:: 3/2010

40 000 Jahre Wissenswirtschaft im Südwesten

Ob »Venus vom Hohlen Fels« oder altsteinzeitliche Knochenflöte – dass sich die Einwohner des heutigen Baden-Württembergs durch technisches Geschick und Einfallsreichtum auszeichnen, scheint kein Phänomen der jüngeren Zeit zu sein, wie die vor Kurzem auf der Schwäbischen Alb gefundenen und bis zu 40 000 Jahre alten Artefakte zeigen. Diese Leistungen zeugen von technisch-organisatorischem Fortschritt als kontinuierlichem Prozess. Leider existieren für diese Zeit weder amtliche demografische noch Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Für das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg1 verbessert sich die Datenlage erst deutlich nach der Zeit der Jäger und Sammler, nämlich mit dem Jahr 1816, ab dem regionale Bevölkerungszahlen vorliegen. Hinsichtlich des Themas Wissenswirtschaft sind dabei weniger die Bevölkerungsentwicklung und der Bevölkerungsstand als solche von Interesse, sondern vielmehr die Rückschlüsse, die sie indirekt auf die Wirtschafts- und Wissensentwicklung zu einer Zeit ermöglichen, der statistische Erhebungen noch fremd waren. Ohne technischen Fortschritt wäre eine Bevölkerungsentwicklung, wie sie über weite Strecken in der (Vor-)Geschichte zu beobachten war, nicht möglich gewesen.

Seit 1950 hat die Bevölkerung Baden-Württembergs zahlenmäßig um gut zwei Drittel zugelegt. In der längerfristigen Perspektive – entsprechende Werte liegen seit 1816 vor2 – ist das Bevölkerungswachstum erst recht beachtlich: Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich die Anzahl der Einwohner vervielfacht: 2008 lebten rund 4,5-mal mehr Menschen in Baden-Württemberg als im Jahr 1816. Im Jahresdurchschnitt ergibt sich immerhin ein Anstieg von gut 0,78 %.3 Legt man – unrealistisch aber illustrativ – die jährlichen Todesfälle bezogen auf die Einwohner in Baden-Württemberg des Jahres 2008 auch für den übrigen Zeitraum zugrunde (896,9 Verstorbene je 100 000 Einwohner), müsste auf jede bzw. jeden im jeweiligen Jahr Verstorbene bzw. Verstorbenen vor ihrem bzw. seinem Ableben für jeweils rund 1,87 Nachfolger (auf welche Art und Weise auch immer, sei es durch eigene Nachkommen oder Zuwanderer) kommen, um den erforderlichen Beitrag zum genannten jahresdurchschnittlichen Anstieg der Einwohnerzahl zu leisten.

Zusammenhang zwischen Bevölkerungsstand und -entwicklung?

Interessanter als das bloße Bevölkerungswachstum und die obigen Gedankenspiele ist aber die Art und Weise, wie sich die Einwohnerzahlen über verschiedene Epochen entwickelt haben und welche darüber hinausgehenden Erkenntnisse sich herleiten lassen. Schaubild 1 bildet die tatsächliche und die (hypothetische) Entwicklung bei kontinuierlichem, jahresdurchschnittlichem Wachstum ab. Bereits die hier dargestellte Gesamtschau der Absolutwerte zeigt, dass sich das Ausmaß des Bevölkerungswachstums in verschiedenen Zeitabschnitten mitunter deutlich unterscheidet. Im Kontext der hier betrachteten Fragestellung ist jedoch der Zusammenhang von Bevölkerungsstand und Bevölkerungsentwicklung aufschlussreich. Schaubild 2 stellt die Veränderungsraten der Bevölkerungszahl in Abhängigkeit zum jeweiligen Absolutwert dar. Wäre die Bevölkerung seit 1816 mit der erwähnten jahresdurchschnittlichen Rate gewachsen, wären Bevölkerungsstand und Bevölkerungswachstum über den gesamten Zeitraum vollkommen unabhängig voneinander (in Schaubild 2 würde sich dies als eine zur Abszisse parallele Reihe darstellen). Tatsächlich weisen die jahresdurchschnittlichen Veränderungsraten zwischen 1828 und dem Ende der 1960er-Jahre eine positive Beziehung zum jeweiligen Bevölkerungsstand auf: die Bevölkerungszahl stieg tendenziell mit wachsender Rate. Erst in jüngerer Zeit (ungefähr seit Ende der 1960er-Jahre) bricht der positive Zusammenhang zwischen Bevölkerungsstand und Bevölkerungswachstum zusammen.

