:: 4/2009

Jeder 7. Erwerbstätige in Baden-Württemberg steht in einem marginalen Beschäftigungsverhältnis

Seit Jahrzehnten vollzieht sich in der Erwerbstätigkeit ein struktureller Wandel der Erwerbsformen von der früher klassischen Vollzeitbeschäftigung hin zu neueren Formen der Erwerbstätigkeit wie Teilzeitbeschäftigung, Minijobs, aber auch befristeter Beschäftigung und Zeitarbeit. Heute gibt es in Baden-Württemberg alleine fast 783 000 Menschen, die ausschließlich einer geringfügigen Tätigkeit wie einem Minijob, einer Saisonarbeit oder einem Ein-Euro-Job nachgehen. Ihre Zahl ist inzwischen deutlich höher als die Zahl der Selbstständigen. Bezieht man den Umfang der Arbeit in die Arbeitsmarktbeobachtung mit ein und betrachtet differenziert die Vollzeit-, Teilzeit- und marginale Beschäftigung, erscheint so manche altbekannte Entwicklung in einem etwas anderen Licht.

Im Jahr 2008 erreichte die Zahl der in Baden-Württemberg Erwerbstätigen mit mehr als 5,6 Mill. einen neuen Höchststand. Dank der guten Konjunktur der letzten Jahre kletterte die Zahl der Arbeitsplätze zum dritten Mal in Folge auf ein neues Rekordniveau. Nach mehrjährigem Stellenabbau hatten insbesondere die sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer – die rund 70 % aller Arbeitsplätze im Land umfassen – von der guten Konjunktur profitiert. Von 2005 bis 2008 nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um mehr als 175 000 zu, sodass in diesem Zeitraum über 80 % der insgesamt rund 214 000 neu entstandenen Arbeitsplätze im Land dieser Personengruppe zugute kamen.

In Zeiten stark konjunkturell geprägter Arbeitsmarktentwicklungen werden längerfristige strukturelle Veränderungen nicht so leicht wahrgenommen. Letztere vollziehen sich kontinuierlich und in der Regel weniger spektakulär, sie können jedoch – insbesondere über einen längeren Zeitraum betrachtet – stärkere Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben als konjunkturelle Einflussfaktoren.

In den zurückliegenden Jahrzehnten wandelten sich die Formen der Erwerbstätigkeit immer mehr weg von der klassischen Vollzeitbeschäftigung hin zu flexibleren Arbeitsformen. Diese größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich zum einen in der Vielfalt von Arbeitszeitmodellen wie beispielsweise Minijobs oder Teilzeitbeschäftigung. Darüber hinaus tragen aber auch neue arbeitsvertragliche Regelungen wie zeitlich befristete Arbeitsverträge oder Arbeitsverträge mit Zeitarbeitsfirmen zu einem flexibleren Arbeitseinsatz bei.

40 % mehr marginal Beschäftigte in den letzten 10 Jahren

Flexible Erwerbsformen werden häufig begrifflich zu Gruppen zusammengefasst. Mit dem Wandel der Erwerbsformen entstanden daher im Laufe der Zeit ganz neue Gruppen der Erwerbstätigkeit wie beispielsweise die marginale Beschäftigung oder die atypische/prekäre Beschäftigung.

Zur Gruppe der »marginal Beschäftigten« werden Personen zusammengefasst, die nicht der vollen Sozialversicherungspflicht unterliegen und sich daher von den Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigten unterscheiden. Die größte Gruppe der marginal Beschäftigten umfasst Personen, die ausschließlich Minijobs mit einer monatlichen Verdienstgrenze bis 400 Euro ausüben (geringfügig entlohnt Beschäftigte). Hinzu kommen Personen, die beispielsweise als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft oder Ferienaushilfe höchstens 50 Tage im Jahr arbeiten (kurzfristig beschäftigte Personen) sowie Personen mit Ein-Euro-Jobs (Zusatzjobs oder Arbeitsgelegenheiten gemäß § 16, Abs. 3 SGB II).

