:: 4/2004

Das Ende der Suburbanisierung?

Langfristige Bevölkerungsentwicklung in den Mittelzentren und Umlandgemeinden Baden-Württembergs

Die Bevölkerungsentwicklung in Baden-Württemberg ist seit jeher von starken regionalen Unterschieden geprägt. Waren bis in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts die Städte die »Gewinner« dieser Entwicklung, so hat sich dies seit den 60er-Jahren grundlegend geändert: Die Zunahme der Bevölkerungszahl in den Umlandgemeinden war bis Ende des vergangenen Jahrhunderts zum Teil erheblich stärker als in den Zentren. Seither zeichnet sich aber eine »Renaissance der Städte« ab: Der Anstieg der Bevölkerungszahl entspricht nach Jahrzehnten erstmals wieder dem Landesdurchschnitt.

Inwieweit sich diese Entwicklung zu einem neuen Trend verfestigen wird, ist derzeit noch offen. Allerdings sprechen vor allem die zunehmende Verkehrsbelastung und die damit verbundenen Steigerungen der Mobilitätskosten sowie der »Aufholprozess« bei den Baulandpreisen im Umland dafür, dass sich auch künftig die Städte relativ günstig entwickeln könnten. Schließlich kommt hinzu, dass in Zukunft die größeren Städte überdurchschnittlich von Zuwanderungen profitieren dürften: Die Zahl der 18- bis unter 30-Jährigen wird als einzige »wanderungsaktive« Altersgruppe ansteigen, für die die Ausbildungs- und Arbeitsplatzzentren besonders attraktiv sind.

Dynamische Städte bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts

Starke regionale Unterschiede haben die Bevölkerungsentwicklung in Baden-Württemberg seit jeher gekennzeichnet. Lange Jahre wurde sie durch sehr hohe Zuwächse in den Städten und nur sehr geringe in den Umlandgemeinden geprägt (Schaubild 1). So nahm von 1871 bis 1900 die Bevölkerungszahl in den heutigen Mittelzentren um 53 %, in den Umlandgemeinden lediglich um 3 % zu.1 In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat sich dieser Unterschied bereits deutlich verringert (+ 71 % gegenüber + 43 %), wobei dies auch auf die starken Kriegszerstörungen vor allem in den Großstädten zurückzuführen ist.

In den 50er-Jahren wurde die Bevölkerungsentwicklung vom Zustrom der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen bestimmt. Neben den politischen Vorgaben war die Verteilung dieser Bevölkerungsgruppen in erster Linie von der Möglichkeit der Unterbringung diktiert: Vor allem die kaum zerstörten ländlichen Gebiete der amerikanisch besetzen Zone bildeten die Hauptauffanggebiete für die Heimatvertriebenen2 – die französische Besatzungsmacht unterband weit gehend die Aufnahme von Heimatvertriebenen. Mit dem beginnenden Wiederaufbau und der allmählichen Normalisierung des Lebens wurden Arbeitskräfte auch wegen der immensen Zerstörungen vor allem in den großen Städten benötigt. Die Förderung des Wohnungsbaus wurde aus diesem Grund an den Arbeitsstätten orientiert und kam somit vorrangig den Städten zugute. Vor allem deshalb war die Bevölkerungsentwicklung in dieser Dekade in den Zentren erneut überdurchschnittlich (+ 26 gegenüber + 14 % in den Umlandgemeinden).

Zum Ende der 50er-Jahre erzeugte die hohe Bevölkerungs- und Wohndichte und die damit verbundene schwierige Wohnungsbeschaffung in Verbindung mit immer günstiger werdenden Verkehrsverbindungen und der zunehmenden Motorisierung eine von den Zentren weg gerichtete Wanderungsbewegung in das nähere Umland. Dieser als Suburbanisierung bezeichnete Prozess (vgl. i-Punkt) setzte sich auch in den folgenden Jahrzehnten fort: Knapper Baugrund, hohe Erschließungskosten und damit relativ teueres Wohnen waren Gründe dafür, dass zahlreiche – überwiegend deutsche – Haushalte die Zentren verließen und in das nähere und weitere Umland zogen. Hinzu kam, dass die Bevölkerungszahl in den Mittel- und Oberzentren auch deshalb schwächer anstieg, weil hier die Geburten-Gestorbenen-Relationen ungünstiger als im Umland war und auch heute noch ist.

