:: 6/2008

Berufswahl und Lebensplanung von Mädchen: Gleichzeitig Gas geben und bremsen?

Überrascht nimmt die Fachwelt immer neu wahr, dass Mädchen heute in Bezug auf Studien- und Berufswahl zwar alles offensteht, diese sich aber dennoch nach wie vor häufig für frauentypische Berufe interessieren und entscheiden. Was bislang höchstens Fachleuten ein Dorn im Auge war, stößt aktuell auf ein sehr viel breiteres Interesse. Der demografische Wandel und in dessen Konsequenz der zu erwartende akute Mangel an qualifizierten Fachkräften führt dazu, dass vielerorts Initiativen ins Leben gerufen werden, die dazu führen sollen, Mädchen für technische Berufe zu begeistern und den Anteil von Studentinnen in natur- und technikwissenschaftlichen Studienfächern zu erhöhen. Bei allen Anstrengungen, junge Frauen für die sich öffnenden Lücken zu begeistern, stellt sich die Frage, was eigentlich die Mädchen selbst dazu meinen. Nutzen sie diese Chancen? Kurz: Wie geht es den Mädchen mit dem Thema Berufs- und Lebenswegeplanung? Was und wer unterstützt sie wirklich? Und wie sehen sie ihre Zukunft?

Noch nie waren Mädchen so gut ausgebildet wie heute; seit 1995 erreichen mehr junge Frauen die Hochschulreife als junge Männer. Im Jahr 2006 waren dies in Baden-Württemberg 36 % der Mädchen im entsprechenden Altersjahrgang, wohingegen die Abschlussquote bei ihren männlichen Altersgenossen bei 32 % lag. Bei den Hauptschulabschlüssen war das Verhältnis umgekehrt. Hier erlangten im selben Jahr 41 % der Jungen und 32 % der Mädchen einen Abschluss.1 Trotz der mittlerweile besseren Startposition von jungen Frauen, haben sich Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt bislang nicht ausgeglichen. Frauen werden nach wie vor schlechter bezahlt und sind seltener in Führungspositionen tätig als Männer. In Baden-Württemberg hat beispielsweise jede vierte vollzeitbeschäftigte Akademikerin ein monatliches Nettoeinkommen von 2 600 Euro oder mehr, bei ihren männlichen Kollegen sind es deutlich mehr als die Hälfte (59 %).2 Obwohl die Zahl der weiblichen Führungskräfte in den letzten 10 Jahren deutlich stärker zugenommen hat als die der männlichen, sind Führungspositionen nach wie vor fest in Männerhand: Von allen Führungskräften in Baden-Württemberg ist nur jede fünfte eine Frau (18 %).3

Ursachen für die weiterhin bestehenden Ungleichheiten sind das durchschnittlich niedrigere Bildungsniveau älterer Frauen, die höhere Teilzeitquote von Frauen sowie familiär bedingte Auszeiten und nicht zuletzt die geschlechtsspezifische Berufswahl. Nach wie vor gibt es typische Männer- und Frauenberufe: In Gesundheitsberufen beispielsweise liegt die Frauenquote derzeit bei 85 %.4

Mittlerweile gibt es zahlreiche Bemühungen, Mädchen auch für männerdominierte Berufe zu begeistern. Prominentestes Beispiel hierfür ist der Girls´day, der eine Institution in ganz Deutschland geworden ist. Durch das Landesprogramm »Schülerinnen forschen – Einblicke in Naturwissenschaften und Technik«, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg für die Jahre 2008 und 2009 ausgeschrieben wurde, soll das Interesse von Schülerinnen an Berufen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften geweckt werden. Das Ministerium für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg fördert unter dem Motto »Wir können alles?! 2008« auch dieses Jahr Mädchenprojekte im Bereich der Berufswahlorientierung.

All diese Bemühungen werden jedoch nur fruchten, wenn es gelingt, Mädchen dort abzuholen, wo sie stehen. Um dieses Ziel zu erreichen ist es notwendig, sich auf einen Perspektivwechsel einzulassen. Wie sieht die Lebens- und Berufsplanung der Mädchen selbst aus? Was wollen sie, wovon träumen sie? Im Landkreis Böblingen wurden unter der Federführung des Gleichstellungsbüros Mädchen der 9. bzw. 10. Klassen aller Schultypen in qualitativen Interviews und über Fragebögen dazu interviewt (i-Punkt).

