:: 5/2004

Kinderreiche Familien und ihre Haushaltsformen

Einst reich an Kindern, heute arm an Kindern? Diese Vorstellung hält einem genaueren Blick in die Vergangenheit nicht stand. Schon in früheren Jahrhunderten bemühten sich Eltern, die Zahl ihrer Kinder erfolgreich zu beschränken. In Baden-Württemberg 2003 sind kinderreiche Familien eine Minderheit. Eheliche und nicht eheliche Lebensgemeinschaften sowie allein erziehende Eltern können reich an Kindern sein. Ausländische Familien sind häufiger kinderreich. Und in wenigen Haushalten großer Familien leben außer ihnen noch Großeltern oder andere Personen.

Ein Blick in den Dschungel der »Historischen Demographie«

Wann ist eine Familie reich an Kindern? Heute gilt eine Familie mit drei Kindern oft schon als kinderreich. Um 1900 galten Familien mit drei bis fünf Kindern durchaus nicht als kinderreich, sondern als »normal« im Sinne von durchschnittlich. Kurzum, die Vorstellungen darüber, ab welcher Größe eine Familie kinderreich ist, hängen von der jeweiligen Zeit ab. Doch auch schon vor 100 und 200 Jahren gab es große Unterschiede, was durch die Durchschnittswerte oftmals verwischt wird. Obwohl es hier nicht möglich ist, in den »Dschungel der Historischen Demographie«1 mit seiner Komplexität der Situationen, Fakten und Interpretationen vorzudringen, so soll zumindest Folgendes in Erinnerung gerufen werden (siehe i-Punkt): Wohl schon in der frühen Neuzeit im 17. Jahrhundert schränkten Eltern in der Ehe die Zahl ihrer Kinder freiwillig ein. Die Eltern stammten in der Regel nicht aus ökonomisch armen Verhältnissen. Ganz das Gegenteil: Als Pioniere einer bewussten Geburtenkontrolle innerhalb der Ehe in Westeuropa erwiesen sich vor allem der Hochadel und das betuchte Bürgertum. Im 19. Jahrhundert setzte sich dann die innereheliche Geburtenbeschränkung gewissermaßen als Regelverhalten vollends durch.2 Mit anderen Worten: Bereits unsere Großeltern hatten im Schnitt erheblich weniger Kinder als deren Eltern. Dennoch gab es große regionale, konfessionelle und schichtspezifische Unterschiede.3 Familien in der Stadt hatten eher weniger Kinder als Familien auf dem Land, Protestanten eher weniger als Katholiken, an Bildung und Wohlstand reiche Eltern eher weniger als Eltern in wirtschaftlichen Notlagen. Unbestritten ist die Verbindung zwischen Wohlstand, Bildungsniveau und Geburtenkontrolle bei der städtischen Bevölkerung. So berichtet Gestrich, dass in Deutschland bei höheren Beamten, Lehrern und freiberuflich Tätigen auf Ehen, die zwischen 1875 und 1890 geschlossen wurden, noch durchschnittlich drei Kinder kamen, aber auf Ehen, die zwischen 1900 und 1914 geschlossen wurden, nur noch 2,1 Kinder. Ehen der städtischen Arbeiterschaft dagegen hatten noch 1939 durchschnittlich 4,4 Kinder. Landarbeiter übertrafen in der gleichen Zeit mit 6,05 Kindern pro Ehe deutlich die selbstständigen Bauern mit 5,4 Kindern. Wesentlich früher und weitaus fortgeschrittener schränkten in Frankreich selbst auf dem Lande die Eltern die Zahl ihrer Kinder ein. So hatten 1911 Bäuerinnen der Gironde oder der Gegend um Bordeaux nur noch 1,93 bzw. 1,86 Kinder im Durchschnitt, und in Paris lagen die Werte mit 1,72 Kindern pro Ehe noch niedriger.4

Immer weniger kinderreiche Familien?

