:: 11/2006

Immer mehr Tarifverträge sehen Öffnungsklauseln vor

Seit Mitte der 90er-Jahre verliert der Flächentarifvertrag als ehemals dominante Form der Vereinbarung über Entgelt und Arbeitszeit zunehmend an Bedeutung. Dies lässt sich an verschiedenen Entwicklungen aufzeigen. Die Bindung der Arbeitgeber an Branchentarifverträge ist in vielen Branchen rückläufig. Zudem steigt die Zahl der auf Betriebs- oder Unternehmensebene abgeschlossenen Haus- oder Firmentarifverträge an.1 Daneben stehen Forderungen vor allem von Seiten der Arbeitgeber aber auch aus Teilen der Politik nach einer zunehmenden Dezentralisierung der zentral verhandelten Tarifverträge im Raum.2 Als Reaktion auf diese Forderungen wurden in zahlreichen Tarifverträgen Öffnungs- oder Härtefallklauseln verankert, die den Betrieben unter bestimmten Voraussetzungen ein Abweichen von den Standards des Flächentarifvertrags erlauben. In welchen wichtigen Branchentarifverträgen Öffnungs- oder Härtefallklauseln vereinbart wurden, wird vom Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) regelmäßig berichtet. Darüber hinaus zeigt die Entwicklung am aktuellen Rand, dass es in Betrieben, die einem Flächentarifvertrag unterliegen, vermehrt zur Anwendung von Öffnungs- und Härtefallklauseln kommt.

Der folgende Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Auswirkungen von Tarifverträgen und Entgeltöffnungsklauseln auf die Lohnflexibilität und die betriebliche Entwicklung«, bei dem das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) mit dem Statistischen Landesamt Baden-Württemberg kooperiert. Ziel war es, detailliert das Ausmaß und die Wirkung von tarifvertraglichen Öffnungsklauseln zu untersuchen.

Die Tarifbereiche in Baden-Württemberg

Die Tarifvertragslandschaft des Produzierenden Gewerbes in Baden-Württemberg weist zwei wesentliche Eigenschaften auf. Zum einen wird die Tarifvertragslandschaft von zwei Tarifbereichen3 dominiert, zum anderen gibt es trotz dieser Dominanz eine Vielzahl weiterer Tarifbereiche. Der Tarifbereich, der von der Metall- und Elektroindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden erfasst wird, ist gemessen am Anteil der tarifgebundenen Beschäftigten mit Abstand der größte (39 %), gefolgt von der Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg/Hohenzollern (10 %). Fast die Hälfte der tariflich gebundenen Beschäftigten (49 %) wurde 1995 nach einem dieser beiden Tarifverträge entlohnt. Im Jahr 2001 waren es sogar 55 %. Für das Jahr 1995 verzeichnet die Verdienststrukturerhebung dennoch 68 und für das Jahr 2001 sogar 91 verschiedene Tarifbereiche.

Gemessen an allen tariflich Beschäftigten hatten zwischen 1995 und 2001 die Tarifbereiche der Metall- und Elektroindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden (Steigerung des Anteils um + 2,2 Prozentpunkte), Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg/Hohenzollern (+ 3,6) Metall- und Elektroindustrie Südbaden (+ 3,0) und die Chemische Industrie (+ 0,8) an Einfluss gewonnen. Die anderen großen Tarifbereiche hatten in dieser Betrachtung einen relativen Rückgang zu verzeichnen. Berücksichtigt man zusätzlich, dass die Bindung an einen Flächentarifvertrag insgesamt zurückgegangen ist4, so sind die relativen Zugewinne absolut betrachtet ebenfalls Rückgänge, mit Ausnahme der Metallindustrie in Südbaden und Südwürttemberg/Hohenzollern.

