:: 7/2018

Vor 100 Jahren: Was brauchen die Menschen zum Leben?

In den Mitteilungen des Königlich Statistischen Landesamtes wird im Jahrgang 1916, Nr. 5 vom 31. Mai 1916 der Lebensbedarf definiert, weil dieser sich in den Verordnungen über die Preise, die in diesem Jahr erlassen wurden, an verschiedenen Stellen findet. Einzelne Güter des täglichen Bedarfs werden vorgestellt mit Verweis darauf, dass in den Jahren zuvor der tägliche Bedarf durchaus anders bewertet wurde als nun mitten in Kriegszeiten mit deutlichen Zeichen des Mangels.

Erörtert wurde, dass es sich nicht nur um Nahrungsmittel handeln könne, und dass »täglich« nicht streng gemeint sei, weil eben nicht alle Lebensmittel täglich genossen würden. »… auch das Wort notwendig gibt zu gewissen Schwierigkeiten Anlaß, insofern als der Kreis sogar der täglichen Bedarfsartikel lokal … verschieden ist.« In den Jahren 1836 und 1840 lag der jährliche Kopfverbrauch an Reis bei 180 Gramm, während im Jahre 1913 dieser Verbrauch auf 3,56 kg im Jahr angewachsen war. Bei Ausbruch des Krieges hat der Reis also für weite Kreise zum notwendigen Lebensbedarf gehört.

Auch der Kaffee mit fast 3 Kilogramm jährlichem Kopfverbrauch. »… nur wird man hier sogleich hinzufügen müssen, daß neben der eigentlichen tropischen Kaffeebohne die Zichorien, Malz- und andere Kaffeearten zur Kaffeebereitung verwendet wurden und werden, so daß die verschiedenen Schichten der Bevölkerung verschiedene Kaffee trinken.« Erwähnt wird auch, dass Erdöl (Petroleum) etwa 16 Kilogramm pro Kopf verbraucht wurde und dass es in weiten Kreisen das Talglicht und die Stearin- oder Paraffinkerzen verdrängt hat. Petroleum und Speiseöle wurden deshalb dem täglichen Bedarf zugerechnet, ebenso Salz, Essig und Zucker. Eine wichtige Definition befasst sich mit dem Unterschied zwischen Nahrungs- und Genussmitteln. Sellerie und Spargel zählten zu den normalen Gemüsen, als Luxus wurde allerdings das Frühgemüse einschließlich der sogenannten »Malta«-Kartoffel gesehen. »Besonders wichtig wird die Streitfrage bei den Flüssigkeiten. Daß die Milchen (Kuhmilch, Ziegenmilch) zum täglichen und notwendigen Bedarf gehören, ist noch nirgends ernstlich bezweifelt worden. Dies ist aber wohl das einzige Getränke, bei welchem allgemeine Übereinstimmung herrscht.«

Siegeszug in Kinderhände: Die Banane

Salz wird als notwendiges Lebensmittel angesehen, aber nicht andere Gewürze wie Pfeffer, Gewürznelken und Zimt. 1913 wurden etwa 4,5 Kilogramm an Südfrüchten pro Kopf im Jahr verbraucht. »Wir haben hier nicht nur an die Orange, Zitrone, Ananas, Kokosnuß, an die Süßkartoffel, die Korinthen usw. zu denken, sondern auch an die Banane, welche gerade in den letzten Jahren vor Beginn des Krieges in großen Mengen ihren Siegeszug in die Läden und Kinderhände angetreten hatte.«

Der Most wurde für Württemberg für weite Kreise zum täglichen Bedarf gezählt, vor allem zu gewissen Jahreszeiten. Nicht dagegen der Wein und vor allem nicht die »Sekte«. Beim Bier war die Sache offenbar nicht so klar. »Man kann das Bier weder ein `Nahrungsmittel` nennen, noch ein notwendiges `Genußmittel`.« Allerdings wird darauf hingewiesen, dass nach Ansicht von Alkoholgegnern und Abstinenten keine Rede davon sei, dass das Bier zum notwendigen Lebensbedarf von Männern oder von Menschen insgesamt gehören könne. Ähnlich wird es beim Tabak gesehen, der nicht als notwendiger Lebensbedarf gesehen wird, aber durchaus als täglicher Bedarf für »leidenschaftliche und gewohnheitsmäßige Raucher, Schnupfer, Kauer usw.«

»Man hat die Empfindung, namentlich wenn man über die Lebensführung der Feldgrauen an der Front, in den Schützengräben, Unter-ständen berichten hört, daß hier ein gewisses Unwägbares in den Bedürfnissen vorliegt, welches auf den Seelen- und Gemütszustand sich bezieht.« Für diese Definition wurde von den Statistikern wohl extra ein Jurist gefragt. Dieser erklärte, dass zum täglichen Bedarf auch Dinge gehören sollten, die zur Erhaltung des seelischen Gleichgewichts notwendig wären. Weitere Gruppen von Waren, die dem täglichen Bedarf zugerechnet wurden, waren Seife, Kohle und andere Heizmittel, je nachdem auch Schuhe und Stiefel, Kleider, Bindfaden und Schnüre, Papier und Feder, Bleistifte.

