:: 8/2005

Zahlenfreibeuterei, Zahlenfetischismus, Zahlenfanatismus, Zahlenfabrikation, Zahlenschwindel

Eine Institution wie die amtliche Statistik muss nach ihrem eigenen wissenschaftlichen Selbstverständnis die Fähigkeit und Bereitschaft haben, selbstkritisch mit sich umzugehen. Ein Vertreter der amtlichen Statistik, der die Irrwege, die bei der Anwendung von Statistik gegangen werden können, und die Überschätzungen, die sich an statistische Daten heften können, erkannt und in einer kleinen Betrachtung festgehalten hat, war Hermann Julius Losch, in den letzten Jahren seines beruflichen Wirkens von 1922 bis 1930 Präsident des Württembergischen Statistischen Landesamtes.

Mit seiner 1927 erschienenen Kurzbetrachtung »Zahlenfreibeuterei, Zahlenfetischismus, Zahlenfanatismus, Zahlenfabrikation, Zahlenschwindel«1 wollte Losch sicherlich nicht nur parodieren; dafür war es ihm zu ernst mit seiner Kritik. Aber er wollte anprangern und Missstände aufzeigen nicht zuletzt wohl mit dem Ziel, Kritikern der amtlichen Statistik insoweit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Recht eindrucksvoll rechnet er mit einigen theoretischen Fachfragen im Umgang mit Statistik ab und geißelt gerade auch den Missbrauch der Statistik für Interessenzwecke. Offensichtlich hatte ein Vertreter der amtlichen Statistik es auch damals schon keineswegs immer genügend in der Hand, was aus seinen Zahlen tatsächlich im öffentlichen und politischen Diskurs gemacht wird. Die Kurzbetrachtung von Hermann Julius Losch haben wir im Folgenden nachgedruckt2.

Die Statistik ist weder eine Geheimwissenschaft noch eine patentierte Methode. Gerade deshalb sieht man eine Masse von Unberufenen auf dieser nicht eingezäunten Wiese grasen. Die Ergebnisse derartiger eigenartiger Betätigungen bedürfen einmal einer fachlichen Beleuchtung; wenn diese einer Art Notwehr gleichkommt, so schadet das nichts. In der letzten Zeit haben zwei schweizerische Statistiker bemerkenswerte Abhandlungen über derlei Fragen veröffentlicht, welche auch in Deutschland Beachtung verdienen. Sie geben Anlaß zu den folgenden kurzen Betrachtungen.

Dr. Brüschweiler (Vorstand des Städtischen Statistischen Amts in Zürich) hat die Freibeuterei gekennzeichnet, welche mit Zahlen- wie Textergebnissen amtlicher Statistiken in der Presse oft getrieben wird. Irgendwelche Auszüge oder Teilstückchen werden, womöglich als Eigenerzeugnis und klischiert irgendwo untergebracht. Nach etlicher Zeit oder schon das erste Mal erscheinen sie, nicht die Quelle als – Quellen. Manchmal mag das harmlos sein. Die Betroffenen würden zum Teil mit Entrüstung erklären, daß sie nur die Ergebnisse der amtlichen Statistik »weiteren Kreisen« haben zugänglich machen wollen. In vielen Fällen aber liegen nicht nur Freibeutereien ohne jede Quellenangabe vor; in manchen Fällen sogar Freibeutereien mit Absichten und mit bestimmten Tendenzzwecken.

Ein anderer Schweizer Statistiker, Dr. Schwarz, der sich bei Bearbeitung der letzten eidgenössischen Volkszählung vom Jahre 1920 erhebliche Verdienste erworben hat, stellt in einer sehr zeitgemäßen Abhandlung in der Schweizerischen Statistischen Zeitschrift unter der sehr berechtigten Überschrift »Zahlenfetischismus« eine Reihe nicht nur von Gebrechen, Unarten der Statistik selbst zusammen, sondern auch solche in der Verwendung der Zahlen durch die Öffentlichkeit. Er liefert damit den Beweis, daß es Statistiker gibt, welchen es weder an Selbsterkenntnis und Selbstkritik, noch an Weite des allgemeinen geistigen Horizontes gebricht. Bei der erdrückenden Masse von Zahlen, welche gegenwärtig erzeugt und auf den Markt geworfen werden, ist es höchst nötig, einmal kühl zu prüfen, inwieweit der Sachinhalt dieser Zahlen in den allgemeinen geistigen Zusammenhang der Dinge gestellt und in ihm richtig aufgefaßt und gewürdigt wird.