Die Analyse der tarifvertraglichen Öffnung erfordert eine vollständige Erfassung aller Tarifbereiche, die in Baden-Württemberg gültig sind. Als Grundlage für den IAW-Öffnungsklauseldatensatz wurden die Informationen zu den Tarifbereichen der Verdienststrukturerhebung 1995 bzw. 2001 und dem Tarifleitband des Statistischen Bundesamtes herangezogen. Im Rahmen einer Textauswertung der Tarifverträge beim Tarifregister Baden-Württemberg wurden schriftlich verankerte Flexibilisierungsmöglichkeiten in den verschiedenen Tarifbereichen erfasst.5 Zusätzlich sind auch der Einführungszeitpunkt und gegebenenfalls eine zeitliche Befristung im Zeitraum 1991 bis 2004 bekannt, sodass es möglich ist, die zeitliche Entwicklung abzubilden.

Im Folgenden werden drei Typen von Öffnungsklauseln näher betrachtet: Öffnungsklauseln mit Entgeltwirkung, solche die ausschließlich die Arbeitszeit betreffen und andere Öffnungsklauseln. »Öffnungsklauseln mit Entgeltwirkung« ermöglichen es, die Jahressonderzahlung oder das Urlaubsgeld abzusenken oder ganz auszusetzen, eine vereinbarte Tariferhöhung zu verschieben oder auszusetzen oder die Grundentgelte abzusenken. Darüber hinaus werden auch Regelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit berücksichtigt, die eine Entgeltanpassung (bei verringerter Wochenarbeitszeit) oder keinen Entgeltausgleich (bei verlängerter Wochenarbeitszeit) vorsehen. Arbeitszeitklauseln, die ausschließlich die Arbeitszeit flexibilisieren (zum Beispiel Arbeitszeitkonten oder Arbeitszeitkorridor) und dabei keinen Einfluss auf die Entgelte haben, werden unter dem Begriff »ausschließliche Arbeitszeitöffnungsklauseln« zusammengefasst.

Jeder Branchentarifvertrag wird eindeutig einem Öffnungsklauseltyp zugeordnet. Tarifverträge mit allgemeinen Klauseln oder Klauseln, die zum Beispiel nur den Auszahlungszeitpunkt für Jahressonderzahlung oder Weihnachtsgeld betreffen, werden zu »andere Öffnungsklauseln«, Tarifverträge ohne jegliche Flexibilisierungsmöglichkeit zu »ohne Öffnungsklauseln« zusammengefasst. Sieht ein Tarifbereich mehrere Öffnungsklauseln zum Beispiel zu Entgelt und Arbeitszeit vor, wird er der Gruppe »Öffnungsklauseln mit Entgeltwirkung« zugeordnet. Sind nur andere Öffnungsklauseln und Arbeitszeitöffnungsklauseln vorhanden, die sich nicht entgeltwirksam auswirken, so wird der Tarifbereich der Gruppe »ausschließliche Arbeitszeitöffnungsklauseln« zugeordnet. Ein Tarifbereich kann nicht zwei Typen gleichzeitig angehören.

Entwicklung der tariflichen Öffnung zwischen 1995 und 2001

Im Zeitraum 1991 bis 2004 zeigt sich, dass der Anteil der Tarifbereiche, die Öffnungsklauseln vorsehen, gestiegen ist. Zu Beginn der betrachteten Periode gab es nur wenige Möglichkeiten, Arbeitszeit oder Entgelte zu flexibilisieren. So sehen 1991 2 % der Tarifbereiche entgeltwirksame Öffnungsklauseln und 7 % der Tarifbereiche ausschließliche Arbeitzeitöffnungsklauseln vor. Das Jahr 1996 stellte dann einen Wendepunkt dar, da in einer ganzen Reihe von Tarifbereichen entgeltwirksame Öffnungsklauseln eingeführt wurden. Im Jahr 2004 verfügte nur noch ein Fünftel der Tarifbereiche über keinerlei Flexibilisierungsmöglichkeiten. Ein weiteres Fünftel der Tarifbereiche sah ausschließlich nur Arbeitszeitöffnungsklauseln ohne Entgeltwirkung vor und rund 55 % der Tarifbereiche verfügten über Möglichkeiten, die eine entgeltwirksame Flexibilisierung, sei es direkt über verringerte Zahlungen oder auch indirekt über die Arbeitszeit, erlauben.

