:: 3/2007

Kinderreichtum – Eine Ausnahme in der neueren Geschichte?

Der Geburtenrückgang in Deutschland ist, wie in den anderen europäischen Staaten und in Nordamerika, weniger das Ergebnis zunehmender Kinderlosigkeit, sondern im Wesentlichen das Ergebnis eines Rückganges der kinderreichen Familien, also der Familien mit drei oder mehr Kindern. In Deutschland ist allerdings die Quote an Mehrkinderfamilien heute besonders gering. Zu diesem Ergebnis kommt der 7. Familienbericht für Deutschland, der im Frühjahr 2006 der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist.

Wer jedoch heute über rückläufige Geburtenzahlen und Mangel an Nachwuchs diskutiert, übersieht vielleicht allzu leicht, dass ein höherer Anteil von kinderreichen Familien in der Gesellschaft historisch eine Ausnahme darstellt. Familien, in denen drei oder mehr Kinder gleichzeitig lebten, waren in Deutschland allein in der Zeit zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts weitverbreitet. In diesem Sinne ist Kinderreichtum ein soziales Phänomen von gerade 100 Jahren.

Frühe Neuzeit: Viele Geburten – Hohe Kindersterblichkeit

Schon vor 100 und 200 Jahren gab es Familien mit vielen und mit wenigen Kindern. Die Durchschnittswerte überdecken dies oftmals. Auch in früheren Jahrhunderten bemühten sich manche Eltern erfolgreich, die Zahl ihrer Kinder zu beschränken1. Dennoch gehörten in der alten Zeit viele Kinder zur Normalität. Die Bauersfrau im Mittelalter bekam durchschnittlich wohl fünf bis sechs Kinder2. Im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit vor dem 17. Jahrhundert waren bis zu zwanzig Geburten in der Ehe nicht selten3. Allerdings gilt es zwischen Geburtenzahl und Kinderzahl zu unterscheiden. Es wurden viele Kinder geboren, aber ein Viertel bis ein Drittel starb vor der Mündigkeit, oftmals sogar mehr. Mangelnde Hygiene, Epidemien, Kriege, Schmutz und Enge der Wohnung trugen zu einer sehr hohen Kindersterblichkeit bei, sodass in vielen Familien nur ein bis zwei Kinder überlebten. Viel mehr hätte die Familie auch kaum aufziehen können. Ein immerwährendes Sterben prägte das Leben in der Familie.

Es ist davon auszugehen, dass in der Frühen Neuzeit die bewusste Geburtenkontrolle nicht das dominante Muster war und die meisten Frauen solange Kinder gebaren, wie es biologisch möglich war. Gleichwohl ist die Geburtenbeschränkung keine Erfindung der Neuzeit. Die Menschen wissen spätestens seit der Antike von Mitteln und Methoden, die Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen4.

In der bäuerlichen Gesellschaft betrachteten die Eltern ihre Kinder vor allem als Arbeitskräfte und Erben. So war ausreichender Nachwuchs einerseits nötig, und sie mussten angesichts einer sehr hohen Mortalität genügend Kinder haben, damit der Fortbestand der Familie gesichert war. Andererseits verfügten die bäuerlichen Familien nicht unbegrenzt über Land, zudem drohten mit der Geburt eines Kindes tödliche Gefahren für das Leben der Mutter und drängende Nahrungsprobleme für die gesamte Familie. Somit war zu vermeiden, dass die Zahl der Kinder, die ernährt werden oder unter welchen der Familienbesitz aufgeteilt werden musste, zu groß wurde. Ähnliche ökonomische Vorgaben trafen auf die städtischen Handwerksbetriebe zu: Das jeweilige Gewerbe, seine Produktionsweise, vorhandener oder fehlender Hausbesitz konnten regulierend auf die Zahl der Kinder wirken. Wer also seine Familie klein halten wollte, fand Mittel und Wege, dies zu verwirklichen. So wurden in Europa bereits seit dem 16. Jahrhundert mehr oder minder wirksame Methoden der Empfängnisverhütung angewandt. Hierzu gehörten das gänzliche Enthalten vom Geschlechtsverkehr oder das Ausdehnen der Stillzeit für geborene Kinder. Weitere Wege, die Zahl der Kinder zu begrenzen, waren das Abtreiben, Töten oder Aussetzen ungewünschter Kinder. Für Chaunu war »das eigentliche Verhütungsmittel des klassischen Europa« aber das Heiratsalter: Früher wie heute wirkt sich jedes Jahr, um welches eine Eheschließung aufgeschoben wird, unmittelbar auf die Kinderzahl aus5. Allerdings wirkt die Verzögerung einer Heirat auf die Zahl der Kinder gegenwärtig bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von rund 80 Jahren ganz anders als in einer Zeit zwischen 1500 und 1700, als die Sterblichkeit von Frauen im Alter von 18 bis 45 Jahren deutlich höher lag.