Viele, allzuviele Zeitgenossen sind der törichten Meinung, der »statistischen Zahl« wohne an sich schon eine oder die Beweiskraft bei. Man gewöhnt sich so die Zahlen an und das Denken ab. Die Gefahr der Verblödung durch irgendwelche unverstandene Zahlenmassen ist in der Tat in so weitem Umfang vorhanden, daß davon ernsthaft gesprochen werden muß, und zwar gerade von dem ernsthaften Statistiker selbst.

Neben dem, was Dr. Schwarz als Zahlenfetischismus bezeichnet und im einzelnen erörtert, geht eine andere Erscheinung her, welche als Zahlenfanatismus bezeichnet werden kann. Auch hiefür ließe sich eine Reihe von Beispielen vorführen.

Besonders bezeichnend und lehrreich scheint das nachfolgende zu sein. Ein Herr Josef Roth veröffentlichte vor kurzem Eindrücke einer »Reise in Rußland«. Dort (Frankf. Zeitg. Nr. 947) heißt es wörtlich:

In Rußland herrscht ein Fanatismus der Statistik, eine Anbetung der Ziffer, die man in den Rang eines Arguments erhebt. Niemand ist, wie man weiß, stolzer, glücklicher und lächerlicher als ein Ideologe, der Gelegenheit findet, Tatsachen aufzuzählen. Jetzt – so bildet er sich ein – hat er die Realität am Kragen gepackt. (Er ist niemals weiter von der Realität entfernt gewesen.) Auf allen Versammlungen, auf allen Konferenzen, in allen Schulvorträgen, in allen Zeitungen erklingen diese stolzen »Feststellungen«:

»Im Jahr 1913 hatte Rußland …% Analphabeten, … % oder … % Schulbesucher – jetzt haben wir … % und … %. Im Jahr 1913 hatten wir nur so und soviel % Universitätsprofessoren, jetzt haben wir sechsmal mehr«.

So geht es seit ungefähr 3 Jahren in einem fort. Aber aus keiner Statistik geht hervor, ob man nicht statt der siebzig Prozent Analphabeten fünfundneunzig Prozent Spießer bekommt, kleine Reaktionäre; ob der 600. Bauer das liest, was ihn klüger macht, oder das, was ihn dümmer macht; ob der 1000. neue Professor auch sein Amt ausfüllen kann; ob die dreißig Prozent proletarischer Universitätshörer auch genügend Vorbildung haben. Die verantwortlichen Männer Rußlands leben im Rausch der Zahlen, und die großen, runden Nullen verdecken die wahren Gesichter der Realitäten.

Der Verfasser der Abhandlung über »Zahlenfetischismus« wird als Statistiker sehr erfreut sein, hier den »Zahlenfanatismus« mit ebensoviel gesundem Sachblick als überlegener Ironie gekennzeichnet zu sehen. Besteht der erstere vor allem in der gedankenlosen Anbetung der Zahl selbst, insonderheit der großen Zahl und der großen Massen, so bezeichnet der letztere mehr die Gier nach Zahlen und zahlenmäßigen Feststellungen überhaupt, ohne Unterscheidung des Wichtigen und Unwichtigen, des Grundlegenden und des Überflüssigen.

Doch darf man, bei aller Kritik, nicht übersehen, daß die Zeitalter großer »Staatsveränderungen« auch früher, nicht zum mindesten in Deutschland, die Zeiten hoher und richtiger Schätzung der Statistik gewesen sind. Für Bayern z.B. hat dies der Herausgeber des »Statistischen Archivs« gelegentlich besonders hervorgehoben; auch für Württemberg kann es als zutreffend bezeichnet werden, wie für Preußen (1806) nach Jena und für das Deutsche Reich (1871).

Es darf bei dieser Gelegenheit bemerkt werden, daß natürlich auch die »Spitzenleistungen« wie alle sogenannte »Rekorde« stets in »Statistischen Zahlen« ausgedrückt werden. Fast täglich wird irgendein »Meisterschaftsbruch« (-Rekordbruch) durch irgendwelche Zahlen festgestellt, sei es die Erreichung von irgendwelchen Höhen im Flugzeug, von Meerestiefen usw. Auch die Schachspieler sind dieser Zahlenmessung unterworfen; während sich die Schwerboxer, Dichter, Universitätslehrer noch dagegen sträuben, in »Punkten« gemessen zu werden, ist es bereits eingebürgert, daß die Minister nach ihren Lebenstagen als Minister voraus »berechnet« werden. Doch liegt das außerhalb des Gebietes der reinen Statistik.