Die Darstellung der zeitlichen Entwicklung der Öffnungsmöglichkeiten in Tarifverträgen anhand der Tarifbereiche erlaubt alleine noch keine Aussage darüber, welcher Anteil der tarifgebundenen Beschäftigten letztlich in Tarifbereichen mit Tarifverträgen, in denen Öffnungsklauseln verankert sind, beschäftigt ist. Daher werden im Folgenden die Informationen über die Flexibilisierungsmöglichkeiten der einzelnen Tarifbereiche mit dem jeweiligen Beschäftigtenanteil der Verdienststrukturerhebung verknüpft. Damit wird die Verbreitung von Öffnungsklauseln gewichtet und es kann angegeben werden, für welchen Anteil der tariflich gebundene Beschäftigten durch Öffnungsklauseln von den Standards des Flächentarifvertrags abgewichen werden kann.

Vergleicht man das Ausmaß der tarifvertraglichen Öffnung insgesamt, so kann festgestellt werden, dass 1995 für 6 % der tariflich gebundenen Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe in Baden-Württemberg entgeltwirksame Öffnungsklauseln angewandt werden konnten. Der Anteil stieg bis 2001 auf 81 %. Diese Steigerung ist vor allem auf die Schlüsselbranchen Metallerzeugnisse, Stahl- und Leichtmetallbau zurückzuführen. Der hohe Anteil erklärt sich unter anderem dadurch, dass entgeltwirksame Öffnungsklauseln gerade auch Arbeitszeitklauseln mit indirekter Entgeltwirkung mit einbeziehen.

An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Tarifbereiche und Branchen häufig voneinander abweichen. Dies ist zum einen darin begründet, dass es Branchen gibt, in denen mehrere räumlich und sachlich getrennte Tarifbereiche existieren, andererseits besteht seitens der Arbeitgeber grundsätzlich eine Wahlfreiheit, welchem Arbeitgeberverband sie sich anschließen. Betrachtet man das Ausmaß der Tariföffnung in der Chemischen Industrie, so liegt der Anteil der Beschäftigten, für die Öffnungsklauseln angewendet werden konnten, sowohl 1995 als auch 2001 bei fast 100 %. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass im Jahr 1995 insgesamt sieben Tarifbereiche und im Jahr 2001 vier Tarifbereiche in der Chemiebranche vorhanden sind, deutet dies darauf hin, dass die Regelungen in den verschiedenen Tarifbereichen der Branche ähnlich ausgestaltet sind.

Bei den Arbeitszeitöffnungsklauseln ist der Anteil der tarifgebundenen Beschäftigten, für die solche Klauseln gelten, auf einem niedrigeren Niveau, da ausschließlich solche Arbeitszeitöffnungsklauseln berücksichtigt werden, die keine Entgeltwirkung haben. Die Veränderung zwischen 1995 und 2001 fällt mit 4,2 Prozentpunkten vergleichsweise gering aus. Vor allem im Bereich Bergbau, Energie und Wasser stieg der Anteil merklich. In diesen Branchen wurde stärker auf eine ausschließliche Arbeitszeitflexibilisierung als auf entgeltwirksame Öffnungsklauseln gesetzt.

Ein Vergleich der Betriebsgrößenklassen zeigt in den Untersuchungsjahren 1995 und 2001 einen Betriebsgrößeneffekt bei den entgeltwirksamen Öffnungsklauseln: Der Anteil der Beschäftigten, für die entgeltwirksame Öffnungsklauseln angewendet werden können, steigt mit der Betriebsgröße. So konnten zwar im Jahr 1995 für den Großteil der tariflich gebundenen Beschäftigten keine Öffnungsklauseln vereinbart werden, im Jahr 2001 waren jedoch bei 38 % der tarifgebundenen Beschäftigten in Betrieben mit bis zu 19 Beschäftigten entgeltwirksame Öffnungsklauseln anwendbar. In Großbetrieben mit mehr als 500 Arbeitnehmern war dies unabhängig von der Branchenzugehörigkeit für über 90 % der Beschäftigten der Fall. Bei den ausschließlichen Arbeitszeitöffnungsklauseln zeigt sich keine steigende Verbreitung mit der Betriebsgröße.

