:: 4/2005

Familienpolitik, Geburtenhäufigkeit und Einkommensarmut in der EU

Kinderreiche Familien und allein Erziehende gehören in Deutschland zu den am stärksten von relativer Einkommensarmut betroffenen Gruppen. Die meisten Familien müssen in der Regel mit dem Einkommen eines Hauptverdieners auskommen und haben damit pro Kopf deutlich weniger zur Verfügung als Kinderlose. Familien stehen gegenüber dem, was sich allein Stehende oder kinderlose Paare mit zwei Einkommen leisten können, eindeutig im Abseits. Diese Situation kann auch die Verwirklichung eines Kinderwunsches erschweren. Welche Rolle spielt dabei die Familienförderung? Wer die EU-15-Staaten vergleicht, kann zu folgendem Ergebnis kommen: Familienförderung beeinflusst, wenn überhaupt, eher widersprüchlich die Geburtenrate, aber wohl eindeutig die Einkommenssituation besonders großer Familien und allein erziehender Mütter und Väter.

Durch Familienförderung mehr Geburten?

Ein Grund für die oft prekäre ökonomische Situation kinderreicher Familien in Deutschland mögen die im Vergleich zu anderen Staaten niedrigen staatlichen Barleistungen sein. In Deutschland bekommt eine Familie mit drei Kindern weniger als ein Viertel zusätzliches Einkommen als Transferleistung. In Ländern wie Frankreich oder Belgien sind es dagegen über 60 % Einkommenserhöhung. So wird zum Beispiel in Frankreich durch ein so genanntes Familiensplitting ausdrücklich die Geburt des dritten Kindes gefördert. Als Faustregel gilt dort, dass eine Familie mit drei Kindern, die über ein mittleres Einkommen verfügt, praktisch keine Steuern mehr zahlt. Kinderreiche Familien müssen in Deutschland mit eher niedrigen Transferleistungen auskommen.1

Ein genauerer Blick auf die EU-15-Staaten zeigt, dass die Zusammenhänge zwischen Familienförderung hier und Geburtenhäufigkeit und Armut dort doch komplizierter sind. .2 Drei weitere Merkmale rücken in den Vordergrund: die Unterscheidung der familienpolitischen Leistungen nach Bar- und Sachleistungen, der Anteil der Bar- und Sachleistungen am Bruttoinlandsprodukt und der Anteil an Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung, der den Umfang der staatlichen Ausgaben mitbestimmen dürfte (Tabelle und i-Punkt).3

Kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Familienförderung und Geburtenrate, aber…

Ein Zusammenhang zwischen Familienförderung und Geburtenrate lässt sich nur schwer herstellen. Ob die Familienförderung eher expansiv oder restriktiv ist, ob sie eher Barleistungen oder Sachleistungen bevorzugt, die Geburtenhäufigkeit steht manchmal quer zur Familienförderung. Im Vergleich zu anderen EU-Staaten überwiegen in Deutschland die Barleistungen für Familien: 71 % der Leistungen für Familien bestehen aus Kindergeld, Erziehungsgeld sowie anderen Transfers und 29 % aus Sachleistungen wie zum Beispiel den öffentlichen Aufwendungen für Kinderbetreuungseinrichtungen. Ganz anders verhält es sich in Dänemark und Schweden. In beiden Staaten fallen 70 % der Aufwendungen für Familien auf Sachleistungen.

Durch eine expansive Familienförderung mit relativ hoher Geburtenrate zeichnen sich besonders Dänemark, Finnland, Frankreich und Luxemburg aus. Bei beiden skandinavischen Staaten überwiegen die Sachleistungen, bei Frankreich und Luxemburg die Barzahlungen. In allen diesen Staaten liegt der Anteil junger Menschen über dem der EU. Am anderen Ende stehen die südeuropäischen Staaten Italien, Spanien und Griechenland. Sie sind familienpolitisch eher untätig und weisen die niedrigsten Geburtenraten in Europa auf. In Spaniens kaum sichtbarer Familienförderung dominieren die Sachleistungen. In Italien und Spanien leben schon heute die wenigsten jungen Menschen. Deutschland bildet mit Österreich eine kleine Gruppe, die familienpolitisch vor allem durch Barzahlungen viel leistet, aber sehr niedrige Geburtenraten aufweist. Auffallend ist Irland. Kultur und Religion scheinen ein wichtiger Grund dafür zu sein, dass auf der Insel der Staat sich familienpolitisch sehr zurückhält und es dennoch nicht nur die meisten Kinder und Jugendlichen gibt, sondern auch weiterhin die höchste Geburtenrate in der Europäischen Union.

