:: 4/2011

Konjunkturprognosen: lernen aus der Vergangenheit?

Der Abgleich von Konjunkturprognosen mit der Realität fällt bisweilen ernüchternd aus. Allerdings kann der Prognostiker auch mildernde Umstände geltend machen. Zunächst ist »die Konjunktur« nicht unmittelbar zu beobachten. Zur Messung ist man auf Indikatoren angewiesen, die zum einen erst mit einer gewissen Zeitverzögerung vorliegen, zum anderen den Konjunkturverlauf unterschiedlich gut abbilden. Unabhängig davon ist immer mit einer Unsicherheit bezüglich des Prognosemodells zu rechnen. Diese grundsätzlichen Unzulänglichkeiten sind nicht zu beheben. Was bleibt ist, die konjunkturrelevanten Informationen aus den Indikatorzeitreihen möglichst gut herauszufiltern. Im Folgenden soll ein Ansatz dargestellt werden, der genau dies versucht. Die Grundidee wird zunächst anhand einer Simulationsrechnung erläutert und dann auf empirische Daten übertragen. Hierzu werden die Auftragseingänge im Verarbeitenden Gewerbe aus dem Ausland und dem Inland sowie der Produktionsindex des Verarbeitenden Gewerbes herangezogen. Es zeigt sich, dass der Verlauf der drei Indikatorzeitreihen bei allen Unterschieden von einer gemeinsamen, nicht unmittelbar zu beobachtenden Komponente bestimmt zu sein scheint, die auch die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts maßgeblich bestimmen dürfte. Das vorgestellte Verfahren könnte nach weiteren Untersuchungen weitere Möglichkeiten eröffnen, die Konjunkturprognosen des Statistischen Landesamts auf eine breitere methodische Grundlage zu stellen.

Der Konjunktur auf der Spur

Kernindikator zur Beurteilung der konjunkturellen Lage ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), insbesondere dessen quartalsweise Veränderungsraten, sei es zum Vorjahresquartal oder zum Vorquartal. Das Statistische Landesamt stellt hierzu Berechnungen für das baden-württembergische BIP an. Für die Konjunkturberichterstattung ergeben sich einige Schwierigkeiten. Zunächst ist das quartalsweise Bruttoinlandsprodukt nicht unmittelbar zu beobachten, sondern wird indikatorgestützt – und damit indirekt – berechnet. Die hierfür notwendigen Indikatoren liegen nicht in »Echtzeit« vor, sondern erst mit einer gewissen Zeitverzögerung, sodass erste Ergebnisse für ein abgelaufenes Quartal erst knapp 2 Monate später vorliegen. Wer sich dagegen an einer Wettervorhersage versucht, ist diesbezüglich besser dran, da wichtige Indikatoren unmittelbar zugänglich sind. Um zu wissen, ob es momentan regnet, genügt ein Blick aus dem Fenster. Andere Ausgangsdaten für die Prognose wie Luftdruck und Temperatur sind jederzeit abzulesen.

Hinzu kommt: Sind erste Berechnungen für das BIP im zurückliegenden Quartal abgeschlossen, ist dieser Wert leider nicht für alle Zeit festgeschrieben. Die amtlichen Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in Deutschland werden zu unterschiedlichen Berechnungsständen veröffentlicht, die auf im Zeitverlauf verbesserten Informationen beruhen. Auch hier ist die Wettervorhersage im Vorteil. Wenn man in einem Zeitraum eine gewisse Niederschlagsmenge registriert hat, wird man diese Messung später nicht revidieren müssen. Bei allen genannten Unsicherheiten der Prognosegrundlagen besteht die Herausforderung darin, aus den vorhandenen (und zwangsläufig unvollkommenen) Informationen den konjunkturrelevanten Inhalt möglichst gut herauszufiltern.

