:: 7/2007

Standpunkt: Zu wenig Arbeit und zu wenig Arbeitskräfte?

In jüngster Zeit häuften sich im Fernsehen, im Rundfunk und in der Presse sowie in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussionen Katastrophenszenarien über mögliche Versorgungsengpässe für die künftigen Generationen: Zu wenig Arbeit heute und zu wenige Arbeitskräfte in Zukunft, zu wenige Kinder seit Jahren und morgen zu viele Ältere. Die einsamen Rufer in den 80er-Jahren haben es in die Medien und in die Köpfe geschafft. Die heute eher Besonnenen finden sich nun, so möchte man meinen, im Club der Ignoranten wieder. Selbst ein nur kurzer, unverstellter Blick in die Vergangenheit könnte zur Versachlichung und Beruhigung der Diskussion beitragen.

Erwerbsfähigenpotenzial von heute gleicht dem von 1950

Um 1950 waren unter 100 Landesbewohnern 67 im erwerbsfähigen Alter – definiert als Menschen im Alter von 15 bis 65 Jahren. In den Zeiten des Wirtschaftswunders und jenen Jahren als viele Familien sich ihre in der Kriegs- und Nachkriegszeit hintan gestellten Kinderwünsche erfüllten und die Frauen immer früher heirateten, sank das Erwerbsfähigenpotenzial auf 65 von 100 der Bevölkerung, um dann in einer lang anhaltenden Konsolidierungsphase auf über 70 anzusteigen. Heute ist das prozentuale Erwerbsfähigenpotenzial fast genauso hoch wie vor einem halben Jahrhundert. Bis 2025 wird das Potenzial auf 63 je 100 der Landesbevölkerung sinken, wenn sich die Entwicklung wie gehabt fortsetzt; damit stände das Land aber immer noch besser da als zum Beispiel um das Jahr 1900.

Von 100 der Erwerbsfähigen1 gingen in den frühen 50er-Jahren 84 tatsächlich einem Erwerb nach. Im Gleichklang mit der konjunkturellen Entwicklung und den Wellen der Kriegsflüchtlinge sank und stieg die Quote auf heute 72 von 100. Wie sie sich langfristig entwickeln wird, kann nur mit Unsicherheit gesagt werden. Zu erledigende Arbeit ist in Anbetracht der technischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklung genügend vorhanden. Und wenn sowohl die gesetzlichen wie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmten, dürften die Arbeitsplätze auf absehbare Zeit auch nicht ausgehen.

Von der quantitativ demografischen Seite her scheinen derzeit Potenziale eher brach zu liegen, denn heute ist weniger als die Hälfte der Bevölkerung erwerbstätig. Das hat viele, aber kaum demografische Gründe. Lange Ausbildungszeiten, Frühverrentungen, Arbeitsplatzverlagerungen und das schlichte »Es-nicht-nötig-zu-haben« sind die bestimmenden Faktoren. Auf 100 Erwerbstätige kommen daher heute 111 »zu Versorgende«, dass sind 7 mehr als im langjährigen Durchschnitt. Unter diesem Gesichtspunkt sind weder die sinkenden Kinderzahlen noch die wachsende Zahl älterer Menschen das Problem, sondern der aktuelle Mangel an Arbeitsplätzen für die nichterwerbstätigen Erwerbsfähigen. Heute sind das 40 je 100 Erwerbstätige, 1955 waren es gerade einmal 21.

Von der Agrargesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft?

Um 1950 zählten noch 27 von 100 Erwerbstätigen zu den landwirtschaftlichen, heute nur noch 2 von 100. Ebenfalls um 1950 wurden nur 28 von 100 Erwerbstätigen den Dienstleistungsbereichen zugeordnet, heute 60 von 100. Diese Tatsachen führten nicht selten zur Aussage, dass sich Baden-Württemberg zwar langsam aber deutlich von einer Agrargesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickle. Ganz richtig ist das nicht. Eine Agrargesellschaft war das Land bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Danach entwickelten sich sowohl Baden wie Württemberg vergleichsweise schnell zu industriell geprägten Gebieten, was sie auch heute noch sind. Verändert hat sich die Produktivität. Heute produziert ein Landwirt dank ertragreicherer Pflanzensorten, erfolgreicher Tierzucht und betriebswirtschaftlicher Erfahrungen das 10- bis 20-fache seines Kollegen der 50er-Jahre. Damals trug ein Erwerbstätiger in der Landwirtschaft dazu bei, 8 Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen, heute tut er dies für mehr als 100. Diese enormen Produktivitätssteigerungen und die stagnierenden oder gar sinkenden Preise ließen den Beitrag zur landesweiten Bruttowertschöpfung – rechnerisch – auf 0,8 % sinken. Diese 0,8 % führen nicht selten zu einer falschen Einschätzung des objektiven Nutzens der Landwirtschaft. Dazu meinte in den 80er-Jahren der DIW-Analytiker Stäglin: »Man kann sagen: Jeder Sechste lebt in Baden-Württemberg von der Automobilindustrie, aber eines ist sicher: jeder Erste lebt von der Landwirtschaft.«2

