:: 3/2009

Wie viele Ausbildungsverträge wurden 2007 in Baden-Württemberg neu abgeschlossen?

Eine Methodenfrage der Berufsbildungsstatistik

Würde man das allseits bekannte Radio Eriwan mit der Frage konfrontieren, welche von drei Zahlen die Richtige sei, würde man zur Antwort erhalten: »Im Prinzip alle drei – abhängig von Zeit und Definition«.

Auslöser der Frage nach der »richtigen« Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge ist der Umstand, dass die Bundesgesetzgebung im neuen Berufsbildungsgesetz 20051 vorgeschrieben hat, ab dem Jahr 2007 die Erhebung zur Berufsbildungsstatistik von der bisherigen Form der Aggregatserhebung pro Ausbildungsberuf auf eine Individualerhebung pro Ausbildungsverhältnis umzustellen. Gleichzeitig wurde der Merkmalskatalog erweitert: Neu hinzu kamen Merkmale wie Ort der Ausbildungsstätte, berufliche Vorbildung des Auszubildenden, Monat und Jahr des vertraglichen Beginns und Ende der Ausbildung oder Monat und Jahr einer etwaigen vorzeitigen Lösung des Ausbildungsverhältnisses. Diese neue Form der Erhebung bringt einerseits erhebliche Vorteile bei der Analyse von soziodemografischen Merkmalen der Auszubildenden wie Alter, Geschlecht, Nationalität oder schulische Vorbildung2 und deren mögliche Verknüpfungen untereinander. Sie birgt andererseits aber auch die Gefahr, dass durch den Wechsel der Erhebungsform für ein und denselben Begriff plötzlich unterschiedliche Werte ausgewiesen werden können. Deshalb stellt sich die Frage: Wurden 2007 im Lande 80 801, 81 011 oder gar 85 571 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen?

Neuer Merkmalsträger ist der Auszubildende und nicht mehr der anerkannte Ausbildungsberuf

Seit 1977 weist die amtliche Statistik in Baden-Württemberg Daten über die Ausbildungssituation in den Ausbildungsbereichen Industrie und Handel, Handwerk, Öffentlicher Dienst, Land- und Hauswirtschaft sowie in den Freien Berufen aus. Damals beschränkten sich die Auswertungen lediglich auf den Bestand der Auszubildenden in den anerkannten Ausbildungsberufen nach ihrem Geschlecht, in welchem Ausbildungsjahr sie sich befanden und wie viele Prüfungsteilnehmer mit Erfolg ihre Ausbildung absolviert hatten. Fragen nach der politisch interessanten Zahl der jährlichen Neuabschlüsse konnten ab 1983 von der Statistik beantwortet werden. Daten über die Nationalität der Auszubildenden und ihre schulische Vorbildung standen erst seit 1986 zur Verfügung und Aussagen über vorzeitig gelöste Ausbildungsverhältnisse wurden ab dem Jahr 1993 getroffen.

All diese Merkmale wurden zum Stichtag der Erhebung, dem 31. Dezember des Berichtsjahres, pro Ausbildungsbereich und -beruf erhoben, aufbereitet und ausgewertet. Einzelne Ergebnisse, beispielsweise zur Nationalität oder schulischen Vorbildung der Auszubildenden, konnten so nicht gewonnen werden. Es war nur möglich, Aussagen über die Zahl der Lehrlinge insgesamt mit ausländischem Pass pro Einzelberuf zu treffen. Differenzierte Aussagen über Nationalitäten oder die schulische Vorbildung waren nur auf der Ebene der Berufsbereiche/Berufsgruppen möglich. Diese Form der eingeschränkten Aussagen wurde mit der Umstellung auf Individualdatensätze 2006 aufgehoben. Ab dem Berichtsjahr 2007 ist der Auszubildende der Merkmalsträger.

Für die Frage, welche Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverhältnisse die Richtige sei, ist diese Umstellung von maßgeblicher Bedeutung. Ihre Beantwortung hängt zum einen vom Berichtsjahr ab und zum anderen ganz wesentlich von der Definition des Begriffs »Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge«.

Definition der Neuabschlüsse, wie sie bis zum Berichtsjahr 2006 Gültigkeit hatte

Wie beschrieben, waren die Ergebnisse der Erhebungen bis 2006 reine Aggregate, die zum Stichtag 31. Dezember des jeweiligen Berichtsjahres erhoben wurden, obwohl eigentlich eine Vermengung von Zeitpunktbetrachtungen mit Zeitraumbetrachtungen stattgefunden hat. So sind die Bestände der Ausbildungsverhältnisse (Lehrlinge im 1., 2., 3. und 4. Ausbildungsjahr) eine Inventur zum Stichtag. Neuabschlüsse von Ausbildungsverhältnissen finden jedoch im Laufe des Berichtsjahres statt und werden als Gesamtzahl zum Stichtag festgehalten und gemeldet, unter der Voraussetzung, dass sie am Stichtag noch Bestand haben (Definitionen siehe Tabelle).