Fazit und Ausblick

Das Ausmaß der Öffnung auf Ebene der Tarifbereiche und der Beschäftigten kann für den Analysezeitraum wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Im Jahr 1995 sahen rund 4 % der Tarifbereiche des Produzierenden Gewerbes in Baden-Württemberg entgeltwirksame Öffnungsklauseln vor, die für 6 % der tariflich gebundenen Beschäftigten angewendet werden konnten. Sechs Jahre später sieht die Hälfte der Tarifbereiche solche Öffnungsklauseln vor, die 81 % der Beschäftigten umfassen.

Die hier vorgenommene Zuordnung der Tarifbereiche in Tarifbereiche mit entgeltwirksamen Öffnungsklauseln, mit Arbeitszeitöffnungsklauseln, solche mit anderen Öffnungsklauseln und ohne Öffnungsklauseln zeigt, dass gerade im Bereich entgeltwirksamer Flexibilisierung eine stark zunehmende Verbreitung im betrachteten Zeitraum verzeichnet werden konnte, was auch darauf zurückzuführen ist, dass eine Reihe von Arbeitszeitflexibilisierungsklauseln eine zumindest indirekte Wirkung auf die Entgelte haben. Als Konsequenz hat die Verbreitung bei den ausschließlichen Arbeitszeitöffnungsklauseln weniger stark zugenommen.

In der Diskussion um den Flächentarifvertrag tauchen immer wieder Forderungen nach einer stärkeren Dezentralisierung auf. Der Beitrag zeigt mit ausgewählten Tarifbereichen jedoch, dass für die Mehrheit der tariflich gebundenen Beschäftigten Abweichungen vom Tarifvertrag bereits verhandelt werden können. Allerdings muss hier die Frage offen bleiben, ob diese Flexibilisierungsmöglichkeiten von den Betrieben tatsächlich genutzt werden und ob sie die erhofften Wirkungen auf die betriebliche Entwicklung haben. Aktuelle Auswertungen des IAB-Betriebspanels legen zudem die Vermutung nahe, dass in vielen Betrieben nicht bekannt ist, ob der angewandte Tarifvertrag Öffnungs- oder Härtefallklauseln vorsieht oder nicht.6 Im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts beschäftigt sich das IAW insbesondere auch mit einer Untersuchung der Wirkungen von Tariföffnungsklauseln. In einer vertiefenden Analyse des IAW-Öffnungsklauseldatensatzes soll zudem mit Hilfe clusteranalytischer Verfahren mehr über die Struktur, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Tarifbereichen in Erfahrung gebracht werden.

1 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit: Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen im Jahr 2004, S. 9.

2 Bispinck, Reinhard: Das deutsche Tarifsystem in Zeiten der Krise – Streit um Flächentarifvertrag, Differenzierung und Mindeststandards, in: WSI-Mitteilungen, 7, 2003, S. 395 – 405.

3 Ein Tarifbereich ist eine räumlich und sektoral abgegrenzte Einheit, in der ein oder mehrere Tarifverträge, wie Mantel-, Rahmen- und Lohntarifverträge, gelten.

4 Strotmann, Harald und Vogel, Alexander: Entwicklung der Tarifbindung baden-württembergischer Betriebe in den Jahren 2000 bis 2003, IAW-Kurzbericht 3/2004. Bechtel, Stephan/ Mödinger, Patrizia/ Strotmann, Harald: Verdienste von rund 1,2 Millionen Vollzeitbeschäftigten im Land durch Tarifvertrag geregelt, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, 8/2004, S. 38 ff.

5 Heinbach, Wolf Dieter: Ausmaß und Grad der tarifvertraglichen Öffnung, in: IAW-Report, 2/2005 S. 57 ff. Vgl. zum Beispiel Kohaut, Susanne/Schnabel, Claus: Tarifliche Öffnungsklauseln: Verbreitung, Inanspruchnahme und Bedeutung, Diskussionspapiere 41, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2006, S. 17.