:: 11/2008

Wie misst man Alter?

Methodische Aspekte zum Alter und zur Alterung der Gesellschaft

Es führen viele Wege nach Rom, aber das Ziel ist immer dasselbe: Rom. Es gibt verschiedene Wege, Alter zu messen. Das Ergebnis ist jedes Mal etwas anders. Drei Wege zur Messung von Alter stehen im Mittelpunkt: Lebensalter, also die gelebten Jahre seit Geburt, Sterblichkeitsrisiko und die verbleibende Lebenserwartung in einem bestimmten Alter. Die jeweiligen Ergebnisse können zu unterschiedlichen Einschätzungen führen, etwa zum Gesundheitszustand und der Alterung einer Gesellschaft.

Zwei Perspektiven bestimmen in Deutschland das Reden über das Altern der Bevölkerung. Die eine sieht eine Überalterung, gar Vergreisung unserer Gesellschaft und betont vor allem die Negativeffekte des Alters. Sie hat bisher in der Diskussion über das Altern und alternde Gesellschaften eine große Rolle gespielt. Zunehmend rückt daneben eine andere Perspektive, die vor allem die historischen Fortschritte in der Vitalität des Alters betont: Wir werden nicht nur älter, sondern auch gesünder älter. Was ist nun der Fall?

Wer die Alterung der Gesellschaft beschreibt, tut dies oft mithilfe eines Verhältnisses von Zahlen und Angaben wie mehr oder weniger und jünger oder älter. Zum Beispiel fällt in Deutschland der Anteil der 0- bis 19-Jährigen von 20 % (2005) auf 15 % (2050). Absolut und relativ gibt es künftig weniger jüngere Menschen. Gleichzeitig steigt das durchschnittliche Alter der Bevölkerung an: von 42 Jahre (2005) auf 50 Jahre (2050). Doch bleibt es nicht immer bei diesen Vergleichen. »Mehr« wird günstiger als »weniger« und »jünger« vorteilhafter als »älter« gewertet. Zum Vergleich kommt die Bewertung.

Dabei wird gerne übersehen, dass ein Vergleich zwei Betrachtungsrichtungen hat. Wir beobachten und beurteilen die möglichen Entwicklungen des Alterns fast ausschließlich vom Standort der Geburt aus und kaum von dem des Todes. Ein solches, nur in eine Richtung beleuchtetes Zahlenverhältnis kann beträchtliche Folgen in einer Gesellschaft haben, die Wachstum und Jugend höher einschätzt als Schrumpfung und Alter. Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung etwa auf Wirtschaft, soziale Sicherungssysteme und Gesundheit werden überwiegend als problematisch bewertet. Dies kann schließlich »demografische Depressionen« auslösen, da demografische Entwicklungen und besonders das Altern weder kurz- noch mittelfristig aufgehalten werden können. Auch der Versuch, vom zweiten Standort die Entwicklung zu beobachten und zu beschreiben, hat Folgen für die Gesellschaft. Denn wer nun nicht nur die Entwicklung von jünger nach älter betrachtet, sondern auch die von älter nach jünger, macht folgende Entdeckung: Dadurch, dass wir immer älter werden, werden wir auch jünger. Mit anderen Worten: Immer mehr Menschen werden 85 Jahre und älter, und gleichzeitig ist mit Blick auf die verbleibende Lebenserwartung ein 70-Jähriger, der heute lebt, »jünger« als ein 70-Jähriger, der beispielsweise vor 30 oder 40 Jahren gelebt hat. Also eine paradoxe Entwicklung, die für jede Gesellschaft nur schwer begreifbar ist. Dies belegen die kontroversen Diskussionen, wenn es beispielsweise um Altersteilzeit und Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 oder mehr Jahre geht.

Einer, der auch vom zweiten Standort aus das Altern der Gesellschaft beobachtet, ist John B. Shoven. Der Professor an der Stanford University in Kalifornien verwendet das Sterblichkeitsrisiko und die verbleibende oder fernere Lebenserwartung eines Menschen in einem bestimmten Alter, um »Alter« zu definieren.1 Die Daten und seine Aussagen beziehen sich auf die USA. Der folgende Beitrag vollzieht Teile seiner Untersuchung – mithilfe statistischer Daten und von Modellrechnungen – für Deutschland nach (siehe i-Punkt).