»Fall der Mauer« und Zuwanderung aus Osteuropa überlagern die Stadt-Umland-Wanderung

Der »Fall der Mauer« und die Umbrüche in Osteuropa führten Ende der 80er-Jahre zu einem starken Anstieg der Bevölkerungszahl. Die Dynamik der Entwicklung wird deutlich, wenn die Zunahmen in den Jahren 1989 bis 1992 mit denjenigen zwischen 1970 und 1989 verglichen werden: Diese lagen in diesen drei Jahren – umgerechnet auf ein Jahr – fast fünfmal so hoch wie in den beiden Jahrzehnten zuvor! Die Veränderungen in Osteuropa bewirkten aber nicht nur ein starkes Bevölkerungswachstum, sondern auch eine Überlagerung der Stadt-Umland-Wanderungen: Dadurch erreichten die Wanderungsgewinne der Mittelzentren annähernd das Niveau der Umlandgemeinden. Entscheidend hierfür war, dass die Zuwanderung auch durch administrative Eingriffe bestimmt wurde. Die neu ankommenden Aussiedler, aber auch die Asylbewerber wurden nach einem Quotenverfahren über das Land verteilt.

Von Ende 1992 bis Ende 2000 war die Regionalentwicklung wieder durch das jahrzehntelang gültige Muster bestimmt; dabei hatte sich der Suburbanisierungsprozess gegenüber den 80er-Jahren sogar noch beschleunigt: Der Anstieg der Bevölkerungszahl war in den Umlandgemeinden mit einem Plus von 5,8 % mehr als dreimal so hoch wie in den Zentren (1,7 %).

Renaissance der Städte?

In den letzten Jahren zeichnet sich aber eine Trendwende ab, die nicht – wie zu Beginn der 90er-Jahre – vor allem durch administrative Eingriffe verursacht ist: Der Zuwachs der Bevölkerungszahl entspricht nach Jahrzehnten erstmals wieder knapp dem Landesdurchschnitt (+ 1,5 % gegenüber + 1,6 % im Zeitraum Ende 2000 bis September 2003). Dabei waren die Wanderungsgewinne (je 1 000 Einwohner) in den Zentren in den Jahren 2001 und 2002 jeweils sogar höher als in den Umlandgemeinden, während die Geburten-Gestorbenen-Relation weiterhin ungünstiger ist.3

Mitentscheidend für diesen günstigen Trend in den Mittel- und Oberzentren dürfte vor allem die relativ günstige Arbeitsplatzentwicklung sein. Wie bei der Bevölkerung, so übertraf die Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den Zentren – wenn auch nur geringfügig – zuletzt diejenige im Land insgesamt; dagegen war sie in den vorangegangenen Jahrzehnten jeweils unterdurchschnittlich.4 Auch die Veränderung der Baulandpreise war in den letzten Jahren in den zentralen Orten etwas günstiger als im Umland und dürfte ebenfalls dazu beigetragen haben, dass per saldo Bevölkerung hinzugewonnen wurde. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass das Wanderungsgeschehen sich aus einer so genannten Fernwanderung und der eigentlichen Stadt-Umland-Wanderung zusammensetzt. Bei den größeren Städten ist es tendenziell immer noch so, dass sie als Arbeitsplatzzentren vor allem von Fernwanderungen profitieren, während die Wanderungsbilanz mit dem Umland in der Regel noch negativ ist. Allerdings ist das Niveau der Baulandpreise in den Mittel- und vor allem in den Oberzentren zum Teil immer noch deutlich höher als in den Umlandgemeinden.

Räumliches Entwicklungsmuster im Zeitablauf – am Beispiel der Region Stuttgart

Kennzeichen der Suburbanisierung ist die Abnahme des Bevölkerungsanteils in den Kernstädten zugunsten der Umlandgemeinden. Wesentliches Merkmal dieses Prozesses ist auch, dass sich die Entwicklungsdynamik im Zeitablauf immer weiter von den Zentren weg in das Umland verlagert hat – und dieser Trend scheint seit dem Jahr 2000 gestoppt. Exemplarisch soll dies anhand der polyzentralen Region Stuttgart gezeigt werden.

