:: 6/2005

Wanderungsgewinne und -verluste in den Landkreisen und kreisfreien Städten Deutschlands

Im folgenden Beitrag wird untersucht, welche Regionen Deutschlands sich als Zuwanderungs- oder als Abwanderungsregionen darstellen. Es stellen sich drei große Zuzugsregionen heraus, rund um die Metropolen Berlin, München und Hamburg. Große Teile Ostdeutschlands, aber auch Gebiete in der Mitte der »alten Bundesrepublik«, sind von Abwanderungstendenzen betroffen.Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg dankt dem Niedersächsischen Landesamt für Statistik für die freundliche Abdruckgenehmigung.1

Die Wanderungsbewegungen in Deutschland werden von mehreren großen Trends beherrscht. Diese Trends überlagern sich zum Teil, sodass der eine Trend die Wirkung des anderen abschwächt. Zum Teil kumulieren sich aber auch ihre Wirkungen. So überlagern etwa die fast überall auftretenden Wanderungsgewinne mit dem Ausland die Verluste, die zum Beispiel durch die Ausbildungswanderung entstehen.

Wanderungsgewinne aus dem Ausland

Per saldo gewinnt Deutschland durch Zuwanderung aus dem Ausland pro Jahr etwa 200 000 Einwohner hinzu. In der Summe der Jahre 2000 bis 2002 standen bundesweit 1,9 Millionen Fortzügen knapp 2,6 Mill. Zuzüge gegenüber, was einen Positivsaldo von insgesamt 659 000 Personen ergab. Wichtige Zuzugsländer waren vor allem Russland sowie einige andere osteuropäische Staaten, Pakistan und die Türkei. Wäre dieser Zuwachs auf alle 440 Kreise Deutschlands gleich verteilt, ergäbe dies pro Kreis einen Gewinn von fast 1 500 Personen.

Wanderungsstrom von Nordost nach Südwest

Innerhalb Deutschlands gibt es eine große Bewegung von Nordost nach Südwest. Die Wanderungsbilanz der Länder untereinander ergab im Jahr 2002 je Land folgenden Saldo:2

Baden-Württemberg+39 276
Bayern+41 377
Berlin−1 050
Brandenburg−4 880
Bremen+1 185
Hamburg+5 156
Hessen+9 179
Mecklenburg-Vorpommern−13 015
Niedersachsen−64 852
Nordrhein-Westfalen+19 986
Rheinland-Pfalz+12 453
Saarland+102
Sachsen−23 404
Sachsen-Anhalt−21 835
Schleswig-Holstein+12 948
Thüringen−12 569

Alle sechs Länder Ostdeutschlands weisen zum Teil erhebliche Verluste auf, während – in dieser Reihenfolge – vor allem Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen erhebliche Wanderungsgewinne im Verkehr mit den anderen Bundesländern erzielen. Dieser Wanderungsstrom ist eine direkte Folge der regional höchst unterschiedlichen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage.

Besonderheit: Lager Friedland und »Sekundärwanderung« der Spätaussiedler

Der hohe Binnenwanderungsverlust Niedersachsens von 64 852 Einwohnern im Jahr 2002 liegt nicht daran, dass Niedersachsen ein Abwanderungsgebiet darstellt, sondern spiegelt eine Besonderheit wider: die »Sekundärwanderung« der deutschstämmigen Spätaussiedler, die zunächst im Lager Friedland (Landkreis Göttingen) ankommen und dort auch gemeldet werden, um sodann in ganz Deutschland verteilt zu werden. Im Jahr 2002 registrierte das Bundesverwaltungsamt insgesamt 91 146 Spätaussiedler. Statistisch schlägt sich dies für Niedersachsen in einem hohen Wanderungsgewinn mit dem Ausland und hohen Wanderungsverlusten mit den anderen Bundesländern nieder. In der Gesamtwanderungsbilanz spielt dies allerdings keine Rolle, da sich Gewinne und Verluste ausgleichen.