In der heutigen Zeit wird es immer genügend Jahre geben, eine Familie mit zwei oder mehr Kindern zu gründen. Aber in der alten Zeit war mehr als die Hälfte der neugeborenen Mädchen in Gefahr gewesen, das Heiratsalter gar nicht zu erreichen, und jene, die es erreichten, konnten nur mit einer beschränkten Dauer ihres Ehelebens rechnen. Unter diesen Umständen war es schwierig, überhaupt mehrere Kinder zu gebären.

Eltern, die in der Ehe die Kinderzahl bewusst einschränkten, stammten in der Regel nicht aus ärmlichen Verhältnissen – im Gegenteil: Als Pioniere einer bewussten Geburtenkontrolle erwiesen sich in Westeuropa vor allem das wohlhabende Bürgertum und der englische und französische Hochadel. So berichtet Pfister in seiner Fallstudie über ausgewählte Züricher Familien im 17. und 18. Jahrhundert, dass in der Oberschicht viele Frauen ihre fruchtbare Phase nicht mehr voll ausschöpften, wenn sie bereits zwei lebende Söhne jenseits des durch Tod besonders bedrohten frühen Kindesalters hatten6. Schließlich galt es, den vorhandenen Kindern ein möglichst umfangreiches Erbe zu erhalten, um den sozialen Status der Familie über die Generationen hinweg zu sichern.

Familienplanung ließ sich für die Frühe Neuzeit aber auch für andere soziale Gruppen nachweisen, und zwar in einigen französischen Dörfern oder im katholischen Bayern ebenso wie in ländlichen Regionen mit protestantischer Bevölkerung. Dennoch dürften insgesamt nur wenige Ehepaare die Geburten beschränkt haben. Die Größe und die Struktur der Bevölkerung sind dadurch nicht wesentlich beeinflusst worden. Dies sollte erst ein halbes Jahrhundert später beginnen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts sank zuerst in Frankreich die Fruchtbarkeitsrate merklich. Deutschland und andere europäische Staaten wie beispielsweise England, Schweden, aber auch Italien folgten in einem Abstand von 100 Jahren, etwa ab 1870 (i-Punkt)7.

Im 19. Jahrhundert: Kinderreichtum und beginnender Geburtenrückgang

Im 19. Jahrhundert setzte sich die Geburtenbeschränkung in der Ehe gewissermaßen als Regelverhalten sukzessive durch. Eine Konstante der alten Zeit war, dass, wer heiraten durfte und konnte, auch Kinder bekam. Nachdem die Ehe allgemein zugänglich geworden war, bestimmten zunehmend die individuellen Vorstellungen und Lebensverhältnisse der Eltern die Zahl ihrer Kinder. Der Übergang vollzog sich zunächst langsam und ungleichmäßig vor dem Hintergrund sich ändernder gesellschaftlicher Bedingungen:

  • Die Rechtsordnung löste die Ehe von alten bäuerlichen und zünftischen Beschränkungen und gab sie frei.
  • Durch die wirtschaftliche Entwicklung entstanden Arbeitsplätze und Wohlstand.
  • Die Industrialisierung ermöglichte Einkommen jenseits der alten Einheit von Betrieb und Haus.

Damit entstanden die Voraussetzungen für die Familiengründung in breiten Bevölkerungskreisen, und es wurde vermehrt und vor allem früh geheiratet. Die Geburten wurden unabhängiger vom Nahrungsspielraum und stiegen leicht an. Mit zeitlicher Verzögerung sank die Sterblichkeit insbesondere von Kleinkindern und Jugendlichen. In immer mehr Familien lebten und überlebten mehr Kinder. In der Folge wuchs die Bevölkerung in den deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an. Diese Entwicklung verlief jedoch alles andere als einheitlich: In Preußen nahm die Bevölkerung deutlich zu, in den österreichischen Alpenländern stagnierte sie, und dazwischen lagen die Zuwachsraten beispielsweise in Nordwest- und Süddeutschland. Das Bevölkerungswachstum war dort am höchsten, wo die Ehe freigegeben wurde und bei geringem Heiratsalter geschlossen werden konnte8.