Jeder Mensch ist ein potenzieller Erfinder

Welche Erklärungsansätze lassen sich für das zunächst überexponentielle Bevölkerungswachstum finden? 4 Zunächst ist es hilfreich, von der stark vereinfachten Annahme auszugehen, dass es ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen gibt, nach dem sich das menschliche Reproduktionsverhalten richtet. Man könnte hier an ein Existenzminimum denken, was aber nicht zwingend ist. Die Güterproduktion ist vom Bevölkerungsstand und vom technischen Wissen abhängig. Bei gegebenem Wissensstand (ohne technischen Fortschritt also) und einem bestimmten Einkommen ist der Bevölkerungsstand damit bestimmt. Gesetzt den Fall, die Einwohnerzahl läge (aus welchem Grund auch immer) über dem Wert, der mit dem gleichgewichtigen Einkommen übereinstimmt, würde sie sich wieder nach unten anpassen, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Der Einfachheit halber soll zunächst angenommen werden, dass solche Anpassungen der Bevölkerungszahlen ohne Zeitverzögerung erfolgen würden. Ohne technischen Fortschritt wäre diese Welt allerdings statisch und es würde unter diesen Bedingungen auch keinen Anlass für solche Anpassungen geben. Technischer Fortschritt und Bevölkerungsstand stehen jedoch in Beziehung zueinander: Selbst bei konstanter Einwohnerzahl dürfte es zu Innovationen kommen, wenn ein Teil der gesamten Arbeitszeit für »Forschung und Entwicklung« (im weitesten und damit auch im rudimentärsten Sinn) verwandt wird. Je zahlreicher die Bevölkerung, desto größer ist unter sonst gleichen Umständen das Innovationspotenzial und damit der technische Fortschritt.

Verknüpft man diese Überlegungen zum technischen Fortschritt mit den Annahmen zum Produktionsprozess und dem Anpassungsprozess an die gleichgewichtige Wertschöpfung, ergibt sich folgender Zusammenhang: Forschung und Entwicklung führen zu Innovationen und steigender Produktivität, die für sich betrachtet zu einer Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens führen würden. Dieses setzt sich unmittelbar in einen Anstieg der Bevölkerungszahl um, sodass das gleichgewichtige konstante Pro-Kopf-Einkommen wieder hergestellt ist. Die höhere Bevölkerungszahl steigert wiederum das Innovationspotenzial. All dies impliziert, dass im Zeitverlauf ein positiver Zusammenhang zwischen Bevölkerungsstand und Bevölkerungsentwicklung zu beobachten sein müsste, was über weite Strecken ja auch zutrifft.

Innovationen überschreiten Grenzen, fallen aber nicht auf überall gleich fruchtbaren Boden

Für die Interpretation der baden-württembergischen Bevölkerungsdaten ist noch die Einschränkung wichtig, dass das technisch-organisatorische Wissen, das den Bewohnern einer Region zur Verfügung steht, nicht zwangsläufig auch von ihnen in eigener Innovationsleistung hervorgebracht worden sein muss. Angesichts der heutigen digitalen Vernetzung gilt dies mehr denn je, jedoch müssen zur bloßen technischen Verfügbarkeit des Wissens auch noch die entsprechenden gesellschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen treten, es entsprechend im Produktionsprozess einzusetzen. Sicherlich findet man weltweit bevölkerungsreichere Regionen als Baden-Württemberg, deren Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung nichtsdestotrotz geringer ist. Die Aussage, dass ein höherer Bevölkerungsstand mit höherer Wirtschaftsleistung einhergeht, gilt für eine Region im Zeitverlauf unter sonst gleichen Umständen, im Querschnittsvergleich nur für Regionen, zwischen denen keine Kommunikation stattfindet. Für die deutschen Bundesländer trifft dies beispielsweise nicht zu, sodass das Modell zur Erklärung von bundesdeutschen Einkommensunterschieden nicht beitragen kann. 5

Steigendes Pro-Kopf-Einkommen bei sinkendem Bevölkerungswachstum in den letzten vier Jahrzehnten

Wie aus Schaubild 2 hervorgeht, liefern die vorangegangenen Überlegungen allerdings keine Erklärung für die Bevölkerungsentwicklung der letzten vier Jahrzehnte. Als zu restriktiv erweist sich die unterstellte »unendliche« Anpassungsgeschwindigkeit der Bevölkerungszahl, die erforderlich ist, um das Erreichen des als konstant angenommenen Pro-Kopf-Einkommens zu gewährleisten. Der für Baden-Württemberg bevölkerungsstatistisch zugängliche Zeitraum ab 1816 (und vermutlich schon weit früher) dürfte vielmehr – nicht zuletzt durch die zunehmende Industrialisierung – mit einem Produktionsanstieg verbunden gewesen sein, der sich nicht nur in einen Bevölkerungsanstieg, sondern mutmaßlich auch in ein steigendes Pro-Kopf-Einkommen umsetzte. Für Deutschland insgesamt spricht einiges dafür. Die Industrieproduktion stieg hier zwischen 1851 und 1913 jahresdurchschnittlich um knapp 3 % an, während das Bevölkerungswachstum im gleichen Zeitraum mit einem Durchschnittswachstum von rund 1 % deutlich dahinter zurückblieb. 6 In Baden-Württemberg wird sich die Entwicklung kaum substanziell anders dargestellt haben. Es bietet sich also an, das Modell um Annahmen über das Bevölkerungswachstum zu erweitern, die einen kontinuierlichen Anpassungsprozess darstellen und damit steigendes Pro-Kopf-Einkommen zulassen.

