:: 9/2006

Hans-Hermann Steiger – Ein Urgestein der deutschen Industriestatistik hat sich verabschiedet

Im Juli 2006 trat Regierungsdirektor Hans-Hermann Steiger nach über 35-jähriger Tätigkeit für die amtliche Statistik in den sehr verdienten Ruhestand. Seit Oktober 1970 stand der gebürtige Berliner und Diplom-Volkswirt in Diensten des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Bereits nach fünfjähriger Amtszugehörigkeit hatte er im Oktober 1975 die Leitung des Referats »Verarbeitendes Gewerbe« übernommen und prägte seitdem nachhaltig die konzeptionelle und technisch-organisatorische Entwicklung der Erhebungsarbeiten bei den Industriestatistiken in Deutschland.

Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung mit dem Erhebungsgeschäft und seinem überragenden Verständnis für konzeptionelle Zusammenhänge hat Hans-Hermann Steiger nicht nur einen umfassenden Überblick über die permanenten Statistikreformdiskussionen sowie über die realisierten inhaltlichen und verfahrenstechnischen Veränderungen der Industrieberichterstattung in den zurückliegenden 50 Jahren erworben, sondern kann diesbezüglich auch eine fundierte und abgewogene Bewertung zu Zielen, Maßnahmen und Wirkungen abgeben. Mit seinem Wissen hielt Hans-Hermann Steiger nie hinter dem Berg; für ihn waren kontroverse Fachdiskussionen und die Weitergabe von Kenntnissen oberstes Gebot der Kollegialität und absolut notwendig für die Stärkung der amtlichen Statistik.

Im Folgenden möchte ich einige wichtige Meilensteine in der Entwicklung der Industriestatistik benennen, die in weiten Teilen die Tätigkeit von Hans-Hermann Steiger im Statistischen Landesamt gekennzeichnet haben und die ihrerseits in Form und Wirkungsweise deutlich von ihm mitgeprägt wurden. Diese Tour d’Horizont kann nur lückenhaft Einblicke in die konzeptionellen Grundlagen des Gesamtsystems der Wirtschaftsstatistiken geben, soll aber die große Spannweite des Tätigkeitsfeldes des herausragenden Industriestatistikers Hans-Herrmann Steiger deutlich machen.

Die erste einschneidende Zäsur bei der Industrieberichterstattung gab es Mitte der 70er-Jahre. Diese Reform war notwendig geworden, um das Nebeneinander der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Einzelerhebungen konzeptionell und gesetzestechnisch zu vereinheitlichen, wobei auch der Harmonisierungsbedarf im Hinblick auf die damaligen EG-Konventionen zu berücksichtigen war. Die Realisierung dieser Reform verzögerte sich immer wieder, nicht nur weil es sich konzeptionell um ein äußerst anspruchsvolles Vorhaben handelte, sondern weil die Länder zeitweise mit Extremvorstellungen konfrontiert wurden, die auf eine deutliche Reduktion der Regionalstatistik bzw. die starke Einschränkung der Konjunkturbeobachtung auf Länderebene hinausgelaufen wären. Nach langwierigen Auseinandersetzungen konnte 1975 endlich eine Neuordnung erreicht werden, die in ihren Grundsätzen auch von den Fachleuten auf Landesebene positiv beurteilt wurde. 1

Der Übergang vom alten ins neue System war nur stufenweise leistbar. Dabei stand vor allem die Notwendigkeit im Vordergrund, die Unterschiede vor und nach Umstellung messen zu können, damit die zeitliche Vergleichbarkeit der Daten gewährleistet bleibt. Diese Operationen waren sehr aufwendig und anspruchsvoll; für die Neuberechnung von Auftragseingangs- sowie Produktionsindex erforderten sie eine grundlegende Überarbeitung der Indexkonzeption, die erst zu Beginn des Jahres 1985 abgeschlossen werden konnte. 2 Bei dieser Gelegenheit wurde die Berechnung in Baden-Württemberg auf ein weitgehend automatisiertes Verfahren umgestellt.