Der Durchbruch der modernen Familienplanung in den deutschen Ländern vollzog sich Ende des 19. Jahrhunderts. Doch war dies nicht sofort beobachtbar, da die Bevölkerung weiterhin wuchs – denn die absoluten Geburtenzahlen blieben relativ hoch –, während die Sterblichkeit nun stärker abnahm. Dies verdeckte zunächst noch eine Entwicklung von epochaler Bedeutung, den Rückgang der Geburten in der Ehe, also die Begrenzung der Kinderzahl durch die Ehepartner. Damit begann die zusammengefasste Geburtenziffer zu sinken, obwohl die Heiratshäufigkeit etwas anstieg und das Heiratsalter leicht sank. Der Rückgang setzte bei den älteren Frauen und den späteren Geburten zuerst ein: Bei den 40- bis 46-Jährigen gingen zwischen 1881/90 und 1901/10 die Zahlen um 25 %, bei den 30- bis 34-Jährigen um 15 % zurück. In Berlin nahm zwischen 1880 und 1900 zwar die Zahl der Erstgeburten noch zu, aber die Zahl der Zweitgeburten um 20 %, der Drittgeburten um 45 % und die der weiteren um fast 60 % ab. Mit anderen Worten: Bereits die Eltern unserer Großeltern hatten im Schnitt erheblich weniger Kinder als deren Eltern9.

Die Entwicklung zeigt große regionale, konfessionelle und schichtspezifische Unterschiede, wenngleich die Verbindung zwischen Wohlstand, Bildungsniveau und Geburtenkontrolle bei der städtischen Bevölkerung unbestritten ist10. Im nationalen Durchschnitt begann in Deutschland der Rückgang um 1895, in einzelnen Regionen aber schon um 1880 oder erst um 1915. Zuerst sanken die Zahlen in den Städten, während sie auf dem Land noch stiegen. In Dienstleistungs- und Verwaltungsstädten war der Rückgang stärker als in Städten mit Schwerindustrie. Schon vor dem allgemeinen nationalen Rückgang unterschieden sich die Regionen in den Kinderzahlen drastisch: Verheiratete Frauen gebaren zwischen 4,4 und 8,4 Kinder. In Gebieten mit hohen Kinderzahlen setzte der Rückgang später und mit geringerer Intensität ein.

Mit Blick auf konfessionelle Unterschiede hatten die Katholiken überdurchschnittlich oft viele Kinder. Sie begannen auch spät, zum Beispiel in Niederbayern 1914, und langsamer die Zahl ihrer Kinder zu verringern. In protestantischen Ehen, die schon früher eher weniger Kinder hatten, wurde die Kinderzahl stärker und effektiver begrenzt, und dies unabhängig von städtischer oder ländlicher Herkunft11. In den jüdischen Familien, vor allem in guten sozialen Positionen, begann der Rückgang besonders früh und entwickelte sich besonders rasch.

Obgleich moderne und traditionale Familientypen nebeneinander existierten, ist offensichtlich, dass sich die moderne Familie mit unterschiedlichem Tempo in allen sozialen Schichten durchsetzte. An Bildung und Wohlstand reiche Eltern begannen früher, die Zahl ihrer Kinder zu verringern als Eltern in wirtschaftlichen Notlagen. Ein Vorreiter der Entwicklung war die in der Stadt lebende bürgerliche Familie. Dazu gehörten der neue Mittelstand, Beamte, freie Berufe, Angestellte. Es folgten die selbstständigen Unternehmer, der alte Mittelstand und die Facharbeiter. Gelernte Arbeiter außerhalb der Schwerindustrie und zumal des Bergbaus begrenzten die Zahl ihrer Kinder früher als ungelernte. Die »respektable« Arbeiterschaft, geleitet vom bürgerlichen Familienideal, betrachtete Kinder nicht mehr als Schicksal und widmete dem einzelnen Kind eine größere Aufmerksamkeit. Die Arbeiterfamilie im Allgemeinen jedoch zog ihre normativen Orientierungen weiterhin aus den traditionellen Moral- und Ordnungsvorstellungen. Ein Beschränken der Zahl der Kinder kam solange nicht in Frage, als Kinder zugleich zusätzliche Verdiener waren. Familie bedeutete für sie in erster Linie eine Wohn- und Essgemeinschaft in einem überaus harten Leben; von Erziehung, Bildung und Ausbildung der Kinder konnte kaum die Rede sein. Erst als die Kinderarbeit abgeschafft wurde, galt »Kindersegen« alles andere als erwünscht, bedeuteten doch Kinder nur einen zusätzlichen Kostenfaktor, der das Elend der Familie vergrößert. Die Arbeiterschaft war also alles andere als einheitlich in ihrem generativen Verhalten.