Für die Berechnung gilt

DN2006=Nt0 – (LNt0 + LNprobt0) – nKzVt0
DN2006=die bis zum Berichtsjahr 2006 gültige Definition der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge
N=Summe aller neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im jeweiligen Berichtsjahr
LN=Summe der vorzeitigen Lösungen von Ausbildungsverträgen im jeweiligen Berichtsjahr
LNprob=Summe der vorzeitigen Lösungen von Ausbildungsverträgen in der Probezeit des jeweiligen Berichtsjahres
t 0=aktuelles Jahr
nKzV=neu abgeschlossene Kurzzeitverträge, die im Berichtsjahr beginnen und enden

Berechnet man auf Basis dieser Methode die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge für das Berichtsjahr 2007, so ergibt sich der Wert von »80 801«. Aber ist dieser Wert richtig? Berücksichtigt er alle neu zustande gekommenen Ausbildungsverhältnisse oder »unterschlägt« er eventuell beachtenswerte Größenordnungen? Oder weist er gar zu viele Neuabschlüsse aus? Ist eventuell die gewählte Definition zu hinterfragen?

Die Antwort ist klar und eindeutig: Sowohl Definition als auch der Wert ist richtig – wenn man die Erhebungsform, die bis 2006 Gültigkeit hatte, zugrunde legt. Es werden bei dieser Berechnungsmethode allerdings die Ausbildungsverhältnisse, die im Berichtsjahr sowohl begonnen als auch geendet haben, nicht berücksichtigt. Hier kann es sich um vorzeitige Lösungen von Vertragsverhältnissen als auch um sogenannte Kurzzeitausbildungen handeln, zum Beispiel Anschlussverträge mit Beginn nach dem 1. Januar und Ende der Ausbildung vor dem 31. Dezember mit oder ohne Prüfung3. Per Definition werden diese Ausbildungsverhältnisse in der Bildung der Gesamtsumme der Neuabschlüsse nicht berücksichtigt, da sie am Stichtag nicht mehr bestehen. Sollte jedoch diese Kurzzeitlehre zwar vor dem 31. Dezember des Berichtsjahres gemäß Ausbildungsvertrag enden, aber der Prüfungstermin im folgenden Berichtsjahr liegen, ist dieses Ausbildungsverhältnis noch im »Bestand« und fließt in die Wertung mit ein. Grund hierfür ist der Umstand, dass die amtliche Statistik bis 2006 nur die realisierten Ausbildungsverhältnisse zählt, jedoch Vertragsdaten wie Beginn und Ende der Ausbildung nicht berücksichtigt hat und auch nicht berücksichtigen konnte. Deshalb sind die vorzeitigen Vertragslösungen von neu abgeschlossenen Ausbildungsverhältnissen in dem ausgewiesenen Wert nicht enthalten. Diesem Umstand wird die Definition des Statistischen Bundesamtes wenigstens im Ansatz gerecht.

Ab 2007 soll für Veröffentlichungen des Bundes und der Länder die Begriffsdefinition des Statistischen Bundesamtes gelten

Für Veröffentlichungen von Bundes- oder Landesergebnissen gelten mehrere Bedingungen, um

  • einheitlich und vergleichbar zu sein,
  • Betrachtungen über längere Zeiträume zu ermöglichen (Zeitreihen) und
  • Veränderungen der Werte für gleiche Begriffe durch Methodenwechsel möglichst gering zu halten.

Eine Zahl von 81 011 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen basiert auf der Definition des Statistischen Bundesamtes und ist das Resultat der von den berichtspflichtigen Stellen (Kammern und Verbände der unterschiedlichen Ausbildungsbereiche) gemeldeten Daten zu diesem Erhebungsumstand. In dieser Zahl sind – im Gegensatz zur Definition und Wertermittlung bis 2006 – die genannten Kurzzeitausbildungen enthalten. Nicht enthalten sind jedoch die Ausbildungsverhältnisse, die zwar im Berichtsjahr begonnen haben, aber, aus welchen Gründen auch immer, noch in demselben Jahr wieder gelöst wurden.

Für die Berechnung gilt:

DNStaBa = Nt0 − (LNt0 + LNprobt0)

wobei:

DNStaBa = Definition des Statistischen Bundesamtes 2007

Die Vorteile dieser Berechnungsmethode sind offensichtlich, denn der auszuweisende Wert von 81 011 Neuabschlüssen weicht nur um 0,3 % von dem Wert »wie bis 2006 gültig« (80 801 oder + 5,1 % gegenüber den 76 148 Neuabschlüssen im Jahr 2006) ab. So bleibt die Kontinuität gegenüber den Vorjahren weitgehend gewahrt; geringe Abweichungen, die man kaum als »Bruch« bezeichnen kann, sind tolerier- und vermittelbar. Diese Definition hat jedoch auch einen gravierenden Nachteil: sie berücksichtigt in Ihrer Berechnung die vorzeitigen Lösungen von Neuabschlüssen innerhalb eines Jahres nicht und ist deshalb in dieser Form für Berechnungen von Lösungsquoten nach dem von der amtlichen Statistik angewandten Schichtenmodell leider nicht geeignet. Diese Quoten sind jedoch von höchstem Interesse für Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft, Interessenverbänden und Verwaltung.