Theorie und Empirie legen deshalb nahe, dass das Bevölkerungswachstum mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen bis zu einem gewissen Wert steigt. Für darüber hinausgehende höhere Einkommen sinkt das Wachstum und nähert sich einem Grenzwert an. 7 Insgesamt bedeutet dies: Der technische Fortschritt erhöht das Pro-Kopf-Einkommen und damit auch das Bevölkerungswachstum. Dieses wiederum verstärkt den technischen Fortschritt, was dazu führt, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen in diesem dynamischen Prozess immer weiter steigert. Schließlich wird das Einkommensniveau erreicht, ab dem das Bevölkerungswachstum nachlässt und sich dann einem konstanten Wert annähert. Der Zusammenhang von Bevölkerungsstand und Bevölkerungsentwicklung wird entsprechend immer schwächer, was sich mit dem Zahlenmaterial für die letzten vier Jahrzehnte deckt.

Paläolithische Vernetzung in Baden-Württemberg

Die Überlegung, dass technischer Fortschritt wesentlich vom Wissensstand abhängig ist und sich damit gewissermaßen selber generiert, ist also mit den Bevölkerungsdaten konsistent. Argumente dafür, dass demografische Bedingungen ursächlich für kulturellen und technischen Fortschritt waren, liefern aus archäologischer und evolutionsgenetischer Sicht auch Powell und andere8, die den Erwerb und die Weitergabe kultureller Techniken über Generationen durch Modellrechnungen abbilden. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der Übergang zum Jungpaläolithikum, der sich in Europa vor ca. 45 000 Jahren abgespielt hat und durch eine bedeutende Steigerung der technologischen und kulturellen Komplexität gekennzeichnet ist, wesentlich durch eine bestimmte kritische Bevölkerungsdichte bestimmt ist. Dieser Wert wurde in unterschiedlichen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten erreicht.9 Darüber, was die »Verdichtung« der Bevölkerung letztlich herbeigeführt haben könnte, existieren verschiedene Hypothesen, die die Autoren ebenfalls darstellen.

Die steinzeitlichen Ur-Baden-Württemberger von der Schwäbischen Alb, die sich der Elfenbeinschnitzerei und dem Bau von Musikinstrumenten gewidmet hatten, waren damit nicht unbedingt klüger als ihre Zeitgenossen, möglicherweise aber (und vorbehaltlich dessen, was an Artefakten bislang noch anderswo unentdeckt geblieben ist) besser vernetzt.

1 Das Land Baden-Württemberg wurde 1952 gegründet. Wenn ältere Zahlen genannt werden und anachronistisch von Baden-Württemberg die Rede ist, ist das Gebiet des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg gemeint, soweit es sich statistisch abbilden lässt.

2 Die Bevölkerungsdaten von 1816 bis 1939 für Württemberg, Baden und (ab 1864) Hohenzollern finden sich bei: Brian R. Mitchell (3. Auflage, 1992); International Historical Statistics: Europe 1750–1988, S. 51f.

3 Genau genommen handelt es sich um 0,780285094 %. In Anbetracht des Zeithorizonts von 192 Jahren erscheint dieser Hinweis auf 9 Dezimalstellen vielleicht ausnahmsweise angemessen: Ein jahresdurchschnittliches Bevölkerungswachstum von (exakt) 0,8 % würde von 1816 an zu einem Bevölkerungsstand im Jahr 2008 geführt habe, der den tatsächlichen um immerhin gut 410 000 Personen übertroffen hätte.

4 Die Argumentation folgt Michael Kremer (1993); Population Growth and Technological Change: One Million B.C. to 1990, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 103(3), S. 681–716.

5 Gegenwärtig dürften solche Regionen kaum noch zu finden sein. Die räumliche und – wie der Titel seines Beitrags schon andeutet – zeitliche Perspektive, anhand derer Kremer (1993) seine Hypothesen testet und bestätigt, sind wesentlich weiter gefasst.

6 Für die Zahlen zur Industrieproduktion vgl. Burhop, Carsten/Wolff, Guntram B. (2005); A Compromise Estimate of German Net National Product 1851–1913 and its Implications for Growth and Business Cycles, in: Journal of Economic History, Bd. 63(3), S. 613–657. Die Bevölkerungszahlen für Deutschland finden sich erneut bei Mitchell (3. Auflage 1992).

7 Kremer zitiert mögliche Gründe dafür aus der Literatur. Eines lautet, dass die individuellen ökonomischen Anreize für Nachkommenschaft mit steigendem Einkommen sinken. So verlieren beispielsweise eigene Kinder mit steigendem Einkommen als Altersvorsorge an Bedeutung.

8 Powell, Adam/Shennan, Stephen/ Thomas, Mark G.: Late Pleistocene Demography and the Appearance of Modern Human Behavior, in: Science, Bd. 324 (6/2009), S. 1298–1301.

9 Diese kritische Bevölkerungsdichte schätzen Powell und andere (2009) für Europa (ohne Skandinavien) auf 3,2714 Bewohner pro 10 000 km² (!).