Immerhin darf nicht verschwiegen werden, daß gerade die politische Statistik, vor allem die so verschiedenartigen und so häufigen Wahlstatistiken ganz unheimliche Zahlenmassen aufzuwerfen pflegt. Sie gleichen den Wellen, die aufsteigen, verebben und morgen anderen Wellen Platz machen. Hiebei hinken die amtlichen Veröffentlichungen in der Regel hinter den Mitteilungen der Tagesblätter her und man ist oft erstaunt, welchen Aufwand an Kosten diese machen, um möglichst bald mit möglichst vielen Zahlenmassen aufwarten zu können. Dabei entbehren diese Zahlenmassen häufig jeden Dauerwertes. Hiebei trifft natürlich weder die Presse noch die Statistik eine Schuld. Da die Abstimmungen geheim sind und aus diesem Grunde nur ein ganz rohes Ergebnis überhaupt bei jeder Bearbeitung erzielt werden kann, so liegt hier ein ganz besonders merkwürdiger Sachverhalt vor. Der Gesetzgeber fügt dem männlichen das weibliche Geschlecht durch Ausdehnung der Wahlrechte hinzu. Er unterläßt es aber, irgendwelche Vorkehr zu treffen, um die Wirkung dieser doch außerordentlich wichtigen Hinzufügung festzustellen. Es wird demnach ein Zahlenhunger auf diesen Gebieten erzeugt, welcher gar nicht durch die Statistik befriedigt werden kann. Ein geheimes Wahlrecht gibt es natürlich; an ihm nimmt niemand Anstoß. Aber eine »geheime Statistik« ist ein Widerspruch in sich selbst und doch muß man diese Bezeichnung auf alle Wahlstatistiken im Grunde anwenden.

Wendet man sich der eigentlichen Zahlenfabrikation zu, so muß den Hersteller von Zahlenrohstoffen oft mehr als Angst beschleichen, wenn er beobachtet, welcherlei Fabrikware aus diesen Rohstoffen hergestellt wird. Ein geeignetes Beispiel hiefür ist der Begriff »Weltwirtschaft«, welcher heute, wie derjenige der »Kultur«, sozusagen in jeder Nummer der Tageszeitungen steht. Sobald der Statistiker fragt, was Weltwirtschaft sei, wird nach etlichen Redensarten auf die statistische Zunahme der Verflechtung des – Welthandels hingewiesen. Wie steht es damit? In dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich 1924/25 befindet sich in dem Anhang, der Internationale Übersichten bietet, auf Seite 82 eine Übersicht 67 »Umsatz wichtiger Länder im Außenhandel und Anteil dieser am Gesamtumsatz«. Hier wird der Gesamtumsatz, d.h. die Summe der Ein- und Ausfuhrwerte in den einzelnen Jahren in Millionen Goldmark umgerechnet, für die Jahre 1913 auf etwas über 169 Mia. Goldmark beziffert für die Jahre 1920 - 1923 nacheinander auf 276, 176, 190 und 209. Das Wort der Überschrift »Gesamtumsatz« ist zurückhaltend und richtig gewählt. Es wird aber von sehr vielen Volkswirten der Gegenwart ohne weiteres in das Wort »Welthandel« verwandelt. Sobald dies geschieht, erscheint der Anteil beispielsweise der Länder Europas am Gesamtumsatz in den Jahren 1913 mit 64, 1920 - 1923 nacheinander mit 49, 52, 53, und 52%. Für die kontinentalen Europäer sind diese Prozentsätze in der Regel eine Art Beruhigung über die sogenannte Vormachtstellung Europas in der Weltwirtschaft und im Welthandel. Sie bedenken gar nicht, wie denn nun eigentlich diese Zahlen zustande gekommen sind. Sie beruhen, wenn man es in diesem Zusammenhang recht kennzeichnen will, auf dem Nichtvorhandensein der Vereinigten Staaten von Europa, im Unterschied von dem Vorhandensein der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Diese Vereinigten Staaten von Nordamerika erscheinen in jener Zusammenstellung mit dem überaus bescheidenen Prozentsatz von 10,6 für das Jahr 1913, von 20,5, 16,8, 15,3, 16,0 für die Jahre 1920 - 1923. Nehmen wir einmal an, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, 48 an der Zahl, wären nicht vereinigt, sondern ebenso in etwa 26 - 30 verschiedene eigene Zoll- und Außenhandelskörper geteilt wie in Europa, so würde natürlich der Anteil der Vereinigten Staaten von Amerika am Gesamtumsatz ungemein in die Höhe schnellen und gleichzeitig würde der Anteil Europas von seiner eigenartigen Höhe in eine gewisse bescheidene Tiefe herabstürzen. Hieraus geht hervor, daß diese »Welthandelszahlen«, diese »Gesamtumsätze« so verschiedenartige Dinge sind wie Kraut und Rüben, daß sie im Grunde genommen überhaupt nur eine Art von Rohstoff sind, welcher für die einzelnen Zoll- und Handelsgebiete natürlich von erheblicher Bedeutung sein mag, dessen Zusammenstellung in dieser Form aber den tatsächlichen Sachverhalt nicht nur nicht offenbart, sondern geradezu verschleiert, etwa so, wie wenn ungeheure Sanddünen ein Stadtbild vollkommen zum Verschwinden bringen.