In Deutschland schränkten besonders Beamte und Angestellte schon früh, wenn auch anfangs langsam, die Zahl ihrer Kinder ein. So lag die Zahl in vor 1825 geschlossenen Ehen bei 6,4, in denen vor 1849 bei 5,1, in denen vor 1874 bei 4,3. Unternehmer und Handwerker folgten dem Trend im Abstand von 25 Jahren. In Göttingen zum Beispiel soll in den Handwerkerfamilien die durchschnittliche Kinderzahl zwischen 1760 und 1860 schon bei zwei bis drei Kindern gelegen haben. Bei den Bauern zeigte sich ein langsamerer Rückgang: Zwischen 1750 und 1799 lag die Fertilität bei 7,1 Kindern, sank für den Zeitraum von 1800 bis 1849 auf 6,3 und erreichte 1850 bis 1874 den Wert von 5,5 Geburten pro Ehe12.

Die Entwicklung beschleunigte sich gegen Ende des Jahrhunderts, blieb aber differenziert: Bei höheren Beamten, Lehrern und freiberuflich Tätigen kamen auf Ehen, die zwischen 1875 und 1899 geschlossen wurden, noch durchschnittlich drei Kinder, aber auf Ehen, die zwischen 1900 und 1914 geschlossen wurden, nur noch 2,5 Kinder. Ehen der städtischen Arbeiterschaft dagegen hatten noch 1939 durchschnittlich 4,4 Kinder. Landarbeiter übertrafen in der gleichen Zeit mit 6,1 Kindern pro Ehe deutlich die selbstständigen Bauern mit 5,4 Kindern. Wesentlich früher und weitaus fortgeschrittener schränkten in Frankreich selbst auf dem Lande die Eltern die Zahl ihrer Kinder ein. So hatten 1911 Bäuerinnen der Gironde oder der Gegend um Bordeaux nur noch 1,93 bzw. 1,86 Kinder im Durchschnitt, und in Paris lagen die Werte mit 1,72 Kindern pro Ehe noch niedriger13.

Im 20. Jahrhundert: Rückgang kinderreicher Familien in der Welt, Deutschland und Baden-Württemberg

Bei der Entwicklung hin zu kleineren Familien mit ein oder zwei Kindern bildet Deutschland keine Ausnahme. Weltweit dürfte in den letzten Jahrzehnten der Anteil kinderreicher Familien an allen Familien gesunken sein. Ein erster grober Indikator ist die zurückgehende zusammengefasste Geburtenzahl in fast allen Staaten14. Berücksichtigt man gleichzeitig den Rückgang der Kindersterblichkeit in den sich entwickelnden Staaten, dann muss ein Rückgang der Geburtenhäufigkeit nicht zwingend zu einem geringeren Anteil der Familien mit drei oder mehr Kindern führen. Da mehr Kinder überleben, sind nicht mehr so viele Geburten notwendig für eine kinderreiche Familie. Allerdings ist besonders in Asien der Rückgang der Geburten so stark, dass er auch zu einem entsprechenden Rückgang kinderreicher Familien geführt haben dürfte. Der deutliche Rückgang ist in Asien vor allem in China, Südkorea, Thailand und Vietnam zu beobachten. Anfang der 1970er-Jahre bekam eine Frau in diesen Ländern durchschnittlich noch vier bis sieben Kinder, drei Jahrzehnte später liegt die entsprechende Zahl oftmals bei nur einem Kind, selten bei mehr als zwei Kindern. Ähnlich haben sich beispielsweise die nordafrikanischen Staaten Tunesien, Marokko und Algerien, aber auch der Iran entwickelt. Die Zahl der Kinder je Frau ist von sechs bis sieben Kindern auf zwei bis drei Kinder gefallen15. Auch in den entwickelten Ländern ist die schon vor Jahrzehnten niedrigere Zahl der Kinder in den Familien noch einmal deutlich gesunken. In Europa und Japan haben Frauen, die 1930 geboren worden sind, im Schnitt zwei bis drei Kinder, in Nordamerika, Australien und Neuseeland drei bis vier Kinder. Die heutige Elterngeneration, die 40- bis 45-jährigen Mütter, hat in der Regel nur noch ein oder zwei Kinder.