In Baden-Württemberg waren im Jahr 2007 insgesamt fast 783 000 Personen ausschließlich marginal beschäftigt, das sind 14 % aller Erwerbstätigen1. Seit Anfang der 90er-Jahre hat sich ihr Anteil an den Erwerbstätigen verdoppelt, sodass heute bereits jeder 7. Erwerbstätige marginal beschäftigt ist. Alleine in den zurückliegenden 10 Jahren hat sich ihre Zahl um fast 40 % erhöht, 4-mal so stark wie die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt mit einem Plus von knapp 10 %. Anders ausgedrückt wäre die Zahl der Erwerbstätigen im Zeitraum 1997 bis 2007 ohne die marginal Beschäftigten lediglich um 5 % und damit nur halb so stark gestiegen. Nach den rund 3,9 Mill. sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmern stellen die marginal Beschäftigten inzwischen die zweitgrößte Gruppe der Erwerbstätigen und liegen damit noch vor den 601 000 Selbstständigen einschließlich ihrer mithelfenden Familienangehörigen (Tabelle).

Im Zusammenhang mit dem Wandel der Erwerbsformen wird neben der marginalen Beschäftigung auch häufig der Begriff »atypische Beschäftigung« oder »prekäre Beschäftigung« verwendet. Anders als bei der marginalen Beschäftigung steht bei der atypischen oder prekären Beschäftigung weniger der Aspekt des Umfangs der Sozialversicherungspflicht im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage, ob das mit der Erwerbsform erzielte Einkommen ausreicht, um damit den Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Die Begriffe atypische oder prekäre Beschäftigung sind deutlich weiter gefasst als die marginale Beschäftigung, weil diese zusätzlich zu den marginal Beschäftigten die Teilzeitbeschäftigten, die Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverträgen und die Zeitarbeitnehmer umfassen (Übersicht). Diese Beschäftigungsformen haben sich jedoch in der heutigen Arbeitswelt so stark etabliert, dass die Frage berechtigt ist, ob der Begriff »atypische Beschäftigung« heute überhaupt noch verwendet werden kann. Hinsichtlich der Existenzsicherung sollte allerdings auch das familiäre Umfeld in die Betrachtung einbezogen werden, weil für deren Beurteilung das gesamte Einkommen eines Haushalts maßgeblich ist.

Mehr Mini- und Teilzeitjobs, weniger Vollzeitstellen

Untersucht man den Wandel der Erwerbsformen, stellt man nicht nur bei der Gruppe der marginal Beschäftigten in den letzten Jahren eine sehr dynamische Entwicklung fest. Auch innerhalb der Gruppe der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer gibt es recht unterschiedliche Entwicklungen hinsichtlich der Arbeitszeit der Beschäftigten.

Zunächst fällt auf, dass die Zahl der geringfügig entlohnt Beschäftigten in Baden-Württemberg seit 2000 mit Ausnahme des Jahres 2002 stets gestiegen ist. Mitte des vergangenen Jahres gingen in Baden-Württemberg gemäß Angaben der Bundesagentur für Arbeit mehr als 693 000 Menschen ausschließlich einem Minijob mit einem Verdienst bis 400 Euro monatlich nach. Insbesondere im Jahr 2004 war die Zahl der Minijobs sprunghaft um fast 50 000 gestiegen, nachdem unter anderem die monatliche Verdienstgrenze bei den Minijobs im Jahr 2003 von 325 auf 400 Euro angehoben worden war. Im gesamten Zeitraum 2000 bis 2008 stieg die Zahl der Personen, die ausschließlich einer geringfügig entlohnten Tätigkeit nachgingen, um rund 90 000.

Noch stärker als die Minijobs weitete sich im gleichen Zeitraum die Teilzeitbeschäftigung aus. Die Zahl der sozialversicherten Teilzeitbeschäftigten stieg von 2000 bis 2008 um fast 140 000 auf 672 000, sodass das Stellenplus spürbar höher ausfiel als bei den Minijobs. Die starke Zunahme der Teilzeit- und Minijobs steht dabei in engem Zusammenhang mit der steigenden Erwerbsbeteiligung der Frauen, die aus familiä­ren Gründen häufig solche Beschäftigungsformen bevorzugen2. Bei den Vollzeitbeschäftigten wurden dagegen zum Teil massiv Stellen abgebaut, sodass ihre Zahl im Zeitraum 2000 bis 2008 um über 50 000 auf rund 3,22 Mill. zurückging.

