:: 6/2004

Der »Schweinemord« oder die »Professorenschlachtung«

Einen der folgenschwersten Fehler, der jemals aufgrund falscher amtlicher statistischer Daten in Deutschland begangen wurde, fand im Jahre 1914 statt. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatte die militärische Führung des Deutschen Kaiserreiches zwar die Mobilmachung detailliert geplant, aber keine besonderen Vorkehrungen zur Beschaffung und Verteilung von kriegsnotwendigen Gütern getroffen, da man an einen schnellen Sieg glaubte. Als dieser nicht eintrat und die Seeblockade der englischen Marine die Einfuhr von Nahrungsmitteln für die Zivilbevölkerung verhinderte, wurden durch das Kaiserlich Statistische Reichsamt Bestandsaufnahmen an Nahrungs- und Futtermitteln vorgenommen sowie Volks, Vieh- und Ernteflächenzählungen durchgeführt. Bei diesen Vorratserhebungen kam es vor, dass die Angaben bewusst oder unbewusst – zum Teil aus Angst vor Beschlagnahmungen, die später tatsächlich durchgeführt wurden – niedriger waren als der tatsächliche Vorrat. So gaben die meisten Bauern bei der Futterkartoffelerhebung Ende 1914 einen viel zu geringen Vorrat an. Die kaiserlichen Statistiker kamen dadurch zu dem gravierenden Fehlschluss, dass zu wenig Futterkartoffel für die Schweine vorhanden seien, und trafen im Frühjahr 1915 eine fatale Fehlentscheidung: Man schlachtete massenhaft Schweine (siehe die Schweinebestandszahlen in der Tabelle). Bedingt durch das Überangebot an Schweinefleisch sank der Schweinefleischpreis kurzfristig und stieg danach in nie gekannte Höhen. Die langfristigen Folgen dieser Maßnahme, die intern ironisch als »Schweinemord« oder von einigen in Kennzeichnung der geistigen Urheber auch als »Professorenschlachtung« genannt wurde, verschärfte die Versorgungssituation der deutschen Zivilbevölkerung im Kriegswinter 1915/16 erheblich.1 Langfristig war der »Schweinemord« auch mitentscheidend für die desolate Stimmungslage der so genannten »Heimatfront«, die eine der entscheidenden Faktoren für die Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg wurde.

1 Siehe Lindner, Rudolf/Wohak, Bertram/Zeltwanger, Holger: Planen, Entscheiden, Herrschen. Hamburg 1984. Seiten 65 ff.