Die Entwicklung der zusammengefassten Geburtenrate von Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren, aber auch die endgültige Kinderzahl der Frauen eines Geburtsjahrganges geben den tatsächlichen Rückgang der Mehrkinderfamilien nur ungenau wieder16. Dies zeigt die Entwicklung in Frankreich: Die endgültige Kinderzahl der im Jahr 1960 geborenen Frauen war mit 2,1 genauso hoch wie bei den im Jahr 1900 geborenen Frauen17. Hier überrascht zunächst, dass der Anteil von Familien mit drei oder mehr Kindern nahezu unverändert ist, ja sogar bei den Frauen des Geburtsjahrganges 1960 um einen Prozentpunkt höher lag als bei den Frauen des Geburtsjahrganges 1900. Die jüngeren Frauen haben jedoch seltener fünf oder mehr Kinder und häufiger drei Kinder. Die endgültige Kinderzahl ist vor allem dadurch stabilisiert worden, dass Frauen seltener kinderlos blieben oder nur ein Kind bekamen. Wesentlich einschneidender stellt sich die Veränderung der Familiengröße vom Standpunkt der Kinder aus dar. Treten ausschließlich Familien in das Blickfeld, dann hatten in Frankreich fünf von zehn Kindern der 1900 und 1930 geborenen Mütter mindestens drei Geschwister. Durchschnittlich lebten also vier bis fünf Kinder in der Familie.

Mit wesentlich weniger Brüdern und Schwestern lebten dagegen die Kinder zusammen, deren Mütter 1960 geboren worden sind: Zwei von zehn Kindern hatten noch drei oder mehr Geschwister. Auffallend ist außerdem die Entwicklung hin zu einem Bruder oder einer Schwester oder zu zwei Geschwistern, also zur Familie mit zwei oder drei Kindern.

In Österreich hat sich der Anteil der Frauen mit drei oder mehr Kindern im Beobachtungszeitraum auf weniger als die Hälfte reduziert: er fiel von 42 % bei Frauen des Geburtsjahrganges 1935 auf ungefähr 20 % bei Frauen des Geburtsjahrganges 196418. Im Vergleich dazu stieg die Kinderlosigkeit bei den jüngeren Frauen zuerst allmählich, um dann bei den 1964 geborenen Frauen auf etwa 18 % zu klettern. Weitgehend stabil ist seit der Kohorte von 1940 der Anteil der Frauen mit nur einem Kind. Etwas anders hat sich nach dem U.S. Census Bureau die Familiengröße in den USA verändert. Sechs von zehn Frauen, die in den 1930er-Jahren geboren worden sind, haben mindestens drei Kinder bekommen; zwei von zehn Frauen sogar fünf oder mehr Kinder. Jüngere Frauen mit Geburtsdatum um 1960 sind erheblich seltener Mütter von sehr vielen Kindern: Nur noch drei von zehn Frauen gebaren mindestens drei Kinder, eine von zehn Frauen vier oder mehr Kinder.

In Deutschland hat sich der Rückgang der endgültigen Kinderzahl bei Frauen mit einem Geburtsdatum um die vorletzte Jahrhundertwende bereits weitgehend vollzogen19. Seitdem bekommen in Deutschland die Frauen im Schnitt selten mehr als ein oder zwei Kinder. So sind von den 1956 bis 1960 geborenen Frauen 25 % kinderlos und nur noch 15 % haben mehr als zwei Kinder. Die bislang für einen westdeutschen Geburtsjahrgang niedrigste Kinderzahl wird mit 144 Kindern je 100 Frauen für die 1968 geborenen Frauen geschätzt. Für die nachgeborenen Frauen (1969, 1970) werden mit 146 und 147 Kindern etwas höhere Geburtenhäufigkeiten erwartet20. Es ist abzuwarten, ob dieser leichte Anstieg eine Trendwende ankündigt.