Lebensalter – Sterblichkeitsrisiko – Lebenserwartung

Shoven meint, man solle Alter auch anders als bislang üblich messen. Im herkömmlichen Verständnis bestimmen die Jahre, die ein Mensch seit seiner Geburt gelebt hat, sein Alter. Wie alt ein Mensch ist, soll nun nicht mehr nur von seinem Lebensalter abhängen, sondern auch von seinem Sterblichkeitsrisiko. Menschen mit hohem Sterblichkeitsrisiko gelten dann als alt, jene mit niedrigem als jung und jene mit gleichem Risiko als gleichaltrig. Außerdem betrachtet er Alter vom anderen Ende des Lebens. Als Maß dient ihm die verbleibende oder fernere Lebenserwartung. Sie sagt aus, wie viele Lebensjahre ein Mensch in einem bestimmten Alter durchschnittlich noch zu erwarten hat. Menschen mit kurzer Lebenserwartung wären danach alt und jene mit langer jung. Der Vorteil des zweiten Maßstabes ist, dass die Lebenserwartung in Jahren gemessen wird, was allgemein eher verstanden wird als das Sterblichkeitsrisiko, das ein Prozentwert ist. Er gibt an, wie viele von den Menschen in einem bestimmten Alter in diesem Alter voraussichtlich sterben. Letztendlich ist es die Wahrscheinlichkeit, den nächsten Geburtstag nicht mehr zu erleben.

Dieses andere Messen hat Folgen. In der Regel gilt 2008 ein Mann mit 65 Jahren beispielsweise sozialpolitisch als alt, denn er wird spätestens in diesem Alter in die Rente geschickt. Mit Blick auf seine verbleibende Lebenserwartung und sein Sterblichkeitsrisiko ist er etwa so alt wie eine Frau mit 70 Jahren. Noch deutlicher wird die Bedeutung der alternativen Messungen, wenn Bevölkerungen zu verschieden Zeitpunkten betrachtet und verglichen werden, etwa die Bevölkerung 1965 mit der von 2004 oder der voraussichtlichen von 2050. Die verschiedenen Messungen geben zum Beispiel unterschiedliche Antworten darauf, wie viel »ältere« Menschen in Deutschland 2050 leben werden.

Rückgang des alterspezifischen Sterblichkeitsrisikos

Wie hat sich das Sterblichkeitsrisiko in den letzten Jahrzehnten verändert? Das kann auf zwei unterschiedliche Weisen beschrieben werden:

  1. Ausgewählte Sterblichkeitsrisiken und die dazugehörigen Lebensalter in 2 Kalenderjahren
  2. Ausgewählte Lebensalter und ihre Sterblichkeitsrisiken in 2 Kalenderjahren

Zu 1.: In welchem Alter ist bei Frauen und Männern das Sterblichkeitsrisiko zum ersten Mal 1, 2 und 4 %? Die Datengrundlage bilden die Sterblichkeitsrisiken der 50-Jährigen und Älteren 2004 und 1970. Frauen und Männer erreichten diese Sterblichkeitsrisiken 2004 und 1970 jeweils in folgendem Alter:

Jahr1970 2004 
Sterberisiko1 %2 %4 %1 %2 %4 %
Alter Frauen606672677379
Alter Männer536067606774

Danach waren es 2004 die Frauen mit 67 Jahren, die also 1937 geboren wurden, die ein Sterblichkeitsrisiko von 1 % hatten. Frauen mit früheren Geburtsjahren hatten bereits ein höheres Sterblichkeitsrisiko, Frauen mit späteren Geburtsjahren ein geringeres Sterblichkeitsrisiko.