Wenn also bei der Definition des Statistischen Bundesamtes die Vorteile überwiegen und der Mangel der Lösungsquote nach dem Schichtenmodell durch andere Berechnungsmethoden möglicherweise kompensiert werden kann, stellt sich die Frage, wozu man dann noch eine dritte Definition mit nochmals anderem Ergebnis benötigt?

Die umfassende Betrachtung aller Ausbildungssituationen eines Kalenderjahres

Ergänzend zu den bereits beschriebenen Definitionen hat das Statistische Landesamt Baden-Württemberg – neben anderen Statistischen Landesämtern – die Berechnung der Neuabschlüsse in der Weise definiert, dass im Gegensatz zu der Definition des Statistischen Bundesamtes die vorzeitigen Lösungen von neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen sowie eventuelle Lösungen in der Probezeit nicht abgezogen, sondern addiert werden. Dies ergab den rechnerischen Wert von 85 571 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen für das Jahr 2007.

Für diese Berechnungsmethode gilt DNBW = Nt0

wobei für DNBW = Definition des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg steht.

Wozu dient diese dritte Berechnungsmethode, die offensichtlich im Gegensatz zu der Berechnungsmethode des Bundes steht und scheinbar eine überdurchschnittliche Abweichung gegenüber den vorangegangenen Berechnungen darstellt? Welche ist richtig, welche falsch?

Auch hier gilt: Beide Methoden sind sowohl in der Definition als auch in der Berechnungsmethode richtig – die Methode einschließlich der Lösungen bildet jedoch die Grundgesamtheit für Analysen der Berufsbildungsstatistik und Fragestellungen mit unterschiedlicher Zielrichtung.

Während die Definition des Bundesamtes auf die Darstellung von Eckzahlen und Ergebnistabellen ausgerichtet ist – hier folgen die Bundesländer der vom Bundesamt vorgeschlagenen Definition –, dient die Berechnungsmethode der Statistiker »im Ländle« dazu, ein Gesamtbild aller Vertragsbestände und -bewegungen eines Berichtsjahres darzustellen. Ungeachtet der Tatsache, dass 5 284 Ausbildungsverhältnisse im Jahr 2007 bereits in der Probezeit gelöst wurden, die sowohl als Neuabschluss eines Ausbildungsverhältnisses als auch als vorzeitige Lösung zu werten sind, werden beide Werte – neu abgeschlossene Ausbildungsverträge und vorzeitige Lösungen von diesen – zur Berechnung von Lösungsquoten (Auflösungen von Ausbildungsverträgen im Verhältnis zu den Neuabschlüssen) herangezogen. Diese Quoten sind von hohem politischen Interesse.

Fazit

Wenn unterschiedliche Angaben für ein und denselben Begriff genannt werden, sind zwingend die Gründe hierfür zu hinterfragen. Gelegentlich sind kleine Qualitätsmängel in der Weiterverarbeitung statistischer Ergebnisse der Grund dafür, dass Zahlen nicht übereinstimmen. Wesentlich häufiger sind jedoch Betrachtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten (oder -räumen) Hintergrund für verschiedene Zahlen, oder wie vorstehend gezeigt, unterschiedliche Begriffsdefinitionen.

Wenn wie bei der Umstellung der Berufsbildungsstatistik Strukturen und Methoden gewechselt werden, ist selbst Radio Eriwan machtlos: Auf die Frage »Wurden 2006 und 2007 Ausbildungsverhältnisse deutscher Mädchen bei den Kauffrauen im Einzelhandel bereits in der Probezeit gelöst?« antwortet der Sender: »2006 wahrscheinlich ja – 2007 waren es 197 Ausbildungsverhältnisse, die in der Probezeit gelöst wurden«. Jedoch die Fragestellung zu Anfang war eigentlich eine andere.

1 Gesetz zur Reform der beruflichen Bildung (Berufsbildungsreformgesetz – BerBiRefG) vom 23. März 2005 (BGBl. I S. 931), Artikel 2a – Änderung des Berufsbildungsgesetzes und der Handwerksordnung (das Berufsbildungsgesetz selbst steht in Artikel 1 BerBiRefG).

2 Vgl. Schmidt, Daniel: Die neue Berufsbildungsstatistik ab 2007, in: Wirtschaft und Statistik, 11/2008.

3 Dies waren in Baden-Württemberg 179 Ausbildungsverhältnisse, die im Berichtsjahr mit einer Prüfung beendet wurden. 168 Prüflinge haben die Prüfung bestanden.