Übergang zum Kriegsverbrauch

Ende 1916 befassten sich auch die Statistiker mit der Frage, was Lebensbedarf, Friedensverbrauch und Kriegsbedarf an Nahrungsmitteln sei und wie man diese Größen gerecht ermitteln könne. Versucht wurde, erst den Bedarf eines Menschen an Nahrungsmitteln zu ermitteln und daran anschließend einen reduzierten Bedarf, eine »Ration« pro Kopf festzulegen. Die Mitteilungen des Königlich Statistischen Landesamtes 1916 (Nr. 10, 31. Oktober 1916, S. 121 -130) stellen die Überlegungen ausführlich vor.

»Daß in den letzten 20 Jahren die Ernährung der Reichsbevölkerung periodisch durchschnittlich besser geworden sein muß, weiß man sicher. Leider weiß man aber nicht ganz genau, mit welchen Mengen und Arten von Waren sich das Volk vor dem Kriege ernährt hat.« So wird dargelegt, dass es schwieriger sei, den Friedensverbrauch vor dem Krieg für einen Staat wie Württemberg zu schätzen, als für das Reich insgesamt. Es seien beispielsweise Einfuhren und Steuerwaren richtig zuzuordnen und es gebe zwar eine württembergische Zollstellenstatistik, aber keine württembergische Einfuhrstatistik. Es wurde versucht, Gütermengen auf einen Pro-Kopf- Verbrauch herunter zu brechen. Dies ergab erste Zahlen von einem Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung. (siehe I Punkt)

Es war den Statistikern klar, dass eine solche Liste unvollständig war, weil nicht alle Nahrungsmittel enthalten waren und weil manche Waren in verschiedenen anderen Waren auch enthalten waren, z.B. Eier in Teigwaren. Aber eine solche Statistik war wichtig für die neu geschaffenen Kriegsernährungsstellen als Arbeitsgrundlage. »In die Tausende und Abertausende von Beschaffungs- und Versorgungs-kanäle fuhr der Krieg gewissermaßen über Nacht herab.« So war man, nachdem England und Russland zur See und zu Lande die Wirtschaftsgrenzen fast geschlossen hatten und auch Österreich-Ungarn im Krieg stand, »…in der Hauptsache auf Selbsterzeugungen, geeignete Verteilungen und sparsame Verwendung des Vorhandenen angewiesen, desgleichen auf Heranziehung aller irgendwie zu Nähr-zwecken verwendbaren Nebenerzeugnisse…«. Dies kam in den Anfangsmonaten des Krieges nicht so zur Geltung, weil man »…nicht mit einer so langen Dauer des Krieges rechnete…« und die Vorräte zunächst mehr oder minder noch ausreichten. Allerdings waren recht schnell Preissteigerungen zu verzeichnen. Und es wurde festgestellt, dass jeder Artikel im Kriege seine eigene Geschichte bekam.

So war man am abhängigsten vom Reichs-ausland beispielsweise beim Kaffee. »Es waren aber Vorräte vorhanden und Kaffee ist als Ware eine kleine Bohne, als Verbrauchsartikel ein mit Bohnenmehl gesottenes Wasser.« Kaffee wurde trotzdem als Nahrungsmittel gehandelt, weil er als eine »Form der Milchzuführung« galt und weil ihm »sehr viele Surrogate zur Seite stehen, welche alle unter seiner Flagge gesegelt sind«. Die erste grundlegende Rationierung gab es beim Mehl und beim Brot von der Erzeugung bis hin zu Brotkarten. Für Schwerarbeiter wurden höhere Rationen errechnet, und es wurden »Selbstversorger« und »Versorgungsberechtigte« definiert.

Die Regelung des Zuckerverkehrs funktionierte nicht eben gut, weil »…sich dieser Artikel zur ´Hamsterung´ vorzüglich eignet…«. Schwierig wurde es auch bei der Milchzuteilung. »Die Täglichkeit der Milchfrage, die leichte Verderblichkeit, die Rücksicht auf Kinder und Kranke gebot sofortiges lokales Einschreiten der Städte. ...Alles schrie nach Milch, nach Butter und nach Käse zugleich…« und es drohte ein »Verschwinden« nach Berlin und in die Städte im Nordwesten des Reiches.