Die Größe der Familie ist damit vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgegangen. Vor 80 Jahren hatten 21 % der Ehepaare mit Kindern mindestens vier Kinder und weitere 17 % drei Kinder. Drei Jahrzehnte später hatten im früheren Bundesgebiet von den verheirateten Eltern nur noch 8 % vier oder mehr Kinder und 14 % drei Kinder. Noch einmal ist der Anteil kinderreicher Ehepaare merkbar seit den 1970er-Jahren gesunken. 2005 lebten nur noch in jeder siebten Familie drei und mehr Kinder.

Betrachten wir neben den Ehepaaren mit Kindern auch die Alleinerziehenden und die nicht ehelichen Paare mit Kindern, dann ist seit 1957 besonders der Rückgang der kinderreichen Familien mit vier oder mehr Kindern auffallend. Ihr Anteil an allen Familien ist um über die Hälfte gesunken, der Anteil der Familien mit drei Kindern nur um etwas mehr als ein Viertel. Darüber hinaus ist Mitte der 1980er-Jahre der Rückgang zum Stillstand gekommen. Seit nunmehr 20 Jahren liegt der Anteil kinderreicher Familien an allen Familien weitgehend unverändert bei rund 13 % (früheres Bundesgebiet) und 12 % (Deutschland seit 1991). Die einschneidenden Veränderungen im generativen Verhalten liegen somit schon Jahrzehnte zurück. Das gilt auch für Baden-Württemberg, wo der Anteil kinderreicher Familien von 24 % (1970) auf 15 % (2005) sank. Allerdings ist Baden-Württemberg heute das Bundesland mit dem höchsten Anteil kinderreicher Familien.

Kinderreichtum: gestern – heute – morgen

In der Frühen Neuzeit waren Fertilität und Mortalität hoch, viele Kinder wurden geboren, sehr wenige Kinder überlebten das 10., 15. Lebensjahr; aber auch viele Mütter starben früh. In den Familien dürften kaum mehr als zwei, vielleicht drei Kinder gleichzeitig gelebt haben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Phase sinkender Mortalität, die Fertilität änderte sich zunächst kaum. Viele Kinder wurden geboren, mehr Kinder überlebten, auch die Eltern lebten länger. Die Familien wurden größer, mehr Familien hatten drei oder mehr Kinder. In den deutschsprachigen Ländern, aber auch im übrigen Europa stieg die Bevölkerung explosionsartig an. Heute und schon seit Jahrzehnten sind Fertilität und Mortalität niedrig. Wenige Kinder werden geboren, fast alle von ihnen überleben ihre Kinder- und Jugendzeit. Grob zusammengefasst waren in Deutschland kinderreiche Familien weitverbreitet allein in der Zeit etwa zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne ist Kinderreichtum ein soziales Phänomen von gerade 100 Jahren.

Und morgen? Eine erste Antwort liefert vielleicht ein Blick auf die Familien, die in Deutschland und Baden-Württemberg heute noch überdurchschnittlich oft kinderreich sind. Drei Typen lassen sich ausmachen (i-Punkt).

  • Familien mit durchschnittlicher bis sehr guter ökonomischer Ausstattung, in denen beide Eltern zumeist über einen höheren schulischen und beruflichen Ausbildungsabschluss verfügen. Oft kommen sie schon selbst aus einer kinderreichen Familie, sie sind eher religiös und wohnen eher auf dem Lande als in der Großstadt.
  • Familien, die fast das Gegenteil zum ersten Typ darstellen: Sie leben in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen, was vor allem auf unzureichende oder fehlende schulische und berufliche Ausbildung der Eltern zurückgeht.
  • Familien mit Migrationshintergrund und mit starker Orientierung an Religion und Herkunftsfamilie.

Gemein ist diesen drei Typen zumeist eine traditionale Aufgabenverteilung: die Frau ist zuständig für Haushalt und Kinder, der Mann für Beruf und Einkommen. Fragwürdig ist, ob Kinderreichtum, wenn es mit einem solchen Familienmodell verbunden wird, künftig wieder häufiger sein wird. In anderen, vor allem nordeuropäischen Staaten haben Eltern häufiger drei oder mehr Kinder als in Deutschland21. Es sind Staaten, die sich durch politische Maßnahmen auszeichnen, welche die Verbreitung von staatlich finanzierten Kinderbetreuungseinrichtungen sowie die Bildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen und Männern erhöhen. Das Ziel dieser Maßnahmen ist nicht die Familie, sondern das Individuum – ungeachtet seines Geschlechtes. Risiken, die mit einer Familiengründung einhergehen, werden über andere gesellschaftliche Bereiche abgesichert. Frauen und Männer sind dadurch unabhängiger von der Familie. Gleichzeitig wird die Entscheidung für Kinder erleichtert, gerade weil die Verantwortung leichter zu tragen ist. Es mag paradox klingen, doch je unabhängiger Frauen und Männer in ihren Lebensentwürfen von der Institution Familie sind, je geringer also die Opportunitätskosten22 etwa bei der Bildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung sind, desto eher scheinen sie bereit zu sein, eine große Familie zu gründen und sich damit langfristig an Familie zu binden.