Damit hatten eine 60-Jährige 1970 und eine 67-Jährige 2004 das gleich Sterblichkeitsrisiko von 1 %, eine 66-Jährige 1970 und eine 73-Jährige 2004 das gleiche Sterblichkeitsrisiko von 2 % und eine 72-Jährige 1970 und eine 79-Jährige 2004 das gleiche Sterblichkeitsrisiko von 4 %. Gegenüber 1970 haben sich 2004 die ausgewählten Sterblichkeitsrisiken um jeweils 7 Jahre in höhere Lebensalter verschoben. Wer das Alter mithilfe des Sterblichkeitsrisikos misst, könnte nun zu dem Ergebnis kommen, dass eine 60-jährige Frau 1970 und eine 67-jährige Frau 2004 gleich alt sind. Bei Männern zeigt sich eine ähnliche Entwicklung. Allerdings erreichen sie schon in einem früheren Alter zum ersten Mal ein Sterblichkeitsrisiko von 1 %, 2 % und 4 %. Ein 60-jähriger Mann ist, mit Blick auf das Sterblichkeitsrisiko, älter als eine 60-jährige Frau. Oder ein 67-jähriger Mann 2004, eine 73-jährige Frau 2004 und ein 60-jähriger Mann 1970 hätten demnach das gleiche Alter.

Shoven betont, dass das Messen des Alters mit verschiedenen Maßen eine andere Bedeutung hat als das Messen der Temperatur mit einer Skala nach Fahrenheit oder Celsius. Das Verhältnis zwischen den zwei Temperaturmaßen ist stets linear und konstant. Tatsächlich spielt es keine Rolle, welche Skala benutzt wird. Jedoch die Beziehungen zwischen den verschiedenen Verfahren, das Alter der Menschen zu messen, ändern sich. So ging in den letzten Jahrzehnten das altersspezifische Sterblichkeitsrisiko von Männern stärker zurück als das der Frauen; bei der 1 %, 2 % und 4 % Sterbewahrscheinlichkeit bei Männern jeweils um 7 Jahre, bei Frauen um 6 Jahre. Auch künftig dürften sich beide altersspezifischen Risiken weiter annähern. Für den Anspruch auf öffentliche und private Versicherungsleistungen ist es deshalb nicht egal, ob sich die Leistungen am Lebensalter, am Sterblichkeitsrisiko oder an der verbleibenden Lebenserwartung orientieren.

Zu 2.: Zu ähnlichen Aussagen kommt auch die Betrachtung des Sterblichkeitsrisikos in einem bestimmten Alter, hier die Sterblichkeitsrisiken von Frauen und Männern im Alter zwischen 55 und 79 Jahren 1965 und 2004. Datengrundlage sind also die Sterblichkeitsrisiken der Frauen und Männer der Geburtsjahrgänge 1910 und früher für das Kalenderjahr 1965 und die Geburtsjahrgänge 1949 und früher für das Kalenderjahr 2004.

Die Kurven für 2004 liegen unterhalb der von 1965, und der Abstand zwischen beiden Kurven ist bei Männern größer als bei Frauen. Männer und Frauen haben 2004 in einem bestimmten Lebensalter ein geringeres Sterblichkeitsrisiko als 1965. Gleichzeitig ist das Sterblichkeitsrisiko bei Männern in einem bestimmten Lebensalter absolut stärker gesunken als bei Frauen. Allerdings bezogen auf das schon niedrigere Sterblichkeitsrisiko der Frauen 1965 ist 2004 das Sterblichkeitsrisiko der Frauen relativ stärker gefallen. Gleichwohl näherten sich die altersspezifischen Sterblichkeitsrisiken von Frauen und Männern an.

Sterblichkeitsrisiko und verbleibende Lebenserwartung: Heute gesünder als früher?