Stadt-Umland-Wanderung

In ganz Deutschland gibt es den Trend, dass vor allem junge Familien und gut verdienende Ehepaare die Kernstädte verlassen und sich im – verkehrsmäßig oft gut erschlossenen – Umland der Großstädte niederlassen. Ursache dafür sind vor allem hohe Grundstückspreise und Mieten in den Großstädten, aber auch der Wunsch vieler Bürger, in Gebiete mit intakterer Umwelt, weniger Verkehr und stabilerer Sozialstruktur zu ziehen. Dieses individuell vernünftige und nachvollziehbare Verhalten steigert natürlich eben diese kollektiven Probleme noch. So verlieren zum Beispiel im Norden Deutschlands Berlin, Hamburg, Bremen und Hannover laufend Einwohner an ihre Umlandkreise, zum Teil schon an solche des »Zweiten Ringes«, das heißt an nicht unmittelbar angrenzende Gebiete. Die Großstädte versuchen mit unterschiedlichem Erfolg, den laufenden Verlust durch diese Abwanderung zu stoppen und den Trend sogar umzudrehen. Daher werden zum Beispiel innerstädtische Baulandreserven erschlossen und zugleich spielen die Städte die Vorteile, die das Leben in einer urbanen Metropole besonders für junge und gut ausgebildete Menschen hat, gezielt aus.

Jedes Lebensalter hat andere Wanderungsmotive

Bezüglich der Altersstruktur der Wandernden gibt es, entsprechend der jeweiligen Lebenslagen, drei deutlich unterscheidbare Klassen: Die Ausbildungswanderung (18- bis etwa 25-Jährige) führt die jungen Leute in die Großstädte, wo sich die Universitäten und andere Ausbildungsstätten konzentrieren. Die darauf folgende Phase der Arbeitsplatzwanderung (mindestens 25 bis etwa 30 Jahre, oft aber auch deutlich länger) führt die mittlerweile Ausgebildeten von den Universitätsstandorten etc. zu ihren künftigen Arbeitsorten. Die Arbeitsplatzwanderung ist natürlich nicht mit dem 30. oder 35. Lebensjahr beendet; sie führt unter anderem zum »Brain Drain«, dem Abfluss von Wissenskapital und »Köpfen« in solche Staaten und Regionen, deren Wirtschaft und Wissenschaft floriert und die entsprechenden Bedarf haben. Die Familienwanderung betrifft vor allem die Altersklasse der 30- bis 40-Jährigen und dort die gut ausgebildeten und gut verdienenden Menschen, die eine Familie gegründet haben. Diese wollen oft für die Familie, vor allem die Kinder, ein Haus im Grünen. Dieser Wunsch führt (siehe oben) häufig zur Ansiedlung im Umland großer Städte. Die Alterswanderung schließlich setzt bereits mit dem 50. Lebensjahr ein. Viele jüngere und ältere Senioren, die nicht mehr arbeiten müssen bzw. bei denen das Ende der Erwerbsphase absehbar ist, ziehen in landschaftlich reizvolle Orte und Gegenden, die oft zudem infrastrukturell gerade für die Bedürfnisse älterer Menschen gut ausgestattet sind.

Regionalstruktur der Zu- und Abwanderungen

309 der 440 Landkreise und kreisfreien Städte konnten im Untersuchungszeitraum mehr oder weniger große Wanderungsgewinne verbuchen und nur 131 hatten per saldo Verluste (Schaubild 1). Von diesen 131 Kreisen mit Abwanderungstendenzen lagen 97 in Ostdeutschland und nur 34 in einem der zehn westdeutschen Länder.

Die Spannweite der Wanderungsverluste und -gewinne erreicht einen Wert von 50 266 und reicht von einem Gewinn von + 37 376 Personen (Stadt München) bis zu einem Verlust von - 12 890 (Stadt Halle an der Saale).

