:: 3/2006

Zielgruppenorientierte Familienbildung

Modellprojekte in Baden-Württemberg

Traditionell werden Angebote der Familienbildung eher von Mittelschichtsfamilien in Anspruch genommen. Im Kontext der Bildungsdiskussion und den hier deutlich gewordenen schlechten Bildungschancen für Kinder aus sozial schwachen Familien gewinnt die Notwendigkeit einer Neupositionierung der Familienbildung in Deutschland an Bedeutung.

Im Oktober 2005 erschien in der Stuttgarter Zeitung ein Interview mit dem Pädagogen Bernhard Bueb, der 30 Jahre lang das Internat Schloss Salem geleitet hat. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung forderte er, dass sich Lehrer stärker in der Erziehung ihrer Schüler engagieren sollten: »Frauen mit Hochschulabschluss bekommen immer weniger Kinder. Frauen ohne Abschluss aber immer mehr. Es kommt also eine Flut von ungezogenen Kindern auf uns zu. Darauf ist die Schule mit ihren Lehrern überhaupt nicht vorbereitet. Die Lehrer, vor allem in den höheren Klassen, weigern sich, Erzieher zu sein. Sie sind der Meinung, die Eltern sollten das leisten. Aber die können das immer weniger. Man kann also sagen: Die Lehrer müssen die Erzieher der Nation werden.«1 Dieses Zitat wirft in zugespitzter Form wichtige Fragen auf, die die demo-grafische Entwicklung in Deutschland mit sich bringt. Pisa hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass Kinder akademisch gebildeter Eltern in Deutschland wesentlich bessere Bildungschancen haben als Kinder, deren Eltern nicht über eine akademische Bildung verfügen. Die Zahl der Akademikerinnen, die kinderlos bleiben, steigt aber in Deutschland aus den verschiedensten Gründen an. Über 30 % der Frauen mit Fach-hochschul- bzw. Hochschulabschluss bleiben heute kinderlos.2 Was bedeutet es, überzogen formuliert, für Deutschlands Nachwuchs, wenn überwiegend die Eltern Kinder bekommen, die selbst über zu schlechte Bildungsvoraussetzungen verfügen, um ihren Kindern in ihrer schulischen Laufbahn die notwendige Unterstützung zu bieten? Wollen und dürfen Eltern ihre Erziehungsverantwortung abgeben? Sollen tatsächlich die Lehrer die Erzieher der Nation werden?

Im Kontext dieser öffentlichen Diskussion zeigt sich die große Herausforderung, vor der die Familienbildung derzeit steht. Aufgabe der Familienbildung ist es seit jeher, Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung zu stärken und ihnen die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln, die sie für die Gestaltung ihres Familienlebens benötigen. Dass diese Aufgabe in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist, ist unbestritten. Durch die Auflösung traditioneller Familienstrukturen und Selbstverständlichkeiten müssen sich junge Menschen heute im Hinblick auf Familienleben und Haushaltsführung vieles aneignen, was früher selbstverständlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Auch in Bezug auf die Erziehung herrscht große Verunsicherung. Der Boom verschiedener Elternkurse an den Familienbildungsstätten in den letzten fünf Jahren deutet darauf hin, dass hier ein großer Bedarf an Information und Austausch besteht. Das Bedürfnis junger Familien nach Orientierung und Unterstützung zeigt sich deutlich; gleichzeitig ist die finanzielle Lage vieler Familienbildungseinrichtungen prekär. Häufig besteht hinsichtlich der personellen und finanziellen Voraussetzungen wenig Verlässlichkeit und es werden überwiegend befristet beschäftigte Honorarkräfte und Ehrenamtliche beschäftigt.3 In dieser Situation soll und muss die Familienbildung sich nun auf neue Wege begeben und Konzepte für neue Zielgruppen entwickeln.

Neue Zielgruppen der Familienbildung

Die Zukunft der Familienbildung wird davon abhängen, ob es gelingt, eine umfassende konzeptionelle Weiterentwicklung im Hinblick auf die Erschließung neuer Zielgruppen und die Schaffung neuer Strukturen voranzutreiben: »Das Arbeitsfeld Familienbildung steht derzeit vor der Entscheidung weiter als Nischenangebot für kleine Bevölkerungsgruppen zu agieren beziehungsweise wahrgenommen zu werden, oder infolge einer grundlegenden Neuorientierung zu einem breit ausgerichteten Bildungs-, Beratungs- und Förderangebot für mindestens fünf große Nutzergruppen zu werden. Die Entscheidung für Letzteres erfordert vor allem die Erprobung neuer Konzeptionen und Strukturen. Dies ist ein spannender, aber auch zukunftsorientierter Weg.«4 Die fünf großen zukünftigen Zielgruppen der Familienbildung sind nach Holz:

  • Menschen in armen oder prekären Lebenslagen,
  • Menschen mit Migrationshintergrund,
  • Menschen mit besonderen Problemen/Belastungen,
  • Menschen mit Handicaps,
  • Seniorinnen und Senioren.

