:: 4/2008

Überschuldung privater Haushalte: Kein Thema in Baden-Württemberg?

Werkstattbericht zur Überschuldungsstatistik

In jüngster Vergangenheit greifen die Boulevardmedien immer wieder das Thema der »Überschuldung von Privatpersonen« auf. Anhand von Einzelschicksalen führt eine emotionale Berichterstattung der Allgemeinheit ein Problem vor Augen, das von einer breiten Öffentlichkeit gern als Privatangelegenheit von Personen eingestuft wird, die nicht mit Geld umgehen können. Was geschehen kann, wenn zahlreiche Privathaushalte ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen (können), zeigte 2007 in eindrucksvoller Weise die Immobilienkrise. Ausgelöst durch überschuldete Immobilienbesitzer in den USA erzitterten weltweit die Finanzmärkte.

Bundesweit vergleichbare Informationen, die vonseiten der amtlichen Statistik zur Überschuldungsthematik bereitgestellt werden können, beschränken sich bisher auf die Insolvenzstatistik. Um die Überschuldungssituation privater Haushalte umfassend zu untersuchen, reicht diese Datenlage jedoch bei Weitem nicht aus. Daher wird im Auftrag des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf der Grundlage des § 7 BStatG eine freiwillige Erhebung durchgeführt, die auch die sozio-ökonomischen Hintergründe erfragt.

Entschuldung von überschuldeten Haushalten

Mit der Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens im Jahr 1999 rückte in Deutschland die private Überschuldung erstmals vermehrt ins öffentliche Blickfeld. Dieses Verfahren ermöglicht Privatpersonen in einem Gerichtsverfahren die Forderungen ihrer Gläubiger neu zu ordnen und sich nach einer 6-jährigen1 Wohlverhaltensphase von den nicht beglichenen Schulden befreien zu können.

Wie die Tabelle zeigt, haben in Baden-Württemberg seit Inkrafttreten der Insolvenzordnung bis zum 30. September 2007 rund 80 000 Privatpersonen die Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens beantragt. Davon wurden 60 000 Verfahren eröffnet. In knapp 17 000 Fällen reichte das Vermögen des Schuldners nicht aus, um auch nur die Verfahrenskosten zu decken. Diese Anträge wurden mangels Masse abgewiesen. In gut 3 000 Fällen konnte die Eröffnung durch Annahme eines gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans abgewendet werden.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass auch im »reichen« Südwesten Menschen in eine Schuldenfalle geraten können, aus der sie aus eigener Kraft nicht wieder herauskommen. Welche Umstände jedoch dazu führten, dass sich Personen in aussichtslosen finanziellen Situationen wiederfinden, und ob bestimmte gesellschaftliche Gruppen eher »gefährdet« sind, darüber lagen bisher keine fundierten Daten vor.

Blackbox: Zahl der überschuldeten Personen in Bund und Land

Bereits die Frage nach der Zahl der überschuldeten Personen im Land deckt eine Datenlücke auf. Zwar wird immer wieder von bundesweit 3 Mill. verschuldeten Haushalten gesprochen, diese Zahl beruht jedoch nicht auf Erkenntnissen der amtlichen Statistik, sondern auf Expertenschätzungen. Einige Bundesländer haben für die landesinterne Sozialberichterstattung eine eigene »Landesstatistik«2 angeordnet, die Angaben zur und über die Überschuldungssituation privater Haushalte liefert. Die Daten der einzelnen Landesstatistiken sind jedoch weder vollständig kompatibel noch flächendeckend um als Summe ein aussagefähiges, belastbares Bundesergebnis bilden zu können.

Für eine bundeseinheitliche Statistik existiert derzeit keine gesetzliche Grundlage. Um trotzdem kurzfristig objektive und bundesweit vergleichbare Daten zu erhalten, die auch verlässliche Aussagen über die sozio-ökonomischen Hintergründe der überschuldeten Personen, über Ursachen für die Überschuldung und über die Hauptschuldner ermöglichen, führt die amtliche Statistik im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eine Befragung nach § 7 Absatz 1 Bundesstatistikgesetz durch.

Informationsquelle im Land: 84 Schuldnerberatungsstellen

Bundesweit wurden rund 1 000 Schuldnerberatungsstellen3 gebeten, freiwillig an der Überschuldungsstatistik mitzuwirken. Um den Aufwand bei dieser Statistik für alle Beteiligten so gering wie möglich zu halten, wurde ein vollelektronisches Verfahren angestrebt. Dafür benötigen die Beratungsstellen eine Software zur elektronischen Aktenverwaltung, deren Schnittstelle eine Datenübermittlung über das Internet mit dem Verfahren eSTATISTIK.core an die Statistischen Ämter zulässt. Das Statistische Bundesamt hat Softwarehäuser über die Statistikvorgaben informiert und die Schnittstellen (nicht die Software selbst) überprüft und zertifiziert. 4

Im Januar 2007 nahm das Statistische Landesamt Baden-Württemberg erstmals mit 84 Schuldnerberatungsstellen im Land Kontakt auf. Die geplante Statistik wurde per E-Mail kurz skizziert, der Fragenkatalog vorgestellt und die Auswertungsmöglichkeiten und die daraus zu gewinnenden neuen Erkenntnisse erläutert.

