:: 9/2007

Standpunkt: Was heißt hier Regionalstatistik?

Zunächst sind alle Darbietungen statistischer Daten wegen ihres räumlichen Bezugs Regionalstatistik. Nach Boustedt1 ist Regionalstatistik aber mehr. Sie ist »ein Instrument, das dazu dient, raumrelevante Informationen in allen sozialen und ökonomischen Bereichen zu gewinnen und regionale Strukturzusammenhänge, Verflechtungsbeziehungen und Entwicklungsvorgänge zu analysieren.«

»Mit Statistik kann man alles beweisen – auch das Gegenteil«. Was Fides Krause-Brewer, die alte Dame unter den deutschen Wirtschaftsjournalistinnen, über die Statistik im Allgemeinen sagte, gilt für die Regionalstatistik im Besonderen. Man kann zum Beispiel sagen, dass »Schweden 1992 doppelt so reich wie Hongkong war« aber auch, dass »Hongkong damals fast 200-mal reicher als Schweden«, denn einerseits war Schwedens »Bruttosozialprodukt je Einwohner« damals mit 20 000 US-Dollar doppelt so hoch wie das von Hongkong, andererseits war das »Bruttosozialprodukt je km2« in Hongkong mit 50 Mill. US-Dollar fast 200-mal höher als das in Schweden. Der zweite regionalstatistische Indikator ist zweifellos ein guter, aber nicht im Sinne von Reichtum. Trotzdem: regionalstatistische Daten und Indikatoren sind Werkzeuge zur schnellen, vergleichenden Beobachtung und Interpretation von räumlichen Zuständen und Entwicklungen. Sie bieten wichtige Informationen für alle Gruppen, die am gesellschaftlichen Leben beteiligt sind und sie unterstützen die Kommunikation, wenn ein Konsens über die Bedeutung der Daten existiert.

Informationen für Strategen, Planer, Controller, Wissenschaft und Öffentlichkeit

  • Strategen und Entscheidungsträger wollen signifikante Informationen in kompakter Form. Berater eines bedeutenden deutschen Automobilkonzerns sagten dies einst so: »Der Vorstand wünscht 3 Seiten Papier, das auf einem Kubikmeter Tabellen und Grafiken liegt«. Indikatoren zeigen dem Entscheidungsträger, dass »etwas zu tun ist«, dass »Ziele zu modifizieren sind«, dass »die falsche Richtung gewählt wurde« oder »falsche Instrumente eingesetzt werden«.
  • Für Planer und Raumbeobachter von Regierung und Wirtschaft sind regionalstatistische Daten und Indikatoren Hilfsmittel für Raumdefinitionen, Projektionen und Modellrechnungen. Die Indikatoren »absoluter und relativer Kaufkraftabfluss« zum Beispiel zeigen der planenden Ebene eines Handelsunternehmens, ob in einer Region Kaufkraft abzuschöpfen wäre oder nicht.
  • Von kontrollierenden Instanzen werden Indikatoren zur Erfolgskontrolle und Schwachstellenanalyse eingesetzt. Da Planer, Entscheider, Ausführende und Kontrolleure nicht dieselben Personen sind, zeigt sich hier schon ein großes Dilemma bei der Anwendung von Indikatoren. Die Diversifizierung der Daten, Indikatoren und der Methoden behindert den Konsens. In obigem Beispiel mit der Kaufkraft verwendet der Planer »regionale Kaufkraftindikatoren«, der Entscheider gibt »Ertragsgrößen« vor, der Ausführende soll Kosten minimieren und der Controller verwendet »individuelle Umsatzkennziffern«. Der Streit ist vorprogrammiert, schuldig sind dann nicht die Beteiligten, sondern die Regionalstatistiker und deren Daten.
  • Für die Öffentlichkeit werden regionalstatistische Daten interessant, wenn sie einen spektakulären oder spekulativen Charakter haben. Spektakulär ist zum Beispiel, dass das höchste »Bruttosozialprodukt je Einwohner« mit 51 000 US-Dollar für die Falklands, das niedrigste mit 170 US-Dollar für Mosambik gemeldet wurde. Spekulativ und deshalb vielleicht noch interessanter war, dass Anfang der 90er-Jahre die »Verdoppelungszeit der Bevölkerung« für Brunei bei 9 Jahren, für die Türkei bei 33 Jahren, für die USA bei 77 Jahren lag und für Deutschland überhaupt nicht errechenbar war. Für die öffentliche Meinung erreichen Regionaldaten dann eine überragende Relevanz, wenn die behandelten Themen aktuell und brisant sind. Der damit verbundene Umgang mit regionalstatistischen Daten hat auch eine problematische Seite: Nicht das Datum ist Träger der Botschaft sondern der begleitende Text, wie das Beispiel »Hongkong 200-mal reicher als Schweden« zeigte. Jede Sprachform hat zwar ihre Berechtigung, es ist nur die Frage, wer sich wem in einer paarweisen Beziehung anzupassen hat: der Analytiker dem Politiker, der Statistiker dem Journalisten, …, oder umgekehrt.
  • Für den aufbereitenden Statistiker können regionalstatistische Daten und Indikatoren hilfreich für das Plausibilisieren von Regionalergebnissen sein. Ungewöhnliche Ergebnisse für Standortfaktoren aus Shiftanalysen2 zum Beispiel deuten eher auf statistische Fehler bei der räumlichen oder systematischen Zuordnung und weniger auf regionale Sensationen hin.
  • Dem analysierenden Statistiker dienen regionalstatistische Daten und Indikatoren zur Verifizierung oder Falsifizierung von individuellen Erfahrungen oder wissenschaftlichen Hypothesen. Sie helfen ihm, große Quantitäten von Daten zu managen, zu analysieren und die Resultate in einer verständlichen Weise zu präsentieren – verständlich für strategische, planende, operative und kontrollierende Ebenen sowie für die breite Öffentlichkeit.