Auch im Rahmen der Veröffentlichung der Ergebnisse des Projekts »Familienbildung in Baden-Württemberg«, das die FamilienForschung des Statistischen Landesamtes im Auftrag des Sozialministeriums durchgeführt hat, wurde auf die Notwendigkeit der Erschließung neuer Zielgruppen hingewiesen. Hier wurden konkrete Vorschläge gemacht, um den Zugang zu den Bildungsangeboten zu verbessern. Dazu zählt beispielsweise die Verlagerung der Angebote in vertraute Einrichtungen wie Schulen oder Kindergärten, die Betreuung aus der Zielgruppe heraus und die niederschwellige Ausrichtung von Angeboten.5 Das folgende Zitat aus dem zwölften Kinder- und Jugendbericht benennt einige Eckpunkte der Diskussion um eine niederschwellige Ausrichtung von Angeboten der Familienbildung. »Um Familienbildung in Deutschland als Selbstverständlichkeit zu etablieren, sind niedrigschwellige Angebote vonnöten, in denen Eltern nicht von Erziehungsexperten belehrt werden, sondern sich selbst als Experten der Erziehung ihrer Kinder angenommen fühlen bzw. sich gegenseitig beraten. Um insbesondere sozial benachteiligte Familien zu erreichen, scheint es eher von Vorteil zu sein, Eltern in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen zu Hause anzusprechen, statt zu erwarten, dass diese Familien selbst aktiv werden und Bildungsangebote wahrnehmen.«6

Wissenschaftliche Begleitung innovativer Projekte

Die Landesstiftung Baden-Württemberg hat die FamilienForschung des Statistischen Landesamtes mit der Evaluation des Förderprogramms »Aktion Familie – Förderung der Familienbildung« von 2002 bis 2004 beauftragt (i-Punkt). In diesem Zeitraum wurden mehr als hundert Modellprojekte finanziell unterstützt, die sich neben der »Normalfamilie« auch an Familien in besonderen Lebenslagen wandten.

Insbesondere im Bereich der Familienbildung für Migrantinnen konnten im Rahmen des Förderprogramms der Landesstiftung Baden-Württemberg Erfolg versprechende Konzepte entwickelt und erprobt werden. Aber auch Familien in Trennungssituationen, allein Erziehende und Familien mit behinderten Kindern waren wichtige Adressaten der geförderten Projekte. Im Schaubild sind die Zielgruppen der evaluierten Projekte nach besonderen Lebenslagen dargestellt.

Gut die Hälfte der Projekte richtete sich entweder an keine spezielle Zielgruppe oder an sehr spezielle Zielgruppen, die unter »Sonstige« erfasst wurden.7 Neben diesen Kategorien stellten Familien mit Migrationshintergrund mit 17 % und mehrfach belastete Familien mit 15 % anteilig die größten Gruppen dar. Eltern mit einem behinderten Kind und allein Erziehende wurden mit je 8 % der geförderten Projekte gezielt angesprochen. Für diese Zielgruppen wurden unterschiedliche Konzepte mit jeweils spezifischen Zugängen erprobt.

Elternkurse für Familien in besonderen Lebenslagen

Einer der am weitesten verbreiteten Elternkurse – der Kurs »Starke Eltern – Starke Kinder« des Deutschen Kinderschutzbundes – wurde mehrfach modifiziert und im Rahmen des Förderprogramms auch für Familien mit besonderem Bedarf angeboten. Erste Evaluationsstudien8 des Elternkurses, an dem in der Regel eher mittelschichtorientierte Eltern teilnehmen, zeigen, dass der Kurs zur Entlastung und zu mehr Vertrauen in die eigenen und die Fähigkeiten der Kinder sowie zu mehr Sicherheit und Zufriedenheit im Umgang miteinander beiträgt. Das Verhaltensrepertoire der Eltern erweitert sich durch den Besuch des Kurses deutlich. Aufgrund dieser nachweislich positiven Effekte auf das Erziehungsverhalten werden derzeit Möglichkeiten getestet, das Konzept für Familien in besonderen Lebenslagen und so genannte »bildungsferne« Familien auszudifferenzieren.

Der Ortsverband Villingen-Schwenningen des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) führte im Rahmen des Förderprogramms beispielsweise unter dem Motto »Familienbildung für alle« Elternkurse durch, die für bestimmte Zielgruppen wie Asylantinnen und Eltern von Kindern in sozialpädagogischen Tagesgruppen überarbeitet wurden. Der Landesverband des Deutschen Kinderschutzbundes testete dasselbe Konzept in der Arbeit mit Patchworkfamilien und allein Erziehenden. Der Ortsverband Böblingen des DKSB führte den Elternkurs mit der Zielsetzung durch, Familien anzusprechen, die die üblichen Angebote der Familienbildung nicht wahrnehmen. Zu den Zielgruppen gehörten hier Migrantenfamilien, allein Erziehende und sozial benachteiligte Familien. In Pforzheim wurde das Konzept in der Arbeit mit Eltern von Neugeborenen erprobt. In Heidenheim kam man nach der Durchführung des Kurses zu dem Ergebnis, zukünftig auch Vormittagskurse für allein Erziehende und samstags Termine für Familien im Schichtdienst anbieten zu wollen. Außerdem soll das Konzept um spezielle Themen wie »Pubertät« und »Patchworkfamilien« erweitert werden.

