkungen des neuen Kindergartengesetzes in Baden-Württemberg. Ab 2004 erhalten die Kommunen ein pauschales Budget für die Kindertagesbetreuung, ausgehend von den bisherigen gruppenbezogenen Mittelzuweisungen des Jahres 2002 und angepasst an die jährliche Entwicklung der Kinderzahl. Das gedeckelte Budget bietet gegenüber der bisherigen gruppenbezogenen Förderung Nachteile für Kommunen, die ab 2003 noch neue Kindergartengruppen schaffen müssen, ermöglicht ihnen jedoch andererseits, angesichts zurückgehender Kinderzahlen die frei werdenden Mittel für eine Angebotsverbesserung einzusetzen.

Die angestellte Berechnung zeigt aber auch: Um ein dauerhaft bedarfsgerechtes Betreuungsangebot zu verwirklichen, werden zusätzliche finanzielle Anstrengungen erforderlich sein. Dies kann nur gemeinsam geschultert werden: Die verstärkte Zusammenarbeit wichtiger politischer und gesellschaftlicher Akteure unter Einbeziehung von Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und bürgerschaftlichem Engagement ist hierfür ein erfolgversprechender Weg.

1 Pressemitteilung des DIHK vom 15. Januar 2003, ähnlich am 8. Januar 2004.

2 Büchel, Felix/Spieß, C. Katharina: Form der Kinderbetreuung und Arbeitsmarktverhalten von Müttern in West- und Ostdeutschland, Stuttgart, Kohlhammer 2002.

3 McKinsey & Co. u.a.: Perspektive Deutschland, Projektbericht 2003/04, Düsseldorf 2004.

4 Beckmann, Petra: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Tatsächliche und gewünschte Arbeitszeitmodelle von Frauen mit Kindern, IAB Werkstattbericht 12/2002.

5 John, Birgit: Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen in Baden-Württemberg, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 2/2004.

6 Institut für Demoskopie Allensbach: Neue Wege der Familienförderung, Allensbach 2002. Konrad-Adenauer-Stiftung: Kinder in besten Händen?, Sankt Augustin 2001. Ministerium für Familie, Frauen, Weiterbildung und Kunst Baden-Württemberg: Bericht über die Situation der Kinder in Baden-Württemberg, Stuttgart 1995.

7 Institut der deutschen Wirtschaft: Älter werden ohne alt auszusehen, Informationsdienst 10/2004, Datenbasis: OECD-Prognose der Erwerbsbeteiligung.

8 Deutscher Bundestag: Schlussbericht der Enquetekommission »Demographischer Wandel«, Drucksache 14/8800 vom 28. März 2002.

9 Schmidt, Sabine: Erwerbspersonenvorausrechnung für Baden-Württemberg für die Jahre 2020 bis 2040, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 11/2003.

10 OECD: Employment Outlook 2001.

11 Institut der deutschen Wirtschaft: Perspektive 2050, Köln 2004, S. 53 ff.

12 Lipinksi, Heike/Stutzer, Erich: Wollen die Deutschen keine Kinder?, in: Statistisches Monatsheft 6/2004.

13 Klein, Alexandra: Kinderlosigkeit in Baden-Württemberg, in Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 3/2004.

14 BMFSFJ/ DIW: Abschätzung der Brutto-Einnahmeeffekte öffentlicher Haushalte und der Sozialversicherungsträger bei einem Ausbau von Kindertageseinrichtungen, Berlin 2002.

15 Müller-Kucera, Karin/Bauer, Tobias: Volkswirtschaftlicher Nutzen von Kindertagesstätten, Bern 2000.

16 Pressemitteilung der Bundesvereinigung kommunaler Spitzenverbände vom 14. Juli 2004.

17 Stein, Ulrich: Voraussichtliche Bevölkerungsentwicklung in den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs bis 2020, in: Statistisch-prognostischer Bericht 2003.

18 Datenbasis für die zugrunde gelegten Kostenrelationen sind die Durchschnittskosten vergleichbarer Kindertageseinrichtungen nach Auskunft des Landeswohlfahrtsverbandes Württemberg-Hohenzollern.