… deutlicher Zusammenhang zwischen Familienförderung und Armut

Ganz anders und wohl eindeutig scheint der Zusammenhang zwischen Familienförderung und relativer Einkommensarmut bei Familien und Kindern. Es gibt EU-Staaten, in denen, anders als in Deutschland, selbst kinderreiche Familien und allein Erziehende kaum häufiger in ökonomisch prekären Verhältnissen leben als der Durchschnitt der Bevölkerung. Gleichzeitig weisen diese Staaten überdurchschnittlich hohe Geburtenraten auf. Es sind ausschließlich die skandinavischen Staaten, Dänemark, Finnland und Schweden, die eine expansive Familienpolitik vor allem durch die Förderung der Kinderbetreuung betreiben: In Finnland gelten 11 % der allein Erziehenden und 5 % der kinderreichen Familien als relativ arm (die Geburtenrate beträgt 173), in Dänemark gelten 12 % der allein Erziehenden und 13 % der kinderreichen Familien als arm (die Geburtenrate beträgt 177), in Deutschland gelten 36 % der allein Erziehenden und 21 % der kinderreichen Familien als arm (die Geburtenrate beträgt 136) und in Frankreich gelten 35 % der allein Erziehenden und 24 % der kinderreichen Familien als arm (die Geburtenrate beträgt dort allerdings 188).

Mit anderen Worten: Eine expansive Familienförderung allein reicht nicht aus, um das Risiko von Armut bei Familien zu verringern, wenn sie sich überwiegend auf Barleistungen stützt. Das belegen nicht nur Deutschland und Frankreich, sondern auch Österreich und zum Teil Belgien. Keine an Barleistungen orientierte Familienförderung vermag das zum Teil sehr steile Einkommensgefälle zwischen kinderlosen Lebensformen und Familien nur annähernd auszugleichen – erst recht nicht unter den gegenwärtigen finanziellen Restriktionen öffentlicher Haushalte in nahezu allen Staaten der EU. Gerade in Lebensphasen, in denen Familien gegründet werden, geht es zum Beispiel in Deutschland beim Einkommensgefälle zwischen kinderlosen Paaren und Paaren mit Kindern nicht um 30 Euro oder 50 Euro, sondern um 600 Euro bis 650 Euro pro Kopf und Monat, und zwar netto. Allein eine Erwerbsbeteiligung beider Eltern kann das Einkommensgefälle teilweise oder sogar ganz ausgleichen. Auch die ökonomische Situation vornehmlich allein erziehender Frauen mit Kleinkindern verbessert sich erheblich durch eine angemessene Erwerbstätigkeit der Mutter. Gleichzeitig grenzt die Erwerbsbeteiligung deutlich das Ausmaß ökonomisch prekärer Lebenslagen ein und ermöglicht häufiger ökonomischen Wohlstand. 4 Für alle EU-Staaten, in denen allein erziehende und kinderreiche Eltern mit ihren Kindern eher durchschnittlich oft in ökonomisch prekären Verhältnissen leben, gilt: Kleinkinder besuchen häufiger öffentlich geförderte Betreuungseinrichtungen und Frauen selbst mit mehreren Kindern sind öfters erwerbstätig als in Deutschland. 5

Eine restriktive Familienförderung geht stets einher mit hoher Armutsgefährdung der Familien und Kinder – so in Großbritannien und Irland, aber hauptsächlich in den südeuropäischen Staaten. Die Niederlande fallen dabei etwas aus dem Rahmen. Familien mit zwei oder mehr Kindern befinden sich vergleichsweise selten in ökonomisch schwierigen Situationen. Das mag daran liegen, dass die Sozialleistungen in den Niederlanden kaum familienpolitische Maßnahmen enthalten, dass aber andere sozialpolitische, etwa arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in der Regel ein ausreichendes Familieneinkommen gewährleisten.

Staaten, die am wenigsten für ihre Familien und Kinder leisten, haben nicht nur die geringsten Geburtenraten und die wenigsten jungen Menschen, ihre Familien und Kinder leben auch am häufigsten in ökonomisch schwierigen Verhältnissen. Am Beispiel Irland kann man zudem erkennen, dass eine junge Bevölkerung nicht zwangsläufig mit Wohlstand einhergeht. Deshalb: Familie und Wohlstand ist wohl nur durch eine entsprechend ausgestaltete Politik möglich.

1 Vgl. Dienel, Christiane: Familienpolitik – Eine praxisorientierte Gesamtdarstellung der Handlungsfelder und Probleme, Weinheim und München 2002, S. 245.

2 Siehe Wintersberger, Helmut/Wörister, Karl: Child benefit packages im internationalen Vergleich, in: WISO, Nr.4/2003, S. 133-154.

3 Siehe Eurostat: Sozialschutz: Barleistungen für Familien in Europa, Statistik kurz gefasst, 19/2003 – und Eurostat: Sozialschutz in Europa, Statistik kurz gefasst, 6/2004 – sowie Eurostat: Armut und soziale Ausgrenzung in der EU, Statistik kurz gefasst, 16/2004.

4 Eggen, Bernd: Oben und unten: Familieneinkommen aus Sicht der Kinder, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 9/2004, S. 25.

5 Renz, Regine/Eggen, Bernd: Frauen in Europa: Job? Kinder?, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2004, S.11 – sowie Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung, 2003, S. 33.