Ein weiteres Verhältnis beim Messen von Alter ist das zwischen verbleibender Lebenserwartung und Sterblichkeitsrisiko. Auch dies ist in den letzten Jahrzehnten nicht konstant geblieben; es hat sich geändert. Bei einer gegebenen ferneren Lebenserwartung hatten Frauen und Männer 2004 ein geringeres Sterblichkeitsrisiko als 1965. Zum Beispiel hatten Frauen mit einer ferneren Lebenserwartung von 15 Jahren 1965 ein Sterblichkeitsrisiko von etwa 2,04 %, 2004 lag es bei ungefähr 1,78 %. Bei Männern mit der gleichen ferneren Lebenserwartung lag das Sterblichkeitsrisiko bei 2,44 % (1965) und 2,34 % (2004). Shoven schließt aus dieser Entwicklung, dass sogar bei gleicher Lebenserwartung die Menschen heute eher gesünder sind als die Menschen 1965. Tatsächlich ist jedoch offen, ob mit steigender Lebenserwartung und sinkenden altersspezifischen Sterblichkeitsrisiken auch die sogenannte »behinderungsfreie Lebenserwartung« zunimmt.2 Ziegler und Doblhammer (2007) stellen lediglich fest, dass jüngere Studien zu optimistischen Ergebnissen kommen, sowohl in Bezug auf Deutschland als auch mit Blick auf die OECD-Staaten.3 In ausgewählten westlichen Industriestaaten ist in den 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts die behinderungsfreie Lebenserwartung der 65-jährigen Frauen und Männer zum Teil stärker, zum Teil schwächer gestiegen als die fernere Lebenserwartung.4

Wie stark nimmt die Alterung der Gesellschaft bis 2050 zu?

Wer von Alterung der Gesellschaft spricht, verweist oft auf den steigenden Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Bevölkerung und den sinkenden Anteil junger Menschen. Sein Maß ist das Lebensalter, also die gelebten Jahre seit Geburt. Im Folgenden soll nun neben dieser Definition älterer Menschen in der Bevölkerung noch eine zweite berücksichtigt werden: die Sterblichkeitsrisiken der 65-jährigen und älteren Frauen und Männer. Heute, 2005, sind beide Definitionen älterer Menschen gleichwertig: das Sterblichkeitsrisiko eines 65-jährigen Mannes liegt 2005 bei 1,640 % und das einer gleichaltrigen Frau bei 0,771 %. Jedoch künftig gilt diese Gleichwertigkeit nicht mehr: 65 Jahre und älter bedeutet etwas anderes als 1,640 % und mehr bzw. 0,771 % und mehr (siehe i-Punkt). Nach der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausrechnung dürfte der Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Bevölkerung von derzeit 19,3 % (2005) auf 33,3 % (2050) steigen. Wesentlich flacher ist der Anstieg des Anteils älterer Menschen, wenn das Sterblichkeitsrisiko bei der Messung von Alter zugrunde gelegt wird. Bei Sterblichkeitsrisiken von 0,771 % und höher (Frauen) und 1,640 % und höher (Männer) beträgt zwar 2005 der Anteil älterer Menschen ebenfalls 19,3 %, aber er steigt im Laufe der Jahre auf höchstens 25,8 % und liegt 2050 voraussichtlich bei 24,5 %. Der Anteil der 65-Jährigen und Älteren steigt in diesem Zeitraum also um 73 %, wohingegen bei den gegebenen Sterblichkeitsrisiken der Anteil älterer Menschen nur um 27 % steigt.

Das Fazit: Das Ausmaß der Alterung der Gesellschaft und das Reden darüber ist zum Teil eine direkte Folge dessen, wie Alter gemessen wird. Im Übrigen: Shoven kommt für die USA zu ähnlichen Ergebnissen.

1 Shoven, John B.: New age thinking: Alternative ways of measuring age, their relationship to labor force participation, government policies and GDP,NBER Working Paper Series, Working paper 13476/2007, Cambridge.

2 Siehe beispielsweise Kruse, Andreas u.a.: Kostenentwicklung im Gesundheitswesen: Verursachen ältere Menschen höhere Gesundheitskosten?, Expertise erstellt im Auftrag der AOK Baden-Württemberg, 2003.

3 Ziegler, Uta/Doblhammer, Gabriele: Cohort changes in the incidence of care need in West Germany between 1986 and 2005. Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demographischen Wandels – Diskussionspapier (No. 12), 2007.

4 Martins, Joaquim Oliveira et al.: The impact of ageing on demand, factor markets and growth, OECD – Economics working papers No. 420, 2005, p. 33.