:: 5/2007

Das Gymnasium wird immer mehr zur»Haupt-Schule«

Übergänge auf weiterführende Schulen 2006

Bei den Übergängen auf weiterführende Schulen zum Schuljahr 2006/07 konnten die Gymnasien ihre starke Position behaupten, wenngleich sie nur noch leicht zulegten. Die Hauptschulen dagegen haben weiter an Anteil verloren. Von den Viertklässlern der rund 2 600 Grundschulen des Landes wechselten fast 28 % auf eine Hauptschule, knapp 33 % auf eine Realschule und über 38 % auf ein Gymnasium. Vor 20 Jahren war die Hauptschule mit einer Übergangsquote von 40 % noch die weitaus überwiegende Schulart, während Realschule und Gymnasium nur auf jeweils 28 % kamen. Zwischen den einzelnen Stadt- und Landkreisen gibt es weiterhin erhebliche Unterschiede bei den Übergangsquoten: So wechselten im Stadtkreis Heidelberg mit rund 58 % anteilsmäßig mehr als doppelt so viele Grundschüler auf das Gymnasium wie im Hohenlohekreis. Diese großen Differenzen sind auf unterschiedliche Grundschulempfehlungen zurückzuführen, aber auch auf abweichende Elternwünsche. Landesweit hätten laut Grundschulempfehlung sogar 46 % der Viertklässler auf ein Gymnasium wechseln können. Bei jedem 6. Kind verzichteten die Eltern aber auf diese Option und wünschten stattdessen lieber den Besuch einer Realschule.

Die 4. Klassenstufe als institutionelle Schnittstelle

Nach dem erfolgreichen Besuch der Klassenstufe 4 steht für alle Grundschüler ein zwingender Schulartwechsel an. Die Eltern müssen entscheiden, welche weiterführende Schule ihr Kind in Zukunft besuchen soll. Viele Eltern sehen in diesem Wechsel und der Wahl der weiterführenden Schule eine Weichenstellung für die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten ihres Kindes, seine Chancen auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz und auch für die soziale Stellung, die ihr Kind einmal einnehmen wird. Laut Kultusministerkonferenz1 ist der »Übergang von einer Schulart in die andere für die Entwicklung des jungen Menschen von so weittragender Bedeutung, dass er mit aller Behutsamkeit und Sorgfalt vorbereitet und vollzogen werden muss « Das natürliche Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder muss bei der Wahl des Bildungsweges beachtet werden. Für die mannigfaltigen Begabungen der heranwachsenden jungen Menschen den richtigen Bildungsweg zu sichern, ist aber auch eine der Grundforderungen unserer Arbeitswelt an die Schule. Dabei müsse jedem Kind – ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen der Eltern – der Bildungsweg offen stehen, der seiner Bildungsfähigkeit entspricht.

Basis für die Wahl der weiterführenden Schule ist die Grundschulempfehlung

Im dreigliedrigen Schulsystem Baden-Württembergs können die Eltern im Prinzip zwischen den Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium wählen. Daneben stehen auch noch sogenannte »integrierte« Schulformen wie die Freien Waldorfschulen oder die drei Schulen besonderer Art2 zur Auswahl. Das mehrstufige Aufnahmeverfahren für die weiterführenden Schulen in Baden-Württemberg beginnt mit einer allgemeinen Informationsveranstaltung für alle Eltern der Schüler der vierten Klassenstufen, gefolgt von Einzelgesprächen mit den Erziehungsberechtigten. Zu Beginn des 2. Halbjahres der Klassenstufe 4 spricht die Grundschule die Grundschulempfehlung aus:

  • Hauptschule oder
  • Hauptschule oder Realschule (eingeschränkte Wahl) oder
  • Hauptschule oder Realschule oder Gymnasium (freie Wahl der Schulart).

Neben den Noten sollen auch das Lern- und Arbeitsverhalten, die gesamte schulische Leistung des Kindes sowie seine bisherige Entwicklung berücksichtigt werden. Der Notendurchschnitt der beiden Fächer Deutsch und Mathematik muss dabei für den Besuch einer Realschule mindestens bei 3,0 liegen, für den Besuch des Gymnasiums bei 2,5. Eltern, die nicht mit der Grundschulempfehlung einverstanden sind, können ihr Kind an einem speziellen Beratungsverfahren teilnehmen lassen. Die Klassenkonferenz wird dann aufgrund des Ergebnisses dieses Verfahrens zusammen mit der Beratungslehrkraft die sogenannte Bildungsempfehlung aussprechen. Sind die Eltern auch mit der Bildungsempfehlung nicht einverstanden, bleibt noch die Möglichkeit, das Kind an einer Aufnahmeprüfung teilnehmen zu lassen3.

