:: 8/2006

Indien: ein Land voller Gegensätze

Indien, benannt nach dem Fluss Indus, ist ein Land der Kontraste und Extreme. Neben Slums entwickeln sich dynamische Wirtschaftszentren, wie zum Beispiel Bangalore oder Mumbai/Bombay. Modernste Technologien treffen auf jahrhundertealte Traditionen.

Indien, vor noch nicht allzu langer Zeit als exotisches Dritte-Welt-Land betrachtet, ist politisch und wirtschaftlich auf dem Weg zur international umworbenen Großmacht: Die indischen Börsen markieren Rekorde, die Kaufkraft legt zu, Investoren strömen ins Land und im April dieses Jahres ist Indien sogar Partnerland der weltgrößten Industriemesse in Hannover gewesen. Wer bislang den Aufstieg Asiens nur mit dem Wachstum Chinas verband, wird eines Besseren belehrt werden. Indien drängt in den Vordergrund und ist mittlerweile neben China der wichtigste Wachstumsmarkt in Asien.

Die Geschichte der indischen Kultur geht bis 2500 vor Christus zurück. Damals entstand eine der ältesten Hochkulturen dieser Welt, die Indus-Tal Zivilisation. Ein entscheidender historischer Einschnitt war das 19. Jahrhundert. Durch die Uneinigkeit der verschiedenen indischen Königreiche und Fürstentümer wurde der Boden für die Kolonialisierung Indiens durch die Briten vorbereitet. Die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts war geprägt vom gewaltfreien Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft. 1947 erhielt Indien, vor allem Dank Mahatma Gandhi, die Unabhängigkeit. Dabei wurde das Land in Indien und in West- und Ost-Pakistan (Bangladesch) aufgeteilt.

Indien größte Demokratie weltweit

Indien ist eine parlamentarische Demokratie und damit die größte Demokratie der Erde. Das indische Parlament besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus (Lok Sabha) und dem Oberhaus (Rajya Sabha). Das Unterhaus wird auf fünf Jahre nach dem Prinzip des Mehrheitswahlrechts gewählt. Wahlberechtigt ist jeder Staatsbürger, der das 18. Lebensjahr vollendet hat. Die am häufigsten vorkommende Religion in Indien ist der Hinduismus. Mehr als 80 % der Bevölkerung bekennt sich zu dieser Religion. Es folgen die Muslime mit ca. 10 % der Bevölkerung. Andere Religionen wie das Christentum oder der Buddhismus spielen nur eine untergeordnete Rolle.

Indien ist mit einer Fläche von 3,3 Mill. km² der siebtgrößte Flächenstaat der Welt, flächenmäßig größer sind nur Russland, Kanada, die USA, China, Brasilien und Australien. Seine Fläche wird von der EU-25 nur um knapp 20 % übertroffen, während das Gebiet Baden-Württembergs nur 1 % der indischen Fläche beträgt (Tabelle). Das Relief Indiens wird geprägt vom Himalajagebirge im Norden, der Gangestiefebene im Osten, Wüsten im Westen und dem Dekkanhochland im Süden. Das tropische bis subtropische Klima wird wesentlich vom Monsun bestimmt, der mit seinem jahreszeitlichen Wechsel von Trocken- und Regenzeit die Vegetation und die Landwirtschaft beherrscht.