Neben dem BIP erlauben auch andere Größen selbstverständlich Rückschlüsse auf den Stand der wirtschaftlichen Aktivität. Beispielhaft seien Umsätze, geleistete Arbeitsstunden, Auftragseingänge, Produktions- oder Stimmungsindikatoren genannt. Tatsächlich gehen ja in den Gesamtkonjunkturindikator des Statistischen Landesamts auch solche Reihen ein. Dieser Gesamtkonjunkturindikator ist allerdings so konstruiert, dass er eher längerfristige Entwicklungslinien des BIP abbildet. So weist er gegenüber der gleitenden Jahresrate des BIP zwar einen Vorlauf von 3 Quartalen auf, für die Prognose konkreter quartalsweiser BIP-Veränderungsraten ist er jedoch weniger gut geeignet. Der lange Vorlauf wird nämlich durch eine gewisse »Trägheit« erkauft. Ein einzelnes Quartalsergebnis beeinflusst die gleitende Jahresrate relativ wenig. Anders gewendet: Der herkömmliche Konjunkturindikator ist mit verschiedenen BIP-Quartalsergebnissen vereinbar. Das im Folgenden vorgestellte Verfahren soll den bekannten Konjunkturindikator daher nicht ersetzen, sondern ergänzen, indem es dazu beiträgt, diese Lücke zu schließen. Ziel soll es sein, die konjunkturrelevanten Informationen aus den Indikatorserien mittels eines Zeitreihenmodells dergestalt herauszufiltern, dass die Prognose von BIP-Quartalswerten auf eine fundiertere methodische Grundlage gestellt wird.

Mit dem Irrtum leben

Schematische Darstellungen des Konjunkturverlaufs gehen häufig von einem sinuskurvenähnlichen Konjunkturverlauf aus. In Schaubild 1 soll diese Vorstellung in einer Simulation aufgegriffen werden. Dargestellt ist eine gedämpfte Schwingung (der angenommene Konjunkturverlauf), die in Wirklichkeit nicht direkt zu beobachten sei. Beobachtbar seien dagegen drei Indikatorzeitreihen z1 bis z3 (die beispielsweise Industrieproduktion, Auftragseingänge oder ähnliches simulieren sollen), deren Messergebnisse sich aus dem Konjunkturverlauf und zufälligen Schwankungen (zum Beispiel aufgrund von Messstörungen, Schocks) zusammensetzen. Eine intuitive Möglichkeit, den Konjunkturverlauf aus den vorhandenen Informationen herauszufiltern, könnte darin bestehen, den Mittelwert der drei Messungen zu einem bestimmten Zeitpunkt heranzuziehen, in der Hoffnung, dass sich die Störungen irgendwie neutralisieren. Allerdings zeigt die Abbildung, dass die Indikatorzeitreihen unterschiedlich stark streuen und sich demnach auch hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit unterscheiden. Eine effiziente Schätzung sollte dies miteinbeziehen.

Die Grundidee des im Folgenden dargestellten Verfahrens ist intuitiv einleuchtend, was anhand eines kleinen, in Schaubild 2 illustrierten Exkurses deutlich wird1. Angenommen, eine Messung y1 würde den Wert 0 liefern, ein anderes Verfahren die Messung y2 mit dem Wert 2. Ob die Wahrheit hier – wie vermeintlich sonst so oft – in der Mitte liegt, ist natürlich nicht auszuschließen (zufällig könnte das der Fall sein). Die beste Schätzung auf Grundlage der beiden Messungen liegt im Beispiel allerdings näher an y2, da die Standardabweichung des zweiten Verfahrens geringer ist, und die Messung damit zuverlässiger. Bemerkenswert ist, dass die Standardabweichung der auf der Grundlage von y1 und y2 gemeinsam vorgenommenen Schätzung geringer geworden ist als die der allein aufgrund von y1 oder y2 angestellten. Tatsächlich kann sich das Ergebnis nicht verschlechtern. Wenn die Streuung von y1 erheblich höher wäre und die Messung damit unzuverlässiger, würde sich das Gewicht weiter in Richtung y2 verschieben2. Im Extremfall wäre y2 die beste Schätzung und auch die Standardabweichung könnte nicht größer werden als die von y2.

Beide Messungen können auch in eine (gedachte) zeitliche Abfolge gebracht werden. Solange nur y1 vorliegt, ist y1 die beste Schätzung für den (unbekannten) wahren Wert, und man würde den gleichen Wert auch für die folgende Messung erwarten. Das tatsächliche Messergebnis y2 macht eine Korrektur der bisherigen Schätzung für den wahren Wert nötig. Für weitere Messungen würde sich das Schema aus Prognose des Messwerts und Korrektur der Prognose anhand des dann tatsächlich gemessenen Werts iterativ wiederholen.