In allen europäischen Staaten, aber auch beispielsweise in arabischen Ländern wie Marokko und Ägypten, ging in den letzten Jahrzehnten der Anteil kinderreicher Familien an allen Familien noch einmal deutlich zurück.5 Baden-Württemberg bildet hier keine Ausnahme: Drei und mehr Kinder lebten 1972 in jeder 4. Familie, drei Jahrzehnte später, 2003, in jeder 7. Familie. Noch stärker ist der Rückgang bei den größeren Familien: Mindestens vier Kinder hatte 1972 jede 11. Familie, 2003 jede 32. Familie. Darunter sind heute 12 000 Familien mit fünf oder mehr Kindern. Dies sind knapp 1 % der 1,7 Mill. Familien mit Kindern (Tabelle 1). Tatsächlich jedoch dürfte es etwas mehr kinderreiche Familien geben, da bei den vorliegenden Zahlen nur die ledigen Kinder berücksichtigt werden, die bei ihren Eltern leben. Unberücksichtigt bleiben damit Kinder, die noch nicht geboren worden sind, als auch Kinder, die bereits das Elternhaus verlassen haben, sowie alle nicht ledigen Kinder, die noch bei ihren Eltern wohnen. Gründe für den Rückgang der kinderreichen Familien liegen in einer veränderten Lage der Frauen und in einer unveränderten Lage der Männer. Heute verfügen die Frauen grundsätzlich über die gleichen Optionen wie die Männer: Höhere Ausbildung, dauerhafte Berufstätigkeit außer Haus, ökonomische Selbstständigkeit sowie soziale Absicherung im Alter durch die gesetzliche Rentenversicherung. Gleichzeitig können Frauen durch medizinischen Fortschritt und aufgrund der Möglichkeiten der Empfängnisverhütung allzu zahlreiche Schwangerschaften vermeiden. Die Frage, ob und wann ein Paar ein Kind bekommt, wird nun nicht mehr allein aus der Berufsperspektive des Mannes entschieden, sondern ebenso aus der Berufsperspektive der Frau. Nicht zuletzt infolge städtischer Lebensweisen, wachsendem Wohlstand und Massenkonsum steigen die Opportunitätskosten kinderreicher Familien besonders für Frauen, aber auch für Männer. Die Begrenzung der Kinderzahl hat jedoch nichts mit einer nachlassenden Wertschätzung der Familie zu tun. Allerdings hat das »Klischee von der glücklichen kinderreichen Familie« wohl endgültig ausgedient. Ein glückliches Familienleben stellen sich Männer und Frauen am ehesten nur noch mit zwei Kindern vor.6 Dennoch lässt sich zumindest seit den 90er-Jahren auch Gegenläufiges beobachten. So scheint es, dass diejenigen, die sich für Kinder entscheiden, heute im Schnitt zwar weniger Kinder haben als noch vor 20 oder 30 Jahren, aber eher mehr Kinder als vor 10 Jahren. So gibt es heute etwas häufiger Familien mit drei oder vier Kindern als noch zu Beginn der 90er-Jahre.7 Offen bleibt indes, ob es sich um eine nachhaltige Trendumkehr handelt oder nur um eine Episode, die beispielsweise zu Beginn der 90er-Jahre durch die hohe Zuwanderung besonders von Aussiedlern mit eher noch traditionalen Familienleitbildern ausgelöst worden ist.

Kinderreichtum in allen Familienformen

Die Eltern in Familien mit drei und mehr Kindern leben ganz überwiegend (90 %) als verheiratetes Paar zusammen. Den Ergebnissen des Mikrozensus ist jedoch nicht zu entnehmen, ob die Eltern bereits in zweiter oder dritter Ehe verheiratet sind oder ob der Ehepartner zugleich der leibliche Vater oder die leibliche Mutter aller in der Familie lebenden Kinder ist. In rund 2 % der Familien mit drei oder mehr Kindern wohnen die Eltern nicht ehelich zusammen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich zum Teil um so genannte Patchwork-Familien oder Fortsetzungsfamilien handelt, also um Familien, bei denen Personen aus mehreren verschiedenen Familien zusammenleben, weil die Kinder vom Vater und/oder der Mutter aus einer vorangegangenen Familie mitgebracht wurden. In etwa 8 % der kinderreichen Familien sind die Eltern allein erziehend. Es sind zumeist allein erziehende Mütter.

Kinderreichtum besonders in ausländischen Familien

In mindestens 15 % der Familien in Baden-Württemberg sind die Eltern nicht deutscher Staatsangehörigkeit. Mit zunehmender Kinderzahl steigt der Anteil von Familien mit ausländischen Eltern: von 19 % bei Familien mit drei Kindern bis auf 38 % bei Familien mit fünf oder mehr Kindern (Schaubild). Oder anders formuliert: rund 20 % der ausländischen und 14 % der deutschen Eltern haben drei und mehr Kinder (Tabelle 1). Bei der Interpretation der Ergebnisse ist mit Blick auf mögliche Zusammenhänge zwischen kulturellen Traditionen von Migranten und Familiengröße allerdings das zunehmende Auseinanderfallen von Staatsangehörigkeit und Herkunft zu berücksichtigen. So können eingebürgerte Personen oder deutschstämmige Aussiedler in der Analyse nicht mehr nach ihrer Herkunft unterschieden werden; sie werden statistisch als Deutsche erfasst. Deshalb dürften die Anteile von Familien mit nicht deutscher Herkunft besonders bei den großen Familien tatsächlich höher liegen als hier dargestellt.