Über eine Milliarde Inder

Indien ist nach der Volksrepublik China das bevölkerungsreichste Land der Welt. Offiziell wurde am 11. Mai 2000 die Milliardengrenze überschritten. Anfang 2005 waren es schon fast 1,1 Mrd. Einwohner, mehr als doppelt so viel wie in der Europäischen Union. Somit lebt ca. jeder sechste Erdenbewohner in Indien. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird Indien in den nächsten Jahrzehnten sein Bevölkerungswachstum kaum abschwächen und die Volksrepublik China bis zum Jahr 2045 als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst haben. Das Bevölkerungswachstum erklärt sich nicht nur aus einer hohen Geburtenrate (knapp 3 Kinder je Frau), sondern auch aus der in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Lebenserwartung. Dies ist unter anderem auf eine Verbesserung in der Gesundheitsfürsorge und der Bekämpfung der Unterernährung zurückzuführen. Indien wird zukünftig voraussichtlich nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Erde sein, sondern auch eines der Länder mit der jüngsten Bevölkerung. Schon heute sind in Indien nur 5 % der Menschen älter als 65 Jahre, aber ein Drittel unter 15 Jahren. Damit stehen einem älteren Menschen fast 7 Junge gegenüber. Während im EU-25-Durchschnitt sich der Anteil von Jungen zu Alten noch die Waage hält, verschiebt sich in Deutschland und Baden-Württemberg das Gleichgewicht sogar deutlich zu Gunsten der Älteren.

Anders als in den meisten Ländern der Erde ist die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer und Frauen in Indien fast identisch. Während bei Männern die Lebenserwartung 2001 rund 60 Jahre betrug, wurde die indische Frau im Durchschnitt nur 2 Jahre älter. In Baden-Württemberg ist die Lebenserwartung wesentlich höher als in Indien, außerdem überlebt die baden-württembergische Frau den Mann im Durchschnitt um über 5 Jahre. Im Gegensatz zur EU-25 leben in Indien mehr Männer als Frauen.

Das Geschlechterverhältnis hat sich in den vergangenen Jahren so ungünstig entwickelt, da nach wie vor die Geburt eines Mädchens von vielen indischen Familien als Belastung angesehen wird. Eltern ziehen daher oftmals vor, eine Schwangerschaft abzubrechen, als ein Mädchen zu bekommen. Diese Praxis ist mit ein Grund für das Frauendefizit, das in den meisten Regionen Indiens herrscht1.

Die Bevölkerungsdichte Indiens beträgt knapp 330 Einwohner je km² und ist damit dreimal so hoch wie in der Europäischen Union und auch höher als in Baden-Württemberg mit 300 Einwohnern je km². Da weite Teile des Landes wie die großen Wüstengebiete und das Hochgebirge fast unbewohnbar sind, konzentriert sich ein Großteil der Bevölkerung auf die fruchtbare Gangesebene und die Städte.

Indien zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt

Indien ist nach den 1991 eingeleiteten Reformen auf dem Weg in eine soziale Marktwirtschaft. Seither erlebt das Land ein großes Wachstum und profitiert aufgrund seiner hohen Lohnkostenvorteile besonders von der Globalisierung. Mittlerweile ist Indien die zehntgrößte Volkswirtschaft der Erde mit einem Bruttoinlandsprodukt im Jahre 2004 von knapp 560 Mrd. Euro. Während Deutschland mit einem viermal höheren Bruttoinlandsprodukt als Indien den dritten Platz nach der USA und Japan 2004 im Weltranking einnahm, erreichte Baden-Württemberg mit einer Wirtschaftsleistung von 320 Mrd. Euro den 17. Platz aller Volkswirtschaften. Allerdings erzielte Baden-Württemberg ein sechzigmal höheres Pro-Kopf-Einkommen als Indien. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 500 Euro zählt Indien immer noch zu den Entwicklungsländern.

Auch eine boomende Wirtschaft mit jährlichen Wachstumsraten von rund 6 % seit 1990 konnte das Land nicht aus der Gruppe der Entwicklungsländer herausbringen. Die Diskrepanz zwischen der rückständigen ländlichen Entwicklung – über zwei Drittel der Bevölkerung lebt auf dem Land – und hochmodernen Wirtschaftsgebieten dauert an.

Dienstleistungen gewinnen an Bedeutung

Indien ist immer noch ein agrarisch geprägtes Land. Über die Hälfte der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft beschäftigt, deren Anteil an der Wirtschaftsleistung ist jedoch stark geschrumpft. Trug der primäre Bereich vor 50 Jahren noch mehr als die Hälfte zur Bruttowertschöpfung bei, so war es 2004 gerade noch ein Fünftel (Tabelle). Die großflächige Einführung von Hochertragssorten, der Einsatz von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln haben zwar dazu beigetragen, dass sich das Land heute mit Nahrungsmitteln weitestgehend selbst versorgen kann, dennoch ist Indiens Landwirtschaft noch vergleichsweise ineffizient.