Weitere Anpassungen bei der Erstellung der Konjunkturindizes wurden unmittelbar anschließend notwendig, da zum einen die im Rahmen der Arbeitsstättenzählung 1987 neu aufgefundenen Betriebe in die Berichterstattung integriert sowie zum anderen die ab 1990 geänderte Güternomenklatur für die Produktionsstatistik berücksichtigt werden mussten. 3 Eine noch größere Beeinträchtigung der Zeitreihenentwicklung ergab sich dann infolge der Einführung der EU-weit geltenden Wirtschaftszweig- und Güterklassifikationen im Jahr 1995. Diese Umstellung führte zu einer Vielzahl von zum Teil gravierenden sektoralen Verlagerungen, die gerade auch bei den in Baden-Württemberg stark vertretenen Investitionsgüterbranchen besonders zu Buche schlugen. 4

Für Hans-Hermann Steiger war es während seiner gesamten Berufslaufbahn ein zentrales Anliegen, sowohl die Qualität der Erhebungsergebnisse als auch die Effizienz der Erhebungs- und Aufbereitungsabläufe mit allen zur Verfügung stehenden technischen und organisatorischen Mitteln laufend zu optimieren. Ob es sich um die Verminderung des Anteils der Antwortausfälle durch ein stringentes Mahnverfahren oder die Verbesserung von Schätzverfahren handelte, ob die Beschleunigung des Aufbereitungsprozesses innerhalb der Statistischen Landesämter oder die Datenübermittlung von den Ländern an das Statistische Bundesamt in der Diskussion standen, immer war seine fachkundige Einschätzung bundesweit gefragt. Auch im Zuge der deutschen Wiedervereinigung setzte er sich energisch für eine sachgerechte Überleitung der Industriestatistiken in den neuen Ländern ein.

Während die so genannten Statistikbereinigungen in den 80er-Jahren (1. Statistikbereinigungsgesetz 1980; Statistikbereinigungsverordnung 1984; 2. Statistikbereinigungsgesetz 1986) nur moderate Entlastungseffekte für die Wirtschaft brachten und in den Statistischen Landesämtern sogar eher zu Mehraufwand führten5, folgte aus der Reduzierung des Merkmalsprogramms bei der Investitionserhebung im Produzierenden Gewerbe zum Berichtsjahr 19986 erstmals tatsächlich ein substanzieller Bürokratieabbau, von dem sowohl die befragten Unternehmen als auch die Nutzer der amtlichen Statistik – wegen der merklich beschleunigten Ergebnisfertigstellung – profitierten. Diesen »nationalen« Entlastungseffekten standen allerdings durch die Europäische Union veranlasste Erweiterungen gegenüber. 7 Ab Berichtsjahr 1998 ist in der jährlichen Investitionserhebung der Fragenkatalog um Angaben zum Finanzierungsleasing erweitert worden; ab Berichtsjahr 2000 wurden dann zusätzlich in mehrjährigem Abstand Fragen zu immateriellen Anlagen, wie zum Beispiel Konzessionen, Patente oder Lizenzen sowie speziell bei juristischen Personen auch zu den Finanzanlagen gestellt. Per saldo blieb aber trotz dieser Erweiterungen ein merklicher Entlastungseffekt bestehen.8

Auf der Suche nach einer wirklichen »Verschlankung« der Industrieberichterstattung wurde von den Fachstatistikern der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder Ende der 90er-Jahre ein völlig neuartiges Konzept für den Teilbereich der Produktionserhebungen entwickelt. Federführend brachte Baden-Württemberg den entsprechenden Gesetzentwurf im März 1998 im Bundesrat ein. 9 Bereits ab Januar 1999 konnte damit die bisher zweigleisige Vorgehensweise auf nur noch ein Erhebungsverfahren reduziert werden, indem die traditionelle vierteljährliche Produktionserhebung in einen monatlichen und in einen vierteljährlichen Teil aufgespalten und gleichzeitig der monatliche Produktions-Eilbericht komplett gestrichen wurde. Für die Wirtschaft in Baden-Württemberg bedeutete dies eine Reduzierung um rund 40 000 Meldungen pro Jahr. 10