Im Laufe der nächsten Monate meldeten sich Mitarbeiter von 39 Schuldnerberatungsstellen beim Statistischen Landesamt. Obwohl 16 Berater einer bundeseinheitlichen Statistik positiv gegenüberstanden, sagten lediglich 8 Beratungsstellen ihre Teilnahme an dieser freiwilligen Erhebung zu. Ein Großteil (31 Schuldnerberatungsstellen) konnte oder wollte nicht an der Überschuldungsstatistik mitwirken. So verfügten beispielsweise einige Schuldnerberatungsstellen nicht über eine zertifizierte Software, sondern nutzten teilweise schon seit Längerem eigene Programme. Von Beratungsstellen, die über eine zertifizierte Software verfügen, nutzen 5 die Programme nur sehr selektiv. Dies bedeutet, dass nicht über jede beratene Person sofort eine elektronische Akte angelegt wird. Bei 8 anderen Beratungsstellen fehlte das Statistikmodul, und soll – aus Kostengründen – auch in absehbarer Zeit nicht beschafft werden.

Von 13 Beratungsstellen wurde mitgeteilt, dass sich nach ihrer Einschätzung durch die Statistik der Erfassungsaufwand erhöhen würde. Vor dem Hintergrund der engen personellen Ausstattung können keine zusätzlichen Verwaltungsaufgaben übernommen werden, ohne dass die Beratung der Hilfesuchenden darunter leidet, so argumentierten 8 Beratungsstellen. 5 Stellen bezweifelten die Aussagekraft einer freiwilligen Erhebung und verzichteten daher auf die Teilnahme.

Schlussendlich haben 3 Beratungsstellen aus Baden-Württemberg die Aufzeichnungen ihrer elektronischen Akten über e.STATISTIK.core der amtlichen Statistik zur Verfügung gestellt. Weitere 11 Schuldnerberatungsstellen aus dem Land übermittelten dem Statistischen Landesamt Informationen aus ihren internen Statistiken. Für eine Auswertung liegen damit Daten von knapp 3 000 Ratsuchenden vor. Aus diesen Mitteilungen soll im Folgenden eine Skizze der Überschuldungssituation der privaten Haushalte in Baden-Württemberg entworfen werden, in der klaren Erkenntnis, dass die Auswertung nicht auf einer repräsentativen Statistik beruht, und das zugrunde liegende Datenmaterial dadurch nur eingeschränkt aus-sagefähig ist.

Die Menschen hinter den Schulden

Wie sieht die typische Klientel der Schuldnerberatungsstellen aus? Die Anzahl der Frauen und Männer, die eine der teilnehmenden Schuldnerberatungsstellen aufsuchten, wichen nur unwesentlich voneinander ab. So scheint die Bereitschaft sich in der finanziellen Problemsituation professionelle Hilfe zu holen, nicht geschlechtsspezifisch zu sein. Hauptsächlich Menschen in ihrer Lebensmitte nutzen das Beratungsangebot besonders häufig, um aus der Schuldenfalle zu entkommen. Knapp 40 % der Ratsuchenden waren zwischen 36 und 50 Jahre alt. Jeweils rund 20 % aller beratenen Personen gehörten zur Altersgruppe 26 bis 35 Jahre (22,5 %) bzw. zwischen 51 und 65 Jahre (19 %). Ein Vergleich der Anteile der Altersgruppen der Ratsuchenden mit ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung zeigt, dass die Altersgruppen 26 bis 35 Jahre und 36 bis 50 Jahre überproportional häufig das Angebot der Schuldnerberatungsstellen nutzten. Jüngere Menschen unter 25 Jahren gehörten seltener zur Klientel der Schuldnerberater, als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht, sie machten nur einen Anteil von gut 8 % der beratenden Personen aus. Personen über 65 Jahren suchten noch seltener einen Rat in Schuldenfragen.

Abweichend vom Bundesergebnis5, wonach fast die Hälfte der beratenden Personen allein lebt, sind in Baden-Württemberg Singlehaushalte seltener »Kunden« der Schuldnerberatungsstellen (28,7 %), auch seltener als es ihr Anteil an allen Haushalten vermuten lässt (36,8 %). Gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung (5,7 %) suchten auffällig oft geschiedene Personen Hilfe beim Ordnen ihrer finanziellen Probleme bei den Beratungsstellen (26 %). Dagegen benötigten Personen, die in Haushalten ohne Kinder lebten, eher selten professionelle Anleitung zum Regeln ihrer Schulden. Während in Baden-Württemberg in 65,9 % der Haushalte keine Kinder leben, machte ihr Anteil an der Klientel der Schuldnerberatungsstellen nur 32,9 % aus.