Partnerschaft – Kind – Karriere ist das am stärksten favorisierte Lebensmodell

72 % der Jugendlichen sind den Ergebnissen der letzten Shell-Jugendstudie zufolge heute der Meinung, dass man eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben zu können.5

Diese hohe Wertschätzung der Familie spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Befragung im Landkreis Böblingen. Drei Viertel aller befragten Mädchen möchten später einmal Kinder haben. Gleichzeitig ist berufliches Engagement für einen Großteil von ihnen zentraler Bestandteil der Lebensplanung (88 %). Die meisten der Befragten wünschen sich beides: Familie und Beruf (63 %).

Im Hinblick auf die Berufswahl sind für Mädchen Spaß, ein gutes Einkommen und die Möglichkeit, eigene Stärken einzubringen die wichtigsten Kriterien. Die Frage der späteren Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt lediglich für ein Viertel von ihnen eine Rolle bei der Berufswahl. Es stellt sich hier die Frage, ob dies eher als positiver Wandel gewertet werden soll, als Anzeichen dafür, dass die Berufswahl einengende Vorstellungen wegfallen? Oder ist es nur die optimistische Verdrängung eines Themas, das sich später mit Macht in das Leben junger Frauen drängt und sie schließlich entscheidend aus dem Arbeitsmarkt verdrängt?

Die Erfahrung aus Workshops mit Schülerinnen und der Einzelberatung zeigt, dass die Mehrzahl der Mädchen den Wunsch hat, Familien- und Hausarbeit mit dem späteren Partner zu teilen.6 Die Frage, ob sie glauben, dass sie dieses Ziel wirklich erreichen können, verneinen die meisten Mädchen. Sie sind der Meinung, dass am Ende doch sie die Verantwortung für Kinder übernehmen müssen. Deshalb sehen sie in der Regel zwei Optionen: »... eigentlich würde ich sagen, dass ich Karriere machen will, aber ich denk´, dass es dann eher Familie, Heiraten und Kinder bekommen wird.« Und eine andere: »Also ich sag´ immer, ich will nicht heiraten und keine Kinder haben ... Keine Kinder, dann gibt es auch keine Probleme.«7 Diese Aussagen zeigen eine tiefe Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Viele Mädchen wünschen sich eine Familie und eine erfüllende berufliche Tätigkeit und sehen gleichzeitig häufig keine Möglichkeit, beides zu vereinbaren.

Die hohe Bedeutung, die dem späteren Einkommen zugemessen wird, steht im Gegensatz zum klassischen Berufs- und Studienwahlranking bei Mädchen. Hier stellt sich die Frage, wie konkret das Wissen der Mädchen zu ihrem zukünftig möglichen Einkommen ist und welchen Einfluss auf die Berufswahl die genaue Kenntnis unterschiedlicher Einstiegsgehälter hätte.

Nach wie vor sind sowohl frühe Berufswünsche von Mädchen und Jungen als auch später tatsächlich getroffene Ausbildungs- und Studienentscheidungen stark von geschlechtsspezifischen Mustern geprägt.8 Die fünf von Mädchen am stärksten besetzten Ausbildungsberufe9 sind:

Industriekauffrau(7,5 %),
Kauffrau im Einzelhandel(6,5 %),
Zahnmedizinische Fachangestellte(5,8 %),
Fachverkäuferin im Lebensmittelhandwerk(5,5 %),
Friseurin(5,3 %)

Die immer noch bestehende Tendenz, einen »typischen« Frauenberuf zu ergreifen, zeigt sich auch im Bereich der akademischen Ausbildung. Studentinnen sind in den Sprach- und Kulturwissenschaften stark überrepräsentiert, während Ingenieurwissenschaften von ihren männlichen Kommilitonen dominiert werden. So sind zum Beispiel in Baden-Württemberg derzeit 78 % der Studierenden der Erziehungswissenschaften weiblich, wohingegen es im allgemeinen Ingenieurwesen nur 12 % sind. Die fünf von Studentinnen am häufigsten besetzten Studienfächer sind Wirtschaftswissenschaften, Germanistik, Humanmedizin, Anglistik/Amerikanistik und Biologie. Junge Männer studieren in Baden-Württemberg am häufigsten Maschinenbau/Verfahrenstechnik, Wirtschaftswissenschaften, Informatik, Elektrotechnik und Wirtschaftsingenieurwesen.10