Die Frage, in wieweit der Verkehr des englischen »Empire« mit seinen einzelnen politisch ja sehr selbständigen, aber wirtschaftlich sehr eng angeschlossenen Teilen überhaupt als Außenhandel bzw. Welthandel in dem verbreiteten Sinne dieses Wortes zu betrachten sein mag, sei hier dahingestellt. Dagegen erhebt sich eine ganz andere Frage, nämlich die, welche Warenrotationen jeweils hinter den Gesamtumsätzen nach außen im inneren stehen. Es macht durchaus den Eindruck, als ob der Binnenwarenverkehr der Vereinigten Staaten von Nordamerika sich vielleicht in den letzten 20 Jahren außerordentlich viel rascher entwickelt habe als sein Außenverkehr. Wenn diese Vermutung richtig ist, was hier nicht im einzelnen geprüft werden soll, so bekommt die ganze Zahlenmasse, um die es sich hier handelt, ein vollständig anderes Gesicht. Sie wird zu einer verhältnismäßig untergeordneten Teilmasse, deren Stand und Entwicklung ohne andere Ergebnisse überhaupt nicht beurteilt werden kann. Was dabei in Frage steht, ersieht man daraus, daß eine links stehende Zeitung in Deutschland einen größeren Artikel über »die Weltwirtschaft 1926« mit folgendem Satze eingeleitet hat: » Es ist eine merkwürdige, aber grundlegende Tatsache, daß Amerikas und Europas Volkswirtschaft niemals gemeinsam prosperieren«. Eine »grundlegende« Tatsache! Also trotz der großen Zahlenmassen der Konjunkturforschungen, trotz der Weltwirtschaft diese gegensätzlichen Verhältnisse in den Volkswirtschaften!

Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Stellen, welche amtliches statistisches Material veröffentlichen, eines schönen Tages aufgefordert werden, vor falscher Benützung dieser Zahlen gleichzeitig zu warnen. Dieser Aufforderung könnte nur die andere angeschlossen werden, es möchten alle Benützer und Ausleger dieser Zahlenergebnisse auch eine richtige Erfassung des Sinnes dieser Zahlen, ihrer Bedeutung und der Grenzen ihrer Beweiskraft vorhergehen lassen. Dies würde jedoch gerade so viel oder so wenig helfen, wie die zahlreichen Warnungen vor unzweckmäßigem Genuß alkoholhaltiger Getränke. Die amtliche Statistik wird sich darauf beschränken müssen, zu betonen, daß die bekannte wächserne Nase, welche die Statistik haben soll, oft an den Köpfen derjenigen zu suchen und zu finden ist, welche mit den Zahlen der Statistik nicht umzugehen wissen. Im vorstehenden Falle besteht die Zahlenfabrikation darin, daß durch gedankenlose Aneinanderreihung von Zahlenmassen neue Zahlenmassen gebildet werden, die dann wie abgegriffene Münzen von Hand zu Hand gehen. Wie die Diplomatie das fait accompli und das bestellte Interview kennt, so kennt die heutige Presse die von den heutigen Zweckverbänden überkommene und übernommene »Rundfrage«, eine Art Volksabstimmung des Teilvolkes der Abonnenten oder auch Interessenten. Man muß noch froh sein, wenn damit nicht auch eine Lotterie oder eine Preiseauslobung verbunden wird. Hier werden statistische Ergebnisse fabriziert und hinterher als natürliche Wahrheiten behandelt. Die Lehrmeisterin auf diesem Gebiet ist die Politik, welche heute auf Wahlen und Abstimmungen überhaupt sich gründet, so daß nach jeder Wahl die Zeitungen von Tabellen starren, welche nach kurzer Zeit von anderen verdrängt werden. Hier ist dann oft die oben erwähnte wächserne Nase deutlich sicht- und spürbar: Herr Braun hat zunächst eine eigene Nase (Kandidatur); nach kurzer Zeit aber nimmt diese Nase die Form der Nase von Marx (anderer Kandidat) an; das ist nur bei wächsernen Nasen möglich.