Mehr als die Hälfte der beratenen Personen war nicht erwerbstätig oder arbeitslos. Gerade einmal 33 % gingen einer regelmäßigen Beschäftigung nach. Jede vierte Person bezog Arbeitslosengeld II. Nur bei 42,5 % der Personen, die eine Schuldnerberatungsstelle aufsuchten, war die Haupterwerbsquelle Lohn oder Gehalt.

Start in die Schuldenkarriere

Nach ihrer persönlichen Einschätzung zu den Gründen befragt, die zu ihrer finanziellen Misere führten, nannten die Ratsuchenden besonders häufig »Schwierigkeiten bei der Wirtschaftsführung« (27,3 %). Das Angebot des Handels, auf Darlehensbasis zu kaufen bzw. der Banken, das Konto zu überziehen, verführt oftmals dazu, mehr Geld auszugeben, als eingenommen wird. So kann persönliche Fehleinschätzung der eigenen wirtschaftlichen Situation gepaart mit übersteigerten Konsumwünschen der Einstieg in eine Überschuldungskarriere sein. Viele private Haushalte finanzieren kurz- und langlebige Konsumgüter durch Aufnahme von Krediten vor. Dies funktioniert solange problemlos, wie die fälligen Zahlungsverpflichtungen aus dem verfügbaren Einkommen bezahlt werden können. Wenn jedoch durch unerwartete Schicksalsschläge im persönlichen oder beruflichen Bereich das Budget sinkt, reichen die Einnahmen oft nicht mehr aus um die Ausgaben zu decken, dann wird schnell aus dem »ver«schuldeten Haushalt ein »über«schuldeter Haushalt. Als weitere Auslöser für die Überschuldung nannten die beratenen Personen Arbeitslosigkeit (24,6 %), Trennung (13,3 %) und Krankheit (11,6 %).

Die Ratsuchenden hatten gegenüber relativ wenigen Gläubigern finanzielle Verpflichtungen. Fast 42 % der beratenen Personen standen bei weniger als 5 Gläubigern in der Kreide. Nur 10 % der überschuldeten Personen hatte sich so »verzettelt«, dass mehr als 16 Gläubiger finanzielle Ansprüche erhoben.

Ein Drittel der Ratsuchenden befand sich zu Beratungsbeginn mit weniger als 10 000 Euro bei seinen Gläubigern im Rückstand. Bei gut 50 % lag die Höhe der Schulden zwischen 10 000 und 50 000 Euro. Lediglich bei 6,4 % überstiegen die finanziellen Verpflichtungen 100 000 Euro.

Wie geht es weiter?

Die Zukunft der Überschuldungsstatistik ist noch ungewiss. Das Gesetzgebungsverfahren, das für die Installation einer Bundesstatistik mit Auskunftspflicht notwendig ist, befindet sich noch in den Anfängen. Die politischen Entscheidungsträger sind sich noch nicht einig, welches Ressort federführend tätig werden soll, und damit die Kostenverantwortung zu tragen hat.

Die ersten Ergebnisse dieser freiwilligen Erhebung und das große Presseecho tragen vielleicht dazu bei, dass die wichtige Arbeit der Schuldnerberatungsstellen bei der Begleitung von überschuldeten Personen in ein Leben ohne Schulden die gebührende Beachtung findet. Die Erkenntnisse, die die Überschuldungsstatistik liefert, könnten als Grundlage für Präventionsmaßnahmen dienen, sodass Personen erst gar nicht in den Strudel der Schuldenspirale geraten. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, ist es bestimmt günstiger Schuldnern rechtzeitig – das heißt bevor sie zahlungsunfähig werden – Hilfestellungen zu geben, als sie das Verbraucherinsolvenzverfahren durchlaufen zu lassen und die Zahlungsausfälle abzuschreiben.

Die Erfahrungen, die bei der Durchführung der »§ 7-Erhebung« gewonnen wurden, können dazu genutzt werden die Auswertungsmöglichkeiten weiter zu verfeinern, um der interessierten Öffentlichkeit, Politik, Wissenschaft und auch den Schuldnerberatungsstellen Fakten zur Verfügung stellen zu können.

1 Bei Verfahren, die vor dem 1. Dezember 2001 eröffnet wurden, war eine 7-jährige Wohlverhaltensphase einzuhalten.

2 Landesstatistiken zur Überschuldungssituation privater Haushalte gibt es in Schleswig-Holstein, Hamburg, Thüringen und Nordrhein-Westfalen. Rheinland-Pfalz und Brandenburg wollen nachziehen.

3 Für die Erhebung wurden nur Beratungsstellen ausgewählt, die unter der Trägerschaft der Wohlfahrts- und Verbraucherverbände oder der Kommunen stehen oder Mitglied in einem dieser Verbände sind. Nicht einbezogen wurden die privaten oder kommerziellen Beratungsstellen.

4 8 Softwareanbieter erfüllen derzeit die Statistikvorgaben.

5 Vgl. Angele, Jürgen: Überschuldung privater Haushalte im Jahr 2006, in Wirtschaft und Statistik 10/2007, S. 948 ff.