Nicht zufällig stehen sich in diesen Extremwerten eine ostdeutsche Stadt aus Sachsen-Anhalt (die Verluste durch die Stadt-Umland-Wanderung und durch die Abwanderung Richtung Südwest erleidet) und die bayerische Metropole München (die durch ihre Metropolfunktion und die insgesamt florierende Wirtschaft wie ein Magnet wirkt) gegenüber. In dieser Verteilung bilden der niedersächsische Landkreis Nienburg und die nordbayerisch-fränkische Stadt Erlangen den Median – ordnet man alle 440 Kreise nach der Größe des Wanderungssaldos, so stehen diese beiden genau in der Mitte.

Noch aussagefähiger und von den Ergebnissen her bemerkenswerter sind bereits in der ersten Deskription die Zahlen, die den regionalen Wanderungssaldo mit der Einwohnerzahl standardisieren. Hier reicht die Spannweite von - 106,4 (Stadt Hoyerswerda, Sachsen) bis + 49,3 (Havelland, Brandenburg). Beide Extrema liegen in Ostdeutschland: In Hoyerswerda, einer peripher nahe der Grenze zu Polen und Tschechien gelegenen Kleinstadt mit knapp 50 000 Einwohnern, gingen in nur 3 Jahren 10 % der Einwohner fort. Umgekehrt gewann das Havelland, das Impulse aus der Stadt-Umland-Wanderung einerseits aus den südlich gelegenen Städten Brandenburg und Potsdam, vor allem aber aus dem östlich unmittelbar angrenzenden Berlin erhält, in denselben 3 Jahren 5 % Einwohner durch Zuwanderung hinzu. Der Median in dieser Verteilung wird mit Werten von + 9,2 bzw. + 9,3 vom Emsland und der Stadt Dortmund gebildet – in beiden Verteilungen liegen niedersächsische Landkreise genau in der Mitte, ein für das insgesamt meist recht durchschnittliche Land Niedersachsen charakteristisches Ergebnis.

Struktur und Verteilung der Abwanderungsgebiete

Die folgenden Ausführungen über Struktur und Verteilung von Abwanderungs- und Zuwanderungsgebieten beziehen sich immer auf Schaubild 2 mit den bevölkerungsstandardisierten Wanderungssalden.

Betrachten wir zunächst die dunkel- bzw. hellblau kartierten Abwanderungsgebiete. Offensichtlich ballen sich diese in Ostdeutschland, im Gebiet der ehemaligen DDR, aber mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen: Rund um die Bundeshauptstadt Berlin gibt es einen »Speckgürtel« von Landkreisen mit zum Teil außerordentlichen Zuwächsen. Unter den bundesweit zehn Kreisen mit der (relativ) höchsten Zuwanderung befinden sich außer dem Havelland auch die benachbarten Kreise Potsdam-Mittelmark und Oberhavel, alle im Land Brandenburg gelegen. Neben diesem großflächigen Zuwanderungsgebiet gibt es einige kleinere und weniger auffällige Regionen, so zum Beispiel Landkreise rund um Schwerin und Wismar (Mecklenburg-Vorpommern) sowie in der Nähe von Halle, Leipzig und Dresden. Dazu kommen die thüringischen Städte Eisenach, Weimar und Jena. Diese drei Städte sind attraktiv für Zuwanderer aufgrund ihres kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Potenzials.

Im Westen Deutschlands sind es vor allem einige kreisfreie Städte, die es mit starken Abwanderungstendenzen zu tun haben. Am stärksten betroffen ist Bremerhaven mit einem Abwanderungsverlust von gut 2 % der Bevölkerung. In Niedersachsen gehören außerdem Salzgitter, Delmenhorst und Wilhelmshaven dazu, in Schleswig-Holstein Neumünster. Neben einigen Städten im Norden von Bayern (Hof, Coburg), in Hessen (Kassel sowie vor allem Frankfurt am Main) und Rheinland-Pfalz (Ludwigshafen und Frankenthal) sind dies eine Reihe von Städten aus Nordrhein-Westfalen, vor allem dem Ruhrgebiet. Gelsenkirchen, Duisburg und Essen gehören dazu. Probleme des wirtschaftlichen Strukturwandels, oft eine hohe Arbeitslosigkeit und dazu die »normale« Abwanderung ins Umland spielen hier zusammen.