Wenn auch nicht durchgehend, so lässt sich zumindest tendenziell anhand von Schaubild 2 der bereits für das Land insgesamt beschriebene räumliche Entwicklungsprozess, das heißt die Verlagerung der Bevölkerungsdynamik vom Zentrum in das Umland, bis Ende der 90er-Jahre aufzeigen: Hohe Zuwächse zum Ende des 19. Jahrhunderts und bis Ende der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts im »inneren Ring« (Stadt Stuttgart sowie die Gemeinden im Umkreis von maximal 10 km) werden seit dem Ende der 50er-Jahre von relativ stärkeren Zunahmen in den entfernter liegenden »Ringen« abgelöst (vgl. i-Punkt). Mit wachsender Zeit verlagerte sich diese dynamische Entwicklung weiter weg vom Zentrum: Während in den 60er-Jahren die Gemeinden in den »Ringen« bis 20 km Entfernung vom Zentrum das stärkste Wachstum aufwiesen, waren dies danach diejenigen in 30 und mehr km Entfernung. Seit dem Jahr 2000 ist diese Entwicklung (vorübergehend) unterbrochen. Die Dynamik hat sich nicht mehr weiter weg vom Zentrum verlagert; vielmehr weist der »innere Ring« um Stuttgart die höchsten Zuwächse auf. Die Bevölkerungszahl der Landeshauptstadt selbst hat sich allerdings auch zuletzt nur unterdurchschnittlich entwickelt.

Suburbanisierungsprozess nur vorläufig gestoppt?

Die Bevölkerungsentwicklung war lange Jahre durch einen Suburbanisierungsprozess geprägt, der seit Ende der 90er-Jahre – zumindest vorläufig – zum Stillstand gekommen ist. Wie diese Entwicklung in Zukunft weitergehen wird, ist derzeit noch offen. Dafür, dass sich diese zu einem neuen Trend verfestigen wird, spricht zumindest die in der Vergangenheit enorm gestiegene Verkehrsdichte, die das Einpendeln in die Arbeitsplatzzentren deutlich erschwert hat. Sollte die geplante Kürzung der Entfernungspauschale Gesetz werden, würde diese Entwicklung wohl noch beschleunigt.5 Aber auch der weitere »Aufholprozess« bei den Baulandpreisen im Umland könnte dazu führen, dass die Städte weiter an Attraktivität gewinnen werden. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass Bauland in ausreichendem Umfang bereitgestellt wird. Hinzu kommt, dass in Zukunft die größeren Städte überdurchschnittlich von Zuwanderungen profitieren dürften: Von den »wanderungsaktiven« Altersgruppen nimmt nämlich allein die Zahl der 18- bis unter 30-Jährigen zu.6 Das ist aber diejenige Altersgruppe, für die die Ausbildungs- und Arbeitsplatzzentren besonders attraktiv sind.

1 Zur Abgrenzung der Mittel- bzw. Oberzentren und der Umlandgemeinden wird auf den Landesentwicklungsplan 2002 abgestellt. Danach ist Baden-Württemberg in 101 Mittelbereiche (sowie zwei Verwaltungsräume) um die 14 Oberzentren und 87 Mittelzentren gegliedert. Vgl. Landesentwicklungsplan 2002, hrsg. vom Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg, S. 20 ff.

2 Vgl. Schindler, Jörg-Wolfram: Heimatvertriebene und Flüchtlinge, in: 40 Jahre Baden-Württemberg, hrsg. von Schaab, Meinrad, 1992, S. 154 ff.

3 Ergebnisse für das Jahr 2003 lagen noch nicht vor.

4 Zu den Gründen für die günstige Beschäftigungsentwicklung in den Großstädten vgl. Gornig, Martin /Geppert, Kurt: Die Renaissance der großen Städte, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Heft 1/2004, S. 49 – 52.

5 Jedoch muss berücksichtigt werden, dass das Wanderungsgeschehen sich aus einer so genannten Fernwanderung und der eigentlichen Stadt-Umland-Wanderung zusammensetzt. Bei den größeren Städten ist es tendenziell immer noch so, dass sie als Arbeitsplatzzentren vor allem von Fernwanderungen profitieren, während die Wanderungsbilanz mit dem Umland in der Regel noch negativ ist.

6 Zum Zusammenhang zwischen Mobilitätskosten und Immobilienpreisen vgl. Hesse, Markus: Mobilität und Verkehr im suburbanen Kontext, in: Suburbanisierung in Deutschland – aktuelle Tendenzen, hrsg. von Brake, Klaus u.a., 2001, S. 97 ff.

7 Vgl. Stein, Ulrich: Regionalisierte Bevölkerungs-vorausrechnung für Baden-Württemberg, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Heft 1/2004, S. 13 ff.