Damit spielt in Baden-Württemberg die Grundschulempfehlung eine sehr starke Rolle, ähnlich wie im Nachbarland Bayern das »Übertrittszeugnis« (Notengutachten, ergänzt um ein »pädagogisches Wortgutachten«). Das Gutachten der Schule steht in beiden Ländern über dem Wunsch der Eltern. In den meisten anderen Bundesländern haben dagegen die Eltern das letzte Wort bei der Entscheidung über die Schulart.

Das Gymnasium wird immer mehr zur »Haupt-Schule«

Das Übergangsverhalten auf weiterführende Schulen hat sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert. In den 60er-Jahren war die Hauptschule die »normale« Schule, die ein Kind besuchte. Die Übergangsquoten auf die Hauptschule lagen weit über 60 %. In den 70er-Jahren besuchte dann durchschnittlich schon jedes 5. Kind (21 %) im Anschluss an die Grundschule eine Realschule, und gut jedes 4. Kind (27 %) ein Gymnasium. Dennoch führte noch fast jedes zweite Kind (47 %) seine Schullaufbahn an einer Hauptschule fort. In den 80er-Jahren konnten die Realschulen ihren Anteil auf durchschnittlich 28 % steigern, die Gymnasien auf durchschnittlich 29 %. Entsprechend fiel die Übergangsquote auf die Hauptschule auf durchschnittlich 40 %.

Der leicht ansteigende Trend bei den Übergängen auf die Realschule hat sich auch in den 90er-Jahren fortgesetzt. Seit 1994 haben die Hauptschulen ohne Unterbrechung von Jahr zu Jahr sinkende Übergangsquoten erfahren und die Gymnasien im Gegenzug steigende. Im Jahr 2001 hat das Gymnasium die Hauptschule erstmals bei den Übergangsquoten überholt. Auch die flächendeckende Einführung des 8-jährigen Gymnasiums für alle fünften Klassen zum Schuljahr 2004/05 mit erhöhter Wochenstundenzahl und zusätzlichem Nachmittagsunterricht konnte am Trend zum Gymnasium nichts ändern. 2004/05 war überdies erstmals die Übergangsquote auf die Realschule höher als die auf eine Hauptschule. Zum aktuellen Schuljahr 2006/07 sank die Übergangsquote der Hauptschulen weiter auf 28 %, die der Realschulen stieg auf 33 %. Obwohl sich die Übergangsquoten auf das Gymnasium in den letzten Jahren bereits auf hohem Niveau bewegten, konnte diese Schulart 2006 nochmals leicht zulegen; mit einer Quote von 38 % hat sich das Gymnasium zur »Haupt-Schule«, also zur überwiegend gewählten weiterführenden Schule, entwickelt.

Weiterhin große regionale Unterschiede bei den Übergangsquoten4

Zwischen den einzelnen Stadt- und Landkreisen schwanken die Übergangsquoten erheblich. Bei den Übergängen auf das Gymnasium weisen Regionen mit einer ländlichen Struktur und/oder einer vergleichsweise unattraktiven Verkehrsanbindung niedrigere Quoten auf als Stadt- oder Landkreise mit starken Mittelzentren. Bei den Übergängen auf die Realschule verhält es sich genau umgekehrt. Auch der Wechsel auf die Hauptschule variiert sehr zwischen den Kreisen. Der Stadtkreis Heilbronn mit einem vergleichsweise hohen Anteil an Ausländern und Aussiedlern hat die höchste Übergangsquote auf die Hauptschule (36,2 %), gefolgt vom Zollernalbkreis (35,1 % und dem Kreis Waldshut (34,6 %). Die anteilsmäßig geringsten Übergänge auf die Hauptschule finden sich im Landkreis Tübingen (19,3 %) und in den Stadtkreisen Freiburg (14,9 %) und Heidelberg (14,0 %). Alle drei Kreise sind stark geprägt von der vorhandenen Universität und einem entsprechend hohen Anteil akademisch ausgebildeter Einwohner.