Trotz der nach wie vor geschlechtstypischen Orientierung vieler junger Frauen und Männer zeichnen sich Veränderungen ab. So sind zum Beispiel Studentinnen in den Rechtswissenschaften (51 %) und Wirtschaftswissenschaften (46 %) mittlerweile ähnlich häufig vertreten wie junge Männer. Auch die Fächer Mathematik (53 %), Chemie (48 %) und Architektur (49 %) werden etwa so häufig von jungen Frauen wie von jungen Männern studiert, Studierende der Humanmedizin sind inzwischen zu 60 % weiblich.

Diese Entwicklungen haben jedoch bisher nicht dazu geführt, die Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt aufzuheben, nach wie vor ist die Berufswahl vieler junger Menschen von geschlechtsspezifischen Mustern geprägt. Wieso gibt es, trotz aller Bemühungen Berufsperspektiven für Frauen und Männer zu erweitern, immer noch so starke Polarisierungen?

Familie spielt im Prozess der beruflichen Orientierung eine zentrale Rolle

Die Lebensentwürfe und Berufswünsche von Mädchen und Jungen werden von der Herkunftsfamilie, Freundinnen und Freunden, der Schule und den Medien beeinflusst. Auch die Berufsberatung – vor allem die der Agenturen für Arbeit – hat einen Einfluss auf die Berufsfindung: durch sie werden 4 von 5 Jugendlichen eines Schulentlassungsjahres erreicht.11 Die Frage ist, ob und wo in diesen verschiedenen Bereichen gesellschaftliche Normen bezüglich geschlechtstypischer beruflicher Tätigkeiten thematisiert und bewusst hinterfragt werden. Vieles deutet darauf hin, dass gerade im Elternhaus häufig geschlechtstypische Orientierungen weitergegeben und verstärkt werden. Wie Mutter und Vater ihre Beziehung gestalten, wie und was sie arbeiten, wie Erfolge gewürdigt werden und mit Misserfolgen umgegangen wird, beeinflusst Kinder und Jugendliche bewusst und unbewusst, wenn es um ihre Zukunftspläne und Ablösung vom Elternhaus geht. Eltern sind Unterstützer und Unterstützerinnen ihrer Töchter und, wie sich in den qualitativen Interviews gezeigt hat, auch Lenkende. Bei der Berufswahl der Töchter nehmen Eltern noch immer vor allem deren soziale und kommunikative Kompetenzen wahr. Um Töchter für naturwissenschaftlich-technische Berufe zu motivieren, bedarf es aus Elternsicht »Einsen« in entsprechenden Fächern. Durchschnittlichkeit reicht in den Augen der Eltern häufig nicht.

Die Mädchen-Befragung im Landkreis Böblingen zeigt, dass die Familie den größten Einfluss auf Berufsentscheidungen von Mädchen hat. Auf die Frage »Wer unterstützt Dich bei der Erreichung Deiner Ziele?« nannten 52 % der befragten Mädchen die Eltern, 39 % das gesamte Umfeld, 5 % den Freund oder die Freundin und 4 % gaben an, keine Unterstützung zu erfahren. Diese Erkenntnis wurde bislang in der professionellen Berufsberatung zu wenig berücksichtigt. Die erfolgreiche Unterstützung von Mädchen und Jugendlichen insgesamt muss das System Herkunftsfamilie stärker thematisieren und einbinden. Mittlerweile gibt es Erfolg versprechende Ansätze, die diese Erkenntnis in die Praxis umsetzen und Eltern stärker und bewusster in den Prozess der Ausbildungs- und Berufsberatung einbeziehen.12