Wie man misst, was man nicht sieht (I): ein simuliertes Modellbeispiel

Damit ist ein Verfahren – der sogenannte Kalman-Filter – in Grundzügen beschrieben, das geeignet ist, die gemeinsame Komponente der drei simulierten Messreihen herauszufiltern3. Da der Konjunkturverlauf natürlich nicht statisch ist, muss noch die Dynamik des Systems, die sich in der »gemeinsamen Komponente« ausdrückt, spezifiziert werden (was auch für die Prognose wichtig ist). Der hier simulierte Konjunkturverlauf ergibt sich aus einer linearen homogenen Differenzengleichung zweiter Ordnung mit konjugiert komplexen charakteristischen Wurzeln4. Durch die Parameterwahl ist die Stabilität des gedachten Konjunkturverlaufs gewährleistet. Den Indikatorzeitreihen z1 bis z3 liegt dieser Konjunkturverlauf als gemeinsame Komponente zugrunde. Die Messungen seien allerdings durch zufällige, normalverteilte Schwankungen mit dem Mittelwert 0 und unterschiedlichen Varianzen gestört

Wie ist der Kalman-Filter nun auf den hypothetischen Fall des simulierten Konjunkturverlaufs anzuwenden, wenn man annahmegemäß keine weiteren Informationen als die Messungen der Indikatorzeitreihen z1 bis z3 und eine Hypothese über die Art des autoregressiven Prozesses zur Verfügung hat? Hier kommt das anhand von Schaubild 2 skizzierte iterative Verfahren zum Tragen. Die Messwerte einer Periode werden herangezogen, um die Messwerte der Folgeperiode zu prognostizieren; liegen die tatsächlichen Messwerte dann vor, kann der Prognosefehler berechnet werden. Dieser Prognosefehler wird dann verwendet, um die fehlerhafte Prognose zu verbessern – allerdings nicht »eins zu eins«, denn das würde bedeuten, den aktuellen Messungen einen womöglich zu hohen Informationsgehalt zuzumessen. Auf das in Schaubild 2 gezeigte Beispiel bezogen würde das bedeuten, für y2 eine Streuung von nahe Null anzunehmen, so dass y1 kaum ins Gewicht fällt. Für das Konjunkturbeispiel wäre diese Annahme offensichtlich unangemessen.

Wie man aus Erfahrung (vielleicht) klug wird

Wie stark die Informationen der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft fortwirken, hängt also auch von der Streuung der Prognosefehler ab, für die zunächst ein Wert gesetzt werden muss, um den Kalman-Filter anwenden zu können. Glücklicherweise ist man hier nicht auf Intuition angewiesen, sondern kann die Parameter so setzen, dass die logarithmierte Likelihood-Funktion der Störgrößen (hinter denen beispielsweise die bereits erwähnten Schocks oder Messfehler stehen) maximiert wird. Das geschieht, indem die Erwartungsfehler und deren Varianzen minimiert werden5. Schaubild 3 zeigt, dass der aus den Zeitreihen z1, z2 und z3 auf diese Weise »herausgefilterte« Konjunkturverlauf der simulierten tatsächlichen Entwicklung recht nahe kommt. Trotz der mit wohldefinierten Parametern gewissermaßen unter Laborbedingungen erzeugten Zeitreihen des hypothetischen Beispiels ist die Übereinstimmung nicht perfekt. Eine solche perfekte Übereinstimmung würde sich ergeben, wenn man genaue Kenntnis über den dynamischen Prozess hätte (die Parameter der Differenzengleichung und die Anfangsbedingungen im Beispiel). Unter dieser Bedingung könnte man auf die Messwerte der Indikatorzeitreihen verzichten, also von einer »unendlich« großen Streuung ausgehen. Sehr restriktive Bedingungen also, die in der Realität schon deswegen nicht anzutreffen sind, weil stets ein erhebliches Maß an Modellunsicherheit besteht. Der Kalman-Filter ist diesbezüglich relativ tolerant, weil die Modellunsicherheit explizit in die Berechnungen einbezogen wird.

Das beschriebene Verfahren findet also die optimale Balance zwischen Modelleinflüssen und Messwerten. Die Dynamik des Systems ist dennoch so gut wie möglich abzubilden, da sie für die Prognose eine wichtige Rolle spielt (für den Prognosezeitraum sind ja naturgemäß keine Beobachtungen mehr vorhanden). Im Beispiel ist die zukünftige konjunkturelle Entwicklung anhand der Schätzwerte der Vergangenheit prognostiziert. Im Prognosezeitraum setzt sich die Schwingung damit fort. Da für die Indikatorvariablen keine Messwerte mehr vorliegen, kann auch keine Korrektur erfolgen. Je länger der Prognosezeitraum gewählt wird, desto unsicherer wird die Schätzung, was man am ebenfalls dargestellten Prognoseintervall erkennen kann.