Zusammenleben mit Großeltern selten

Der Blick in die Vergangenheit kann Mythen zerstören. Dieses Mal den »Mythos von der vorindustriellen Großfamilie«.8 Im vorindustriellen Westeuropa lebte der Großteil der Familien in kernfamilialen Haushalten, gemeint sind Haushalte nur mit Eltern und Kindern. Erst im 20. Jahrhundert bestand die Möglichkeit auch aufgrund höherer Lebenserwartungen, dass Großeltern und Enkelkinder für längere Zeit zusammenlebten.9 Heute bilden in Baden-Württemberg die meisten Eltern mit ihren Kindern alleine den Haushalt. Dies gilt ebenso für kinderreiche Familien. Lediglich 3 % der Familien mit drei und mehr Kindern wohnen mit verwandten oder familienfremden Personen zusammen, davon etwa die Hälfte mit den Großeltern, die andere Hälfte ausschließlich mit anderen verwandten, verschwägerten oder familienfremden Personen. Ausländische Familien mit drei und mehr Kindern führen häufiger (5 %) einen gemeinsamen Haushalt mit weiteren Personen als deutsche Familien (3 %). Als Haushalt zählt hierbei jede zusammenwohnende und eine wirtschaftliche Einheit bildende Personengemeinschaft. Die Formen des Zusammenlebens und der gegenseitigen Unterstützung lassen sich über die Bildung eines gemeinsamen Haushaltes jedoch nicht wirklich erfassen. Großeltern, die eine eigene Wohnung im gleichen Haus oder in der Nachbarschaft bewohnen, führen einen eigenen Haushalt, obgleich sie eng mit ihren Kindern und Enkelkindern zusammenleben.

Kinder in kinderreichen Familien

Aus Sicht der Kinder sind kinderreiche Familien keine ganz so kleine Minderheit. Rund 28 % der Kinder wachsen mit mindestens zwei weiteren Geschwistern heran. Im Einzelnen heißt das: 20 % aller Kinder leben in einer Familie mit drei Kindern, 6 % in einer Familie mit vier Kindern und gut 2 % oder jedes fünfundvierzigste Kind lebt in einer Familie mit fünf und mehr Kindern (Tabelle 2). Ausländische Kinder wachsen häufiger mit zwei, drei oder mehr Geschwistern auf als deutsche Kinder: 37 % gegenüber 26 %. Besonders deutlich wird dieser Unterschied in sehr großen Familien, also Familien mit fünf und mehr Kindern. Hier ist die Wahrscheinlichkeit, auf ein Kind mit mindestens vier weiteren Geschwistern zu stoßen, bei ausländischen Familien dreimal so groß wie bei deutschen Familien.

1 Perrot, M. (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, 4. Band: Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt/M. 1992, S. 155 (Zitierweise: Geschichte privaten Lebens).

2 Vgl. Gestrich, A./ Krause, J.-U./ Mitterauer, M.: Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 516-517 (Zitierweise: Geschichte der Familie).

3 Vgl. Perrot, M. (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, 4. Band: Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt/M. 1992, S. 154-155.

4 Vgl. Gestrich, A./ Krause, J.-U./ Mitterauer, M.: Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 519.

5 Siehe Burguière, A. et al. (Hg.): Geschichte der Familie, Band 3: Neuzeit, Frankfurt/M. 1997, S. 463.

6 Burguière, A.: Geschichte der Familie, Band 4: 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, S. 242 f.

7 Siehe Eggen, B.: Ehe und Familie – ein Auslaufmodell?, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Heft 11/2003, S. 22-25 – sowie Schwarz, K.: Rückblick auf eine demographische Revolution, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Heft 3/1999, S. 242.

8 Mitterauer, M./ Sieder, R.: Vom Patriarchat zur Partnerschaft, München 1977, S. 38-65. Ein hartnäckiger Mythos, obwohl beispielsweise schon früh Mackenroth, G: Bevölkerungslehre, Berlin 1953, S. 360 f., 431 f. und später König, R.: Familie Alter, Frankfurt 1976, S 55 f. und 68, Rosenbaum, H.: Formen der Familie, Frankfurt 1982, S. 488-491 auf eine Majorität der Zwei-Generationen-Kernfamilie gegenüber wenigen Großfamilien in allen Jahrhunderten hinwiesen.

9 Vgl. Hareven, T.: Familiengeschichte, Lebenslauf und sozialer Wandel, Frankfurt/M. 1999, S. 36.