Bei Begründungen mit irgendwelchen Zahlenangaben sind die Grenzen zwischen Mißverständnissen, Flüchtigkeiten, unberechtigten Erweiterungen und Verallgemeinerung, unbewußter tendenziöser Aufreihung und Herausgreifung oft schwer zu ziehen. Der Übergang führt an der äußersten Grenze bis zum bewußten Schwindel. Dies wird dadurch erleichtert, daß gerade die Reklame, die Propaganda, die zielbewußte Zweckverfolgung irgendwelcher Art sich der statistischen Zahl in Ziffern wie im grafischen Bilde in steigendem Umfange bemächtigt hat. Wie viele »verbreitetste« Zeitungen gibt es im Deutschen Reich? Wie viele durch »die Statistik« erprobten wirksamsten Mittel? Je nachdem liest man: »bekanntlich haben die Selbstmorde ihre Ursache in wirtschaftlichen Nöten«. Obwohl die Statistik die verschiedenartigen Ursachen wie Gründe, natürlich nur soviel als es ihr möglich ist, erkundet hat, heißt es doch »bekanntlich«. »Bekanntlich sind die meisten tödlichen Unglücksfälle Betriebsunfälle«. Auch dieses »bekanntlich« ist mehr als Flüchtigkeit, es ist einfach unwahr; noch unwahrer ist es, die Mehrzahl der Betriebsunfälle der »planmäßigen« Vernachlässigung von Unfallverhütungsvorschriften zuzuschreiben. Es ist unwahr, daß während des Kriegs 1914 - 1918 in Deutschland »hunderttausende von Säuglingen« an Unterernährung gestorben sind. Es ist unwahr, daß »die Verbrechen« der Wirtschaftsnot ihr Dasein verdanken. Noch unwahrer wäre, zu sagen, daß »die Kriminalstatistik« das »beweise« oder »bewiesen habe«. Ebenso aber wäre unwahr, zu sagen, »die Kriminalstatistik« beweise das Gegenteil, oder habe das Gegenteil bewiesen.

Nicht minder wäre es unstatthaft, daraus, daß neuerdings so viele Erdbeben gemeldet werden, zu schließen, daß die Erdbeben an Zahl und so weiter zunehmen. Seit die sogenannten Seismometer erfunden sind, und seit ihre Aufzeichnungen stets den Weg in die Presse finden, fängt die Statistik der Erdbeben überhaupt erst an, eine Statistik zu werden, ähnlich wie die teilweise phantastischen Vermutungen und Behauptungen über die Volkszahl in China neuerdings »wirklicher« werden.

Diese kurze Rundschau über gewiße Gefahren, die aus den »statistischen Zahlen« drohen, darf nicht unerwähnt lassen, daß auf internationalem Gebiete die Zahlenfabrikation eine Art von geistiger Epidemie des ganzen Zeitalters geworden ist. Überquellende Tabellenmassen überfluten die Pressevertreter, die Männer der Wissenschaft, der Politik, der allerverschiedensten Interessentenvertretungen und natürlich auch die amtlichen Statistiker selbst. Allein im Deutschen Reich dürfte es, einschließlich der städtestatistischen Ämter, etwa 100 Stellen des Reichs, der Länder, der Städte geben, welche alljährlich, allvierteljährlich, allmonatlich, allwöchentlich sehr große Zahlenmassen »auf den Markt« werfen. Über die nicht enden wollende Zahlenflut ergreift vor allem den Statistiker selbst eine Art von Schauder. Man kann vielleicht, wie von einer Berg- und Seekrankheit, so auch von einer Zahlenkrankheit sprechen. In diesem Falle müßten aber zwei Erscheinungen voneinander wohl unterschieden werden, die man als »Zahlenschwindel« bezeichnen kann. Die eine wäre das Schwindeln mit Zahlen, die andere aber wäre der Schwindel vor Zahlen, einerlei, ob man sie zu würdigen weiß, oder nicht.

1 Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Jahrgang 1925/26, Hrsg. Statistisches Landesamt, Stuttgart 1927; S. 169-172.

2 Wingen, Max: Zum Jahreswechsel 1991/92, Nachdruck von »Zahlenfreibeuterei, Zahlenfetischismus …«, Auszüge aus dem Vorwort (Amtliche Statistik zwischen Selbstkritik und Vorurteil).