Flächendeckend können Eltern jedoch nur über Kindertageseinrichtungen und Schulen erreicht werden.9 Insofern kommt Projekten der Familienbildung, die in Kooperation mit Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kinder durchgeführt werden, eine besondere Bedeutung zu. Über hier bestehende Zugangswege können Eltern für Erziehungs- und Bildungsthemen sensibilisiert werden.

Beispiel: Ludwigsburg

Ein Beispiel für ein gelungenes Kooperationsprojekt mit einer Schule ist das Projekt »Adim Adim« (»Schritt für Schritt«) der Arbeiterwohlfahrt gGmbH in Ludwigsburg. An dem Modellprojekt beteiligten sich Schulen, das Büro für Ausländerfragen der Stadt Ludwigsburg, Schulsozialarbeit, türkische Vereine und der türkische Gesamt-Elternbeirat in Ludwigsburg sowie Moscheen, Migrationsdienste und Pro Familia. Es richtete sich an türkische Eltern mit Grund- und Hauptschulkindern im Alter von 6 bis 12 Jahren und zielte darauf ab, die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule zu verbessern. Mit dieser Zielsetzung wurden acht halbtätige Elternseminare mit Kinderbetreuung in türkischer Sprache abgehalten sowie Themenelternabende und Veranstaltungen an Schulen durchgeführt. Durch die Öffnung von Schule und Elternhaus wurden positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit möglich. Die teilnehmenden Eltern wirkten als Multiplikatoren und vermittelten wie eine gute Kooperation praktiziert werden kann. Schule und Eltern verfolgen nun gemeinsam das Ziel Sprachkurse zu organisieren, das Programm »Schritt für Schritt« soll auch für andere ethnische Gruppen angeboten werden. Die teilnehmenden Eltern schlossen sich zu einer Selbsthilfegruppe zusammen und treffen sich weiterhin regelmäßig.

Diese Projekte dienen dazu, die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schulen bzw. Kindertageseinrichtungen zu verbessern und Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung zu stärken. Durch Angebote der Familienbildung werden Eltern in die Lage versetzt, Erziehungs- und Bildungspartnerschaften mit Schulen einzugehen und ihren Kindern die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen. An guten Konzepten mangelt es nicht – allerdings zeigt sich in der Praxis, dass Erfolg versprechende Konzepte ohne Förderung häufig nicht weitergeführt und etabliert werden können. Wenn Eltern in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt werden sollten, dann müssen finanzielle Grundlagen für die Familienbildung geschaffen werden, die es auch ermöglichen, innovative und erprobte Konzepte umzusetzen und nachhaltig zu verankern. Nur dann kann die Erziehungskraft und die Bildungsfunktion der Familie gestärkt werden und die Lehrer müssen nicht zu Erziehern der Nation werden. Denn die zentrale Bildungsinstitution für Kinder ist und bleibt die Familie.10

1 Stuttgarter Zeitung vom 1. Oktober 2005, Interview Seite 8.

2 Klein, Alexandra: Kinderlosigkeit in Baden-Württemberg, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 3/2004, S. 25 ff.

3 Lipinski, Heike/Stutzer, Erich: Wollen die Deutschen keine Kinder mehr? In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 6/2004, S. 3 ff.

4 John, Birgit: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2003, S. 12 ff.

5 Holz, Gerda: Zielgruppen einer Familienbildung von morgen – Gruppen mit besonderem Unterstützungsbedarf, in: Netzwerkrundbrief 10/2002, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main http://www.familienbildung-in-nrw.de/e527/e662/e735/Zielgruppen_ger.pdf , (22.11.2005), S. 10.

6 Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg.) »Familienbildung Baden-Württemberg« 2003, S. 17.

7 Zwölfter Kinder- und Jugendbericht S. 260 f.

8 Unter »Sonstige« fallen beispielsweise Familien mit Intensiv-Kindern, Eltern von Kindern einer bestimmten Tagesgruppe oder Adoptivfamilien. Darüber hinaus zählen zu dieser Gruppe auch Projekte mit verschiedenen Zielgruppen oder Projekte mit Zielgruppen, die mehreren Kategorien gleichzeitig zuzuordnen wäre, zum Beispiel allein erziehende Aussiedlerinnen. Projekte, die nicht auf spezielle Zielgruppen zugeschnitten waren, zum Beispiel Elternkurse, wurden in der Kategorie »keine besondere Zielgruppe« erfasst.

9 Honkanen-Schoberth, Paula: »Starke Eltern – Starke Kinder; Elternkurse des Deutschen Kinderschutzbundes – mehr Freude, weniger Stress mit den Kindern« in: Tschöpe-Scheffler, Sigrid (Hrsg.): »Konzepte der Elternbildung – eine kritische Übersicht«, S. 41-49.

10 Textor, Martin: »Die Bildungsfunktion der Familie stärken: Neue Aufgabe der Familienbildung, Kindergärten und Schulen?« in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV) 05/2005, S. 157.