Mädchen lassen sich von den Bezeichnungen der Berufe beeinflussen

Zu wenig Beachtung wurde bislang auch dem Phänomen geschenkt, dass es für Mädchen auch versteckte Hindernisse auf dem Weg zu einem erweiterten Berufswahlspektrum gibt. Begriffe wie »... mechaniker/in« oder »... bauer/in« interessieren eher Jungen, während sich Mädchen durch Begriffe wie »Fein ...« oder »... helferin« oder »… assistent/in« besonders angesprochen fühlen. Ein Beispiel hierfür sind die Berufe Damenschneider/in und Werkzeugmacher/in. Ersteres wird fast ausschließlich von Mädchen gewählt und mit den weiblichen Feldern »Mode« und »Beratung« in Verbindung gebracht. Werkzeugmacher/in hingegen wird mit männlich-technischer Arbeit »nach Mustern oder Zeichnungen« und »Einzelfertigung« beschrieben. Diese Beschreibungen ließen sich ohne Weiteres austauschen. Auch Damenschneider und Schneiderinnen arbeiten nach Mustern und Zeichnungen und in Einzelfertigung und Werkzeugmechaniker beraten Kunden.13 Dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit, die offiziellen Beschreibungen der einzelnen Berufsfelder in Zukunft stärker zu überprüfen und zeigt, wie subtil Einflussfaktoren auf die Berufswahl wirken können.

Mädchen gelten in der Regel als leistungsstark und fleißig und haben in den Bildungsabschlüssen mit den Jungs längst gleichgezogen. Dennoch wählen viele von ihnen nach wie vor typische Frauenberufe und schränken somit ihre Einkommens- und Karrierechancen stark ein. Im Prozess der Berufsfindung bewegen sich Mädchen in verschiedenen Systemen wie Elternhaus, Schule und Freundinnen und werden von diesen massiv beeinflusst. Nur wer diese Systeme abfragt, wertschätzt und nutzbar macht, wird es schaffen, die Kooperation der Mädchen zu erlangen, ihre Ziele zu würdigen und zu verstehen, in der Folge aber auch Optionen der Berufswahl zu erweitern und geeignete Unterstützung zu mobilisieren.

Die Fachwelt sollte also weniger erstaunt sein über die nach wie vor konservativen Berufswahlmechanismen, denn nicht nur die Mädchen selbst sollten Zielgruppe für Unterstützung und Förderung sein. Beraterinnen und Berater, Lehrkräfte, Mütter, Väter und Arbeitgeber sind gleichermaßen gefordert, gelegentlich subtil versteckte Geschlechtersegregation in ihren Aktivitäten aufzudecken und vorhandene Konzepte neu zu überdenken.

1 Bezogen auf einen typischen Altersjahrgang im Abschlussalter, Landesinstitut für Schulentwicklung, Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildung in Baden-Württemberg, 2007, S. 160.

2 Mikrozensus 2006, siehe auch Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Hrsg.): Entwicklungen und Strukturen des Arbeitsmarktes in Baden-Württemberg, Reihe Statistische Analysen 1/2007.

3 Mikrozensus 2004, Angaben zu den Führungspositionen werden im Mikrozensus nur im 4-jährigen Turnus erhoben.

4 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Hrsg.): Pressemitteilung Nr. 79/2008.

5 Deutsche Shell (Hrsg.): Jugend 2006, Frankfurt am Main 2006.

6 Siehe auch Gille, Martina/Sardei-Biermann, Sabine/Gaiser, Wolfgang/de Rijke, Johann: Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland, Wiesbaden 2006.

7 Zitate aus qualitativen Interviews im Rahmen der Befragung »Wie geht es den Mädchen im Landkreis Böblingen?«

8 BMFSFJ (Hrsg.): Mädchen und Jungen in Deutschland, Berlin 2007.

9 Ergebnisse der Berufsbildungsstatistik 2006.

10 Studierende im Wintersemester 2006/07.

11 Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): Beratung, Vermittlung, Förderung für Schulabgänger 2003/04, Nürnberg 2006.

12 Zum Beispiel Beratungsstelle »MOBILE– berufliche Beratung, systemisches Coaching« im Landkreis Böblingen, www.klickindiezukunft.de (Stand: April 2008).

13 Ostendorf, Helga: Die Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz – Wie die Berufsberatung der Bundesagentur den Gleichstellungsauftrag untergräbt, in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 4/2006, S. 11.