Ein ganz großer konzeptioneller Durchbruch zur Entlastung der Unternehmen von statistischen Berichtspflichten gelang den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder im Jahr 2006. In wesentlichen Teilen beruhte dieses gemeinsame Konzept einer Reform der Unternehmensstatistik auf Vorschlägen von Hans-Hermann Steiger, die er bereits 1997 entwickelt und auf ihre Tauglichkeit hin überprüft hatte. 11 Für ihn war klar, dass die divergierenden Interessen einer monatlichen Konjunkturberichterstattung sowie einer detaillierten sektoralen und regionalen Strukturbeobachtung gleichermaßen Berücksichtigung finden müssen. In mehreren Aufsätzen erläuterte und begründete er seine Auffassung, dass die Vorteile der Anhebung der Erfassungsgrenze für die monatlich berichtspflichtigen Betriebe in Verbindung mit einer Jahreserhebung im Vergleich zu anderen Verfahren der Berichtskreiseinschränkung deutlich größer seien. 12 Die endgültige Zustimmung des Deutschen Bundestages am 29. Juni 2006 zum Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse bestätigte seine Auffassung in besonderer Weise.

Nach diesem Gesetz sind ab Januar 2007 grundsätzlich alle Betriebe des Verarbeitenden Gewerbes mit weniger als 50 tätigen Personen von der Berichtspflicht zur monatlichen Konjunkturberichterstattung (Monatsbericht und monatliche Produktionserhebung) befreit; in Baden-Württemberg betrifft das 4 100 Betriebe. Die Gesamtentlastung, die durch diese Statistikreform erreicht wird, beträgt über alle baden-württembergischen Betriebe des Verarbeitenden Gewerbes betrachtet rund 20 %.

Nicht nur im statistisch-konzeptionellen Bereich hatte Hans-Hermann Steiger bei wichtigen Weichenstellungen eine meinungsführende Position in Deutschland inne, sondern auch bei inhaltlichen und technisch-organisatorischen Fragen strebte er immer eine aktive Rolle in der Fachdiskussion an. Bereits 1980 setzte er sich mit dem Problem einer operationalen Definition des Begriffs »Mittelstand« auseinander und versuchte eine Abschätzung der Bedeutung mittelständischer Unternehmen innerhalb der baden-württembergischen Industrie. 13

Mit Initiativen zur Verbesserung technischer und organisatorischer Abläufe ließ Hans-Hermann Steiger auch kurz vor seinem Ruhestand nicht nach. Besonders hervorzuheben sind hier der Anstoß zur Einführung der dezentralen Aufbereitungssteuerung sowie der Ausbau elektronischer Meldemöglichkeiten für die monatlichen Konjunkturstatistiken des Verarbeitenden Gewerbes, die bereits von rund der Hälfte der berichtspflichtigen Industriebetriebe in Baden-Württemberg genutzt werden. Während die dezentrale Aufbereitungssteuerung den Aufwand im Erhebungsreferat merklich reduziert und das Zusammenspiel zwischen elektronischer Datenverarbeitung und Fachstatistik optimiert, erleichtert die Nutzung des Internets die Abgabe statistischer Meldungen und erspart den Berichtspflichtigen Zeit und Kosten.

Hans-Hermann Steiger war mit Leib und Seele Wirtschaftsstatistiker. Er setzte sich mit ungeheurer Kraft und großem intellektuellem Scharfsinn für die Belange der Industriestatistik in Deutschland ein; dabei verlor er nie für das Ganze der amtlichen Statistik den Blick. Entsprechend nachhaltig sind die Spuren, die er zurücklässt. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg wünsche ich Hans-Hermann Steiger für die neue freie Zeit alles Gute!