Mehrdimensionale Kommunikationsbarrieren

Um regionalstatistische Daten zu Informationen zu machen, ist es oft notwendig, Kommunikationsbarrieren zu reduzieren. Wünschenswert wäre eine Sprache, die jener der früheren Wettervorhersagen ähnelt. Jedermann verstand die statistischen Indikatoren von Wettervorhersagen und das überall auf der Welt. Das trifft nicht immer für unsere aktuelle Begriffswelt zu. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse der Empfänger: Von der Wettervorhersage möchte er etwas – aber nicht zu viel – über das Wetter wissen, denn sein Planen und Handeln ist kurzfristig und kleinräumig. Aber was soll er planen, wenn er hört, dass der »Konnuptialindex« zwischen Einheimischen und Ausländern in der Region »Groß-London« steigt oder die »Geburtenrate« seiner Stadt sinkt. Gar nichts, denn verheiratetet ist er und ein oder zwei Kinder hat er auch schon, und der Sinn des Konnuptialindex ist ihm fremd. Aber sein Interesse wird steigen, wenn die Regierung ein Gesetz vorbereitet, nachdem kinderlose Ehepaare höhere Beiträge zur Rentenversicherung zahlen sollen oder seine Stadt mehrsprachige Schulen einführen möchte und dazu obige Daten in die Diskussion eingeführt werden. Ähnlich ambivalent verhalten sich die Nutzer bei den statistischen Dimensionen Sache, Zeit und Raum.

  • Für die räumliche Dimension lässt sich sagen: Je näher der Name einer regionalstatistischen Einheit zu der Allgemeinsprache und je ferner der Raum zum eigenen Wohnort umso eher werden Aussagen der Regionalstatistik akzeptiert. Am ehesten akzeptiert werden Namen von historischen oder allgemein bekannten administrativen Territorien oder von Landschaften. Dabei scheint es oft unwichtig zu sein, ob die räumliche Definition adäquat ist. Ein Bewohner aus Dortmund zum Beispiel ist vielleicht überrascht, aber er wird akzeptieren, dass die Metropolitan Area von »Mexico-City« 10 oder 20 oder 30 Mill. Menschen hat. Es fällt ihm aber schwer zu akzeptieren, Bewohner von einer Metropolitan Area von 5 Mill. Einwohnern zu sein, denn er lebt in Dortmund, das ist seine »mother-polis« und die hat knapp 590 000 Einwohner, was er in etwa weiß.
  • Ähnlich verhält es sich bei der zeitlichen Dimension. Je entfernter der betrachtete Raum, desto geringer sind für regionalstatistische Werte die Ansprüche an exakte Zeitangaben, an die Aktualität und sogar an die Korrektheit. So ist bemerkenswert, dass in käuflichen statistischen PC-Programmen mit Regionaldaten über die Staaten der Erde die Zeitangaben teilweise oder vollständig fehlen. Die Ansprüche an Aktualität können dagegen bis ins Irrationale steigen, wenn Daten für die Vorbereitung von Regierungsentscheidungen benötigt werden. Dabei kann man den Verdacht haben, dass das Fehlen von aktuellen Zahlen auch ein Vorwand ist, Entscheidungen zu vertagen – »honni soit qui mal y pense«.
  • Für die eingesetzten regionalstatistischen Methoden kann man sagen, dass sie dann am besten akzeptiert werden, wenn sie linear, einfach nachvollziehbar und verständlich dargelegt sind. Bei Begriffen wie »Clusteranalyse«, »Shiftanalyse«, »Diskriminanzanalyse«, »Anaskopie«, »Small Area Estimation« oder »Random indicated Baseline Estimation (RIBE)« werden Leser oder Zuhörer ohne fachstatistische Ausbildung sofort abschalten. Das Wort »Raum-Cluster« zum Beispiel erschreckt die einen – würde es durch »ähnliche Gebiete« ersetzt, so werden Begriff und die verwandte Technik akzeptiert, obwohl keinerlei zusätzliche Information in der Übersetzung liegt. Andere würden bei »Raum-Cluster« sofort mitreden, weil sie die Worte »Raum-Cluster« in »Raum-Klumpen« zu übersetzen in der Lage wären – Cluster hat mit Klumpen im Sinne einer räumlich zusammenhängen Masse aber leider wenig bis nichts zu tun. Übrigens: eine Methode RIBE gibt es nicht.

Die Beispiele sollen verdeutlichen, dass im Mittelpunkt der statistischen Arbeit die Kunden zu stehen haben, ihnen hat die amtliche Statistik mit ihren Kenntnissen und mit ihrer Diktion zu dienen, denn nicht die amtlichen Statistiker sind »die Herren der Daten«, sondern die Allgemeinheit, welche die amtliche Statistik finanziert und ihr ihre Daten treuhänderisch überlässt.

1 Boustedt, Olaf; Grundriss der empirischen Regionalforschung, Teil IV: Regionalstatistik, Hannover, 1975.

2 Shiftanalysen untersuchen, ob Veränderungen eher von einer gegebenen Ausgangsstruktur oder eher von der allgemeinen Entwicklung abhängig waren.