1 Pfister, Ulrich: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800. München 1994.

2 Russel, Josiah C.: Die Bevölkerung Europas 500–1500, in: Borchardt, Knut (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsgeschichte. Band 1: Mittelalter. NewYork/Stuttgart 1983, S. 13 ff.

3 Weber-Kellermann, Ingeborg: Die Familie. Frankfurt/Main 1996, S. 32.

4 Mackenroth, Gerhard: Bevölkerungslehre. Berlin 1953.

5 Chaunu, Pierre: La civilisation de l’Europe classique. Paris 1966, S. 204.

6 Pfister, Ulrich: Die Anfänge einer Geburtenbeschränkung in Europa: Eine Fallstudie ausgewählter Züricher Familien im 17. und 18. Jahrhundert. Bern 1985.

7 Pounds, Norman J. G.: An historical geography of Europe 1800–1914. Cambridge 1985.

8 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1993, S. 9 ff. (Zitierweise: Nipperdey, T.: Deutsche Geschichte 1866–1918).

9 Nipperdey, T.: Deutsche Geschichte 1866–1918, S. 23.

10 Perrot, Michelle: Geschichte des privaten Lebens. Band 4: Von der Revolution zum Großen Krieg. Frankfurt/Main 1992, S. 154 ff. und Nipperdey, T.: Deutsche Geschichte 1866–1918, S. 25.ff.

11 Gleichwohl gab es regionale Unterschiede. So hatten beispielsweise auch überwiegend protestantische Gebiete im heutigen Baden-Württemberg bis noch in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts eine deutlich überdurchschnittliche Fruchtbarkeit.

12 Nipperdey, T.: Deutsche Geschichte 1800–1866. München 1993, S. 109 und Sieder, Reinhard: Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt 1987, S. 110.

13 Gestrich, Andreas/Krause, Jens-Uwe/Mitterauer, Michael: Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, S. 516 ff.

14 Indikator ist die zusammengefasste Geburtenrate der Frauen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren eines Kalenderjahres. Die Bevölkerungswissenschaft spricht hier auch von der Periodenfertilität, Population Division of the Department of Economic and Social Affairs of the United Nations Secretariat: World population prospects: The 2004 revision. Highlights. New York 2005.

15 In allen arabischen Ländern gibt es offenbar bereits mehr oder weniger ausgeprägt den Wunsch und die Möglichkeit, seine Familie klein zu halten; Burguière, André/Klapisch-Zuber, Christian/Segalen, Martine/Zonaben, Francoise (Hrsg.): Geschichte der Familie. Band 3. Neuzeit. Frankfurt/Main 1997, S. 463 sowie Abbasi-Shavazi, Mohammad J.: The fertility revolution in Iran, in: Population et Sociétés 373/2001.

16 Die Bevölkerungswissenschaft bezeichnet die endgültige Kinderzahl von Frauen eines Geburtsjahrganges auch als Kohortenfertilität.

17 Toulemon, Laurent: How many children and how many siblings in France in the last century?, in: Population et Sociétés 374/2001.

18 Sobotka, Tomáš: Fertility in Austria: An overview, in: Vienna Yearbook of Population Research 2005, Wien 2005, S. 243 ff.

19 Schwarz, Karl: 100 Jahre Geburtenentwicklung, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 4/1997, S. 481 ff., Council of Europe: Recent demographic developments in Europe 2004. Strasbourg 2005.

20 20 Dorbritz, Jürgen: Geburtenentwicklung in Deutschland. Nur Tempoeffekte, aber kein Babyboom, in: BIB-Mitteilungen 2/2004, S. 10 ff.

21 Siehe Eggen, Bernd/Rupp, Marina (2006): Kinderreiche Familien, Wiesbaden.

22 Opportunitätskosten der Erwerbsunterbrechung umfassen unter anderem: entgangenes Lohneinkommen, Humankapitalverlust und Verlust an Karrieremöglichkeiten.