1 Zu dieser Reform ausführlich Steiger, Hans-Hermann: Das Verarbeitende Gewerbe, Eine Bestandsaufnahme nach der Neuordnung der Statistiken im Produzierenden Gewerbe, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 9/1978, S. 283 ff.; derselbe: Wirtschaftsstatistik: Von den Trümmerbergen zum EG-Binnenmarkt – illustriert am Beispiel der Industriestatistik, in: Statistik und Landeskunde Jahrbuch 1993, S. 91 ff.; derselbe: 50 Jahre Industrieberichterstattung – Dokumentation, Ergebnisse, Aussichten, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 9/1999, S. 426 ff.

2 Hierzu Steiger, Hans-Hermann: Umstellung des Auftragseingangsindex für das Verarbeitende Gewerbe auf Basis 1980, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 4/1982, S. 124 ff.; derselbe Neuberechnung des Produktionsindex im Verarbeitenden Gewerbe auf Basis 1980, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 6/1985, S. 213 ff.

3 Steiger, Hans-Hermann: Produktionsindex im Verarbeitenden Gewerbe: Neuberechnung in mehreren Stufen, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 12/1990, S. 604 ff.; derselbe: Auswirkungen der Arbeitsstättenzählung auf die Erhebungen im Verarbeitenden Gewerbe, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 4/1991, S. 180 ff.

4 Steiger, Hans-Hermann: Das Verarbeitende Gewerbe im neuen Gewand – Eine dokumentarische Nachlese zur Umstellung der Statistiken auf neue Produkt- und Wirtschaftszweigklassifikationen, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 7/1997, S. 318 ff.

5 Steiger, Hans-Hermann: Wirtschaftsstatistik: Von den Trümmerbergen zum EG-Binnenmarkt – illustriert am Beispiel der Industriestatistik a.a.O., S. 106 ff.

6 Gesetzliche Grundlage war die Verordnung zur Aussetzung von Erhebungsmerkmalen nach dem Gesetz über die Statistik im Produzierenden Gewerbe vom 17. Juli 1998.

7 EG-Verordnung Nr. 58/97 des Rates vom 20. Dezember 1996 über die strukturelle Unternehmensstatistik.

8 Vgl. Kotter, Jürgen: Investitionszurückhaltung im Verarbeitenden Gewerbe 1997, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 2/1999, S. 80 f.

9 Am 08. August 1998 wurde dann das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Statistik im Produzierenden Gewerbe endgültig verabschiedet.

10 Steiger, Hans-Hermann: Die neuen Produktionserhebungen – ein wichtiger Schritt zur »Verschlankung« der Industrieberichterstattung, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 1/1999, S. 12 ff.

11 Steiger, Hans-Hermann: Was wäre, wenn…? Anregungen zur Novellierung der Industrieberichterstattung, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 4/1997, S. 159 ff.

12 Steiger, Hans-Hermann: Blicke hinter die Kulissen der Industrieberichterstattung, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 5/1999; derselbe: Konzentrationsverfahren für den Monatsbericht im Verarbeitenden Gewerbe – ein tauglicher Vorschlag zur Entlastung und Rationalisierung?, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 12/1999, S. 586 ff.; derselbe: Reform der Unternehmensstatistik für den Bereich des Verarbeitenden Gewerbes, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 2/2006, S. 3 ff.

13 Steiger, Hans-Hermann: Der Mittelstand im Verarbeitenden Gewerbe, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 7/1980, S. 226 ff.; derselbe: Regionale Schwerpunkte des Verarbeitenden Mittelstands, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 8/1980, S. 283 ff.; derselbe: Wie groß ist eigentlich das Verarbeitende Gewerbe? Und wie viel macht der Mittelstand aus?, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 7/1997, S. 330 ff.