Grundschulempfehlung und Elternwunsch stimmen nicht immer überein

Die großen regionalen Schwankungen sind nur zum Teil auf die unterschiedlichen Empfehlungen zurückzuführen; hinzu kommt nämlich, dass Empfehlung und Elternwunsch nicht immer deckungsgleich sind. So hätten landesweit laut Grundschulempfehlung 46 von 100 Viertklässlern auf ein Gymnasium wechseln können. Diese Option wollten aber nur 83 von 100 der Eltern in Anspruch nehmen, 16 wünschten für ihr Kind stattdessen den Besuch einer Realschule. Mit der Empfehlung »Realschule« waren mit 91 % vergleichsweise viele Eltern einverstanden. Die Empfehlung »Hauptschule« entsprach dagegen bei einem knappen Viertel der Fälle nicht dem Elternwunsch. In der Regel sind Abweichungen von Elternwunsch und Grundschulempfehlung für den Besuch eines »Gymnasiums« eher in ländlich strukturierten bzw. eher gewerblich orientierten Kreisen als in akademisch geprägten Gegenden zu finden. So haben im Hohenlohekreis 557 von insgesamt 1 203 Viertklässlern eine Empfehlung erhalten, die den Besuch des Gymnasiums ermöglicht hätte; allerdings hielt dort gut jedes 3. Elternpaar die Realschule für die bessere Wahl – in Freiburg traf das nur für jedes 50. Elternpaar zu. Neben den unterschiedlichen Ausbildungsniveaus in schwächer besiedelten ländlichen Räumen und in Universitätsstädten spielen sicher auch die Erreichbarkeiten von Gymnasien eine wesentliche Rolle.

Nur wenige erreichen mit der Aufnahmeprüfung doch noch das Ziel

Die Aufnahmeprüfung ist das letzte Mittel, um gegen die Grundschulempfehlung und gegen eine eventuelle Bildungsempfehlung doch noch den Elternwunsch des Besuchs einer Realschule bzw. eines Gymnasiums für das Kind durchzusetzen. Die Prüfung findet an zentral gelegenen Grundschulen statt und wird landeseinheitlich vom Kultusministerium Baden-Württemberg vorgegeben. Im Jahr 2006 haben 2 598 Schüler der Klassenstufe 4 an einer Aufnahmeprüfung teilgenommen. 422 erreichten den nötigen Durchschnitt für den Besuch einer Realschule, 121 schafften auf diese Weise noch das Ziel »Gymnasium«. Damit haben insgesamt 79 % der Teilnehmer die Prüfung nicht bestanden, also lediglich einen Notendurchschnitt von 3,0 oder schlechter erreicht. In früheren Jahren lag diese »Durchfall-Quote« sogar auf noch höherem Niveau:

200584 %
200481 %
200384 %
200290 %

Auch wenn die Grundschulempfehlung »nur« zum Besuch der Hauptschule berechtigt, stehen dem Kind im baden-württembergischen Schulsystem noch viele Wege offen, einen (formell) höherwertigeren Schulabschluss zu erwerben. So konnten im Jahr 2006 6 760 (15 %) Hauptschulabgänger die Schule nach der 10. Klassenstufe mit dem Realschulabschluss in der Tasche verlassen. Auch an vielen beruflichen Schulen des Landes kann bei vorhandenem Hauptschulabschluss noch ein mittlerer Bildungsabschluss erworben werden. Nach dem Besuch der Realschule besteht zum Beispiel die Möglichkeit, an den beruflichen Gymnasien des Landes die Hochschulreife zu erwerben. So legten im Jahr 2006 bereits 31 % der Gymnasial-Abiturienten ihr Abitur an einem beruflichen Gymnasium ab.

1 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Übergang von der Grundschule in Schulen des Sekundarbereichs I, Informationsunterlage des Sekretariats der Kultusministerkonferenz, Stand: März 2006, S. 5.

2 Die »Schulen besonderer Art« (früher: Gesamtschulen) können in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 ohne Gliederung nach Schularten geführt werden (§ 107 SchG).

3 Die Teilnahme an der Aufnahmeprüfung ist auch ohne den Zwischenschritt über die Bildungsempfehlung möglich.

4 Die Übergangsquoten zum aktuellen Schuljahr 2006/07 und zu früheren Jahren können bis hinunter auf die Gemeindeebene unter abgerufen werden.