Wie man misst, was man nicht sieht (II): empirische Anwendung

Die Realität ist zwar viel komplexer als das hypothetische Beispiel mit seinen regelmäßigen Schwingungen, allerdings lohnt es sich, die oben beschriebene Idee aufzugreifen. Betrachtet man den Verlauf des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts für Baden-Württemberg, wie er zum Beispiel in »Konjunktur Südwest« regelmäßig abgebildet wird, fällt ein trendmäßiger Anstieg und ein deutliches saisonales Muster auf. Von beiden Eigenschaften abstrahiert die Konjunkturberichterstattung. Der Trend – wie auch immer operationalisiert – spiegelt eher langfristige, angebotsseitige Rahmenbedingungen wider: ein Anstieg der Wirtschaftsleistung aus saisonalen Gründen ist auch mitten in einer Wirtschaftskrise möglich.

Zur Saison- und Trendbereinigung existieren verschiedene Verfahren, die das Statistische Landesamt auch sonst in der Konjunkturberichterstattung durchaus anwendet. Im Folgenden soll allerdings ein eher rudimentäres Verfahren gewählt werden, um die Nähe zur ursprünglichen BIP-Reihe zu erhalten, indem die Originalreihe logarithmiert und Differenzen zum Vorjahr gebildet werden. Durch diese Transformation der Daten erhält man Werte, die ungefähr den Veränderungsraten entsprechen. Der Verlauf der geglätteten transformierten BIP-Werte zeigt, dass hinter der Veränderung der Wirtschaftsleistung tatsächlich so etwas wie die modellhaft angenommene Schwingung steckt. Gleiches gilt für die genannten Indikatorzeitreihen. In Schaubild 4 sind diese Indikatorzeitreihen und deren nach dem oben vorgestellten Verfahren geschätzte gemeinsame Komponente abgebildet6.

Die gemeinsame Komponente gibt einen Hinweis darauf, wie sich der BIP-Verlauf im Prognosezeitraum entwickeln könnte. Zu diesem Zweck sind die geschätzte gemeinsame Komponente mit der logarithmierten und saisonal differenzierten BIP-Zeitreihe in Schaubild 5 gemeinsam dargestellt7. Es zeigen sich zwar zum Teil nicht unerhebliche Diskrepanzen, allerdings ist zu berücksichtigen, dass ja auch die BIP-Zeitreihe in der Logik des Modells nicht mit dem Konjunkturverlauf identisch ist, sondern ebenfalls Zufallseinflüssen ausgesetzt ist. Insgesamt mag das Prognoseintervall weit erscheinen (Schaubild 4). Hierin spiegelt sich natürlich neben dem Prognosehorizont die Zufallskomponente wider. Wie sich diese auswirkt, verschließt sich definitionsgemäß der Erkenntnis, da der Erwartungswert einer normalverteilten Störung bei Null liegt. Schreibt man die BIP-Zeitreihe mit der Entwicklung der gemeinsamen Komponente fort, würde sich für 2011 eine prognostizierte reale BIP-Veränderungsrate von ungefähr 2,3 % ergeben – ein Wert, der bei allen Unsicherheiten durchaus im Bereich der im Dezember veröffentlichten BIP-Prognose von 2,5 % liegt. Die Ergebnisse zeigen, dass das Filterverfahren und die Schätzung des Konjunkturverlaufs aus einem Zeitreihenmodell das Instrumentarium der Konjunkturberichterstattung des Statistischen Landesamts erweitern könnten.

1 Eine ausführlichere Darlegung dieses Beispiels findet sich bei Peter S. Maybeck; Stochastic Models, Estimation, and Control, Bd. 1, New York u.a. 1973, S. 9–15.

2 Die optimale Schätzung lautet mit der Varianz ; s. Maybeck (1973), S. 12 ff.

3 Eine eingängige Erläuterung und Anwendung des Kalman-Filters bieten Greg Welch und Gary Bishop; An Introduction to the Kalman Filter (2006). (download: http://www.cs.unc.edu/~welch/kalman/kalmanIntro.html)

4 Zur Lösung von Differenzengleichungen zweiter Ordnung, deren Verlauf sowie Konvergenz- bedingungen vgl. Alpha C. Chiang; Fundamental Methods of Mathematical Economics, Auckland u.a. 31984, S. 576 ff.

5 Jacques J. F. Commandeur und Siem Jan Koopman; An Introduction to State Space Time Series Analysis, Oxford 2007, S. 89.

6 Die gemeinsame Komponente wurde hier auf Grundlage z-standardisierter Indikatorzeitreihen berechnet, wie sie auch in Schaubild 4 zu sehen sind.

7 Die gemeinsame Komponente ist hier auf den Mittelwert und die Standardabweichung von ln(BIPt)-ln(BIPt-4) normiert.