Im Westen Deutschlands kommt noch etwas Zweites hinzu. Neben den oben genannten Städten gibt es auch einige Landkreise, die aufgrund ihrer Wanderungsverluste blau kartiert werden mussten. Im Westen Deutschlands betrifft dies am stärksten die niedersächsischen Landkreise Holzminden und Osterode am Harz, aber auch einige andere Kreise, die zum Teil direkt an die ehemalige DDR angrenzen (in Niedersachsen Helmstedt, dazu Landkreise aus Hessen und Bayern) sowie einen regelrechten Gürtel von Regionen, der sich von Südniedersachsen (Osterode, Holzminden, Göttingen, Northeim) über Höxter, den Hochsauerland- und den Märkischen Kreis bis ins Ruhrgebiet hinzieht. Die Mitte der »alten Bundesrepublik« – Südniedersachsen, Nordhessen und die angrenzenden Gebiete Nordrhein-Westfalens – zieht Zuwanderer nicht an bzw. verliert sogar Einwohner.

Struktur und Verteilung der Zuwanderungsgebiete

Die rot kartierten Zuwanderungsgebiete Deutschlands weisen ebenfalls eine klare regionale Struktur auf. Sie ballen sich vor allem um die drei Millionenstädte Deutschlands: Berlin, München und Hamburg. Hier haben sich Metropolregionen gebildet, deren Ausstrahlungskraft sehr weit reicht. Dazu kommen in zweiter Linie auch Gebiete rund um Bremen, Köln, im Raum Frankfurt-Wiesbaden-Mainz und nördlich von Stuttgart. Außerdem gibt es Zuwanderungsgebiete im Süden Baden-Württembergs nahe Freiburg und der Grenze zur Schweiz und zu Frankreich.

Neben dem Berliner Umland ist vor allem das großflächige Gebiet in Bayern mit München als Zentrum auffällig. Dieses Gebiet erstreckt sich von Regensburg im Norden bis an den äußersten Süden der Republik am Alpenrand bzw. der Grenze zu Österreich. Im Norden Deutschlands entfaltet die Metropolregion Hamburg von Soltau-Fallingbostel im Süden bis nach Ostholstein im Norden einen mächtigen Sog auf Zuwanderer. Insgesamt neun Landkreise – in erster Linie Lüneburg und das Herzogtum Lauenburg – im näheren und ferneren Umfeld Hamburgs weisen deutlich überdurchschnittliche Wanderungsgewinne auf.

Ähnliche Effekte, allerdings nicht ganz so stark ausgeprägt, sieht man im Südwesten von Bremen rund um Oldenburg, im Raum Köln und nördlich von Stuttgart. Im Raum Hannover tritt dieses deutlich schwächer auf. Zu den ausgeprägten Zuzugsgebieten kann man hier nur den Landkreis Peine zählen, der Impulse aus Hannover und dem benachbarten Braunschweig erhält.

Eine Besonderheit stellt der Landkreis Grafschaft Bentheim dar. Dieser Landkreis gewinnt an Einwohnern unter anderem durch einen Zuzug aus den benachbarten Niederlanden, wo aufgrund der hohen Besiedlungsdichte Häuser, Grundstücke und Mieten deutlich teurer als in der Grafschaft Bentheim sind. Die Grenze zu den Niederlanden trennt nicht mehr – es ist problemlos möglich, in Deutschland zu wohnen und in den Niederlanden zu arbeiten.

1 Der Originalbeitrag von Prof. Eichhorn wurde veröffentlicht in »Statistische Monatshefte Niedersachsen«, 4/2005, S. 203-209.

2 Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 58 f. Niedersachsen: einschließlich Wanderungsbewegung vom Lager Friedland.