Motoren des indischen Wachstums sind das Produzierende Gewerbe und der Dienstleistungssektor. Dabei sind besonders die Pharmabranche und die Informationstechnologie zu erwähnen. Während die Industrie 2004 gut ein Viertel zur Wirtschaftsleistung beitrug, stieg der Dienstleistungsanteil stetig auf nun mehr als 50 %, das sind nur 10 Prozentpunkte weniger als in Baden-Württemberg. Die Wirtschaftsstruktur Indiens verzeichnet damit eine deutliche Verschiebung vom primären über den sekundären zum tertiären Sektor.

Dynamische Exportentwicklung Baden-Württembergs nach Indien

Im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft sind Indiens Außenhandelsverflechtungen eher gering. Dies ist in erheblichem Maße auf die starke Binnenmarktorientierung in den Jahr-zehnten nach der Unabhängigkeit zurückzuführen. Seit der wirtschaftlichen Öffnung Indiens Anfang der 90er-Jahre verzeichnet der Außenhandel jedoch einen deutlichen Aufschwung. Trotzdem betrug der Anteil der Im- und Exporte am Bruttoinlandsprodukt nur etwas mehr als ein Viertel, knapp die Hälfte des Anteils der EU-25.

Indiens wichtigster Handelspartner ist mit großem Abstand die USA, gefolgt von China und dem Vereinigten Königreich. Während Erdöl klar das wichtigste Einfuhrgut ist, sind Edelsteine, Schmuck und Textilien die bedeutendsten Ausfuhrgüter Indiens. Die Exporte Baden-Württembergs nach Indien entwickeln sich sehr dynamisch, seit 2000 konnten sie mehr als verdoppelt werden. 2005 betrugen sie knapp 700 Mill. Euro, in etwa so viel wie nach Irland oder Norwegen. Damit belegte Indien in der Rangfolge der wichtigsten Länder für baden-württembergische Exporte den 32sten Platz mit einem Anteil von 0,6 % an der Gesamtausfuhr. Wichtigste Exportgüter des Landes nach Indien waren Maschinen, Erzeugnisse der Medizin-, Mess- und Regelungstechnik sowie Kraftfahrzeuge.

Noch viele ungelöste Probleme

Die größte Demokratie der Welt lockt mit politischer Stabilität und einem riesigen Reservoir gut ausgebildeter Arbeitskräfte. Aber auch in Indien ist nicht alles Gold was glänzt. Eine rasant wachsende Bevölkerung, Armut – etwa jeder vierte Mensch in Indien lebt unterhalb der Armutsgrenze und muss mit weniger als einem US-Dollar täglich auskommen –, AIDS, Umwelt- und Naturkatastrophen sind nur einige der Probleme.

Um das Potenzial des indischen Marktes auszuschöpfen, muss das Land seine wirtschaftlichen Reformen fortsetzen und beschleunigen. Die Importzölle und die versteckten Handelshemmnisse müssen verringert, das Arbeitsrecht in der Industrie flexibilisiert werden. Des Weiteren gilt es, die Rahmenbedingungen für Investitionen aus dem Ausland zu liberalisieren. Die erheblichen Defizite bei der Infrastruktur – nicht gerade einladend für ausländische Investoren – müssen abgebaut werden.

Werden die Rahmenbedingungen richtig gesetzt, wird Indien einen erheblichen Nutzen daraus ziehen, dass zum Beispiel allein im nächsten Jahrzehnt zwischen 75 und 110 Mill. Inder zusätzlich auf den Arbeitsmarkt drängen. Nicht nur die indische Wirtschaftsleistung würde nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds davon profitieren, sondern auch für die Masse der Bevölkerung würde der Wohlstand beträchtlich zunehmen.

1 Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, DSW-Datenreport 2005.