Baden-Württemberg war und ist ein Industrieland

Ähnliche Rationalisierungserfolge hatte auch das Verarbeitende Gewerbe. So wurden zum Beispiel 1951 in der damaligen Bundesrepublik3 von den 212 000 Beschäftigten der Automobilindustrie unter anderem 0,3 Mill. Pkw und 93 000 Lkw hergestellt; 2005 produzierten die nun 800 000 Beschäftigen der deutschen Automobilindustrie 5,9 Mill. Pkw und 300 000 Lkw. Ähnliches gilt für elektronische Datenverarbeitungsmaschinen. Gewicht und Volumen sowie Rechnerleistung und Speicherkapazität eines Laptops entsprechen dem von ganzen Rechenzentren der 70er-Jahre.

Dass Baden-Württemberg vor allem ein Industrieland ist und wohl bleiben wird, zeigt sich auch in der Tatsache, dass trotz der Rationalisierungserfolge über nun fünf Jahrzehnte hinweg einem Erwerbstätigen im Produzierenden Gewerbe – rein rechnerisch und ohne Berücksichtigung der für den Export zusätzlich geschaffenen Güter – fast konstant fünf Baden-Württemberger gegenüberstehen. Das hieße auch, dass die Versorgung mit Verbrauchs- und Investitionsgütern sowie mit Bauleistungen bei den immer günstiger werdenden Preis-Leistungs-Verhältnissen und den immer umfangreicheren Angeboten gewährleistet scheint.

Dienstleistungen: Trotz Rationalisierung höhere Versorgungsdichte

Eine völlig andere Entwicklung vollziehen die Dienstleistungsbereiche. Trotz des oft beklagten Ladensterbens und des Arbeitsplatzabbaus in großen Transportunternehmen sinkt das Zahlenverhältnis von Einwohnern je Erwerbstätigen im Handel und Verkehr. Das heißt, die personelle Versorgungsintensität steigt. 1950 hatte in Baden-Württemberg ein Erwerbstätiger im Handel oder Verkehr – wieder rein rechnerisch – für 16 Landesbewohner seine Dienste erbracht, heute sind es nur noch 10. Noch deutlicher wird der Trend zur Dienstleistungsgesellschaft, unschön auch Tertiarisierung genannt, bei den sonstigen Dienstleistungen wie Banken und Versicherungen, Gesundheits- und Bildungswesen, Verwaltungen oder Pflegedienste. Diese Wirtschaftssektoren werden insgesamt immer personalintensiver. Vor einem halben Jahrhundert musste einer der dort Beschäftigten 13 Baden-Württembergern seine Dienste anbieten, heute nur noch Fünfen. Zur Verdeutlichung seien die Ärzte- und Apothekerdichten angeführt: Heute hat ein in Baden-Württemberg niedergelassener Arzt im Durchschnitt 270 Menschen zu versorgen, um 1950 waren es 636.

Durchschnittliche Anzahl der zu versorgenden Einwohner

um 1950um 1975um 2005
Ärzte640530270
Apotheker3 7002 5001 650

Ähnlich entwickelte sich die Versorgungsdichte bei Apothekern, Rechtsanwälten oder Dienstleistungen für Unternehmen. Unübertroffen ist jedoch die Telekommunikation. Zum Beispiel: Heute dauert der Versand eines Rundbriefs (Newsletter) an weltweit 10 000 Kunden wenige Minuten, wenn alle Adressen zum Beispiel in MS-Office vorliegen. Per gelber Post wäre ein halbes Dutzend Menschen zwei Tage lang mit Drucken, Falzen, Sortieren, Kuvertieren, Beschriften, Frankieren und Kontrollieren beschäftigt gewesen.

Fazit

Eines machen die wenigen hier dargestellten Daten deutlich: Der Verlust von Arbeitsplätzen in einem Wirtschaftsbereich wurde – jedenfalls in Baden-Württemberg – durch den Gewinn von Arbeitsplätzen in anderen Bereichen sogar überkompensiert. Da diese Entwicklungen sehr stetig ablaufen und keine spontanen Brüche stattfanden, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Gesellschaft tatsächlich zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. Weiter darf angenommen werden, dass bei Fortsetzung der Trends, das heißt einem sich noch verbessernden Angebot an agrarischen Produkten sowie an Waren und Dienstleistungen, die befürchteten Vorsorgungsengpässe kaum zu erwarten sind. Die Probleme, vor denen insbesondere die hiesige Gesellschaft steht, sind: die Situation nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen, Lösungen für die zu erwartenden Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt zu suchen und diese umzusetzen.

1 Damals definiert als Personen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren; Wegen der längeren Ausbildungszeit zählt man heute die Gruppe der 20- bis 65-Jährigen zu den Erwerbsfähigen.

2 Das sagte der langjährige Vorsitzende der Deutschen Statistischen Gesellschaft in den 80er-Jahren in einem Vortrag vor Ministerialbeamten und Statistikern im Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg.

3 Ohne Saarland und Berlin (West).