Als es dann um die Fleischversorgung ging, wurde es noch schwieriger. »Alle Ausführungen, welche vor dem Kriege über die innere Fleischproduktion des deutschen Reiches gemacht worden waren, fielen in sich zusammen, als die Futtergersten, Maise, Ölrückstände, Kleien usw. vom Osten und vom Übersee ausblieben.« Und dann wurden auch noch die Kartoffeln knapp. »Die starke Verknappung von Fleisch, welche gleichzeitig auch eine gewisse Fettvorenthaltung mit sich bringt, drängt die Bevölkerung stärker als im Vorjahre zur Kartoffeleindeckung, während die Kartoffelernte zweifellos fühlbar geringer war als im Vorjahre.« Insgesamt bestanden zunächst für etwa 17 Artikel verschiedene Formen der Beobachtung bis hin zur Rationierung und es wurde festgestellt, dass die Rübe, insbesondere die Bodenkohlrabe »…jetzt erst gewissermaßen als städtisches ´Menschenfutter´ neu wieder entdeckt wird…«.

1000 Verordnungen und Verfügungen

In der Verteilung der Rationen auf die Soldaten und die zivile Bevölkerung sah man »daher von allem Anfang an bis auf den heutigen Tag die Grundsätze von Zwang und Freiheit, von Autorität und Selbstbestimmung sich scharf gegenübertreten…«. Der Statistiker konstatierte, dass sich keine Allmittel für die riesenhafte und noch nie da gewesen Aufgabe ergaben, wobei es bei dieser Aufgabe jeden Tag zu neuen Sonderaufgaben in höchster Dringlichkeit kam. »Gleichzeitig waren sowohl die staatlichen als die kommunalen Behörden in bitterem Personalmangel, was häufig gar nicht genügend beachtet wird. Auch die Klage der Presse und das Gelächter der Witzblätter über die 100, ja 1000 Verordnungen und Verfügungen gehören zum Teil wenigstens der sogenannten Kriegspsychose an.«

Es wurde festgestellt, dass man im ganzen Reich über die erste Zeit des Krieges mehr oder minder leidlich hinübergekommen sei, nicht überall, aber erträglich. Das Wort, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebe, habe einen neuen Kriegssinn erhalten, weil zum Leben eines einzelnen nicht nur eine Ration gehöre, sondern eine Summe von verschieden einstellbaren Einzelrationen. Es sei der Endzweck all dieser Bemühungen, den täglich ausreichenden Lebensbedarf sicherzustellen. So habe man in Stuttgart darüber gespöttelt, dass zur freiwilligen Abgabe eines Teils der Winterkellerkartoffeln aufgefordert worden sei. »Man mache sich aber klar, ...So würde das Dichterwort ´und bist du nicht willig, so brauche ich Gewalt´ im wohlverstandenen höheren Gesamtinteresse nicht etwa bloß vor der Türe stehen, sondern sogar urplötzlich hereintreten« müsse. So wird im Oktober 1916 festgestellt, dass man noch nicht am Ende weder der Rationierungen, noch der Massenspeisungen, weder der Verordnungen noch der Verfügungen angelangt sei.

Was ist eine Rationierung?

In den »Mitteilungen des Königlich Statistischen Landesamtes« 1917 Nr. 3 wird der Begriff der Rationierung noch einmal klargestellt: »Sie sind mehr oder minder Aufteilungen einer als vorhanden angenommenen Menge auf einzelne Gruppen von Menschen teils nach der Kopfzahl, teils nach dem Beruf, teils nach dem Lebensalter, teils nach ärztlichen Zeugnissen, wobei zwei Dinge zu beachten sind. Einmal bedeuten die Mengeteile nicht immer einen Anspruch auf Lieferung… und es ist denjenigen, welche über die Teilrationen hinaus sich noch Nahrungsmittel nicht rationierter Art beschaffen wollen oder können, möglich, es zu tun.« Diese Möglichkeit sei allerdings beschränkt, aber es gehe hervor, »…daß wir eine Rationierung der Lebensmittel nicht haben, sondern lediglich eine von einander unabhängige, verschiedenartige Rationierung einzelner, allerdings der wichtigeren Lebensmittel.«

Was ist eine richtige Wurst?

In den »Mitteilungen des Königlich Statistischen Landesamtes« Nr. 11 vom 20. November 1917 wird über den Wurstersatz informiert. »Neuerdings mehren sich die Klagen aus Verbraucherkreisen über schlechte Beschaffenheit und im Hinblick auf sie viel zu hohe Preise von Wurst. Es kommen anscheinend Würste in den Verkehr, die diesen Namen nicht mehr verdienen und höchstens als Wurstersatz angesehen werden können.« Verbraucher und Gewerbetreibende könnten sich an die Ersatzmittelabteilung der Landespreisstelle wenden, die mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln einschreiten werde.