Die Personen mit Mini- und Teilzeitjobs arbeiten zu einem Großteil in den Dienstleistungsbranchen. Im Jahr 2007 verteilten sich nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit die Personen mit Minijobs wie folgt auf die Wirtschaftsbereiche:

Handel, Gastgewerbe und Verkehr 34 %
Öffentliche und private Dienstleister24 %
Unternehmensdienstleister einschließlich Banken und Versicherungen21 %
Produzierendes Gewerbe20 %
Land- und Forstwirtschaft1 %

Damit waren fast 80 % aller ausschließlich geringfügig entlohnt Beschäftigten im Dienstleistungssektor beschäftigt. Bei den Teilzeitbeschäftigten betrug der entsprechende Dienstleistungsanteil sogar 84 %.

Wandel der Erwerbsformen braucht neue Arbeitsmarktindikatoren

Mit der zunehmenden Bedeutung der marginalen Beschäftigung reicht die reine Personenbetrachtung ohne Berücksichtigung des Arbeitsumfangs zur Arbeitsmarktbeobachtung nicht mehr aus. Vielmehr müssen neue Indikatoren entwickelt werden, die unterschiedliche Arbeitszeitmodelle adäquat abbilden können. Deshalb wurden im Arbeitskreis »Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder« neben den erwerbstätigen Personen sogenannte Vollzeitäquivalente und Arbeitsvolumen als Arbeitsmarktindikatoren einbezogen. Bei den Vollzeitäquivalenten werden die Erwerbstätigen gemäß dem Umfang ihrer Arbeitszeit gewichtet und addiert, sodass es sich dabei um fiktive Vollzeitbeschäftigte handelt. So ergeben beispielsweise zwei Halbtags-Erwerbstätige ein Vollzeitäquivalent. Bei den Arbeitsvolumen bildet die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden der Erwerbstätigen die Grundlage für die Arbeitsmarktbeobachtung.

Betrachtet man die Zahl der erwerbstätigen Personen, entstanden im Zeitraum 2000 bis 2006 in Baden-Württemberg fast 83 000 Arbeitsplätze, was einem Plus von 1,5 % entspricht3. Rechnet man diese erwerbstätigen Personen in fiktive Vollzeitbeschäftigte um, gab es im gleichen Zeitraum rechnerisch fast 10 000 Vollzeitbeschäftigte weniger (– 0,2 %). Die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden (vgl. i-Punkt) ging zwischen 2000 und 2006 sogar um 0,6 % und damit noch etwas stärker zurück. Dieses Beispiel zeigt, dass sich eine auf der Grundlage der Erwerbstätigenzahl zunächst positive Arbeitsmarktentwicklung auch als geringere Arbeitskräftenachfrage herausstellen kann, wenn man den Arbeitsumfang der erwerbstätigen Personen mit in die Betrachtung einbezieht.

Strukturwandel durch Personenkonzept überzeichnet

Der Wandel der Erwerbsformen hat nicht nur weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung der tatsächlichen Arbeitsmarktentwicklung. Auch der wirtschaftliche Strukturwandel erscheint in einem anderen Licht, wenn man den Arbeitsumfang der erwerbstätigen Personen berücksichtigt. Der Erwerbstätigenzuwachs im Dienstleistungssektor und in der Folge auch der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wird durch das Personenkonzept überzeichnet. Im Jahr 2006 waren beispielsweise 65 % aller Erwerbstätigen in Baden-Württemberg bei Dienstleistungsunternehmen beschäftigt. Bei der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden entfielen lediglich 64 % auf den Dienstleistungssektor und bei den fiktiven Vollzeitbeschäftigten waren es nur 62 %, weil unter den Erwerbstätigen, die eine marginale oder eine Teilzeitbeschäftigung ausüben, 4 von 5 und damit der weit überwiegende Teil im Dienstleistungsbereich tätig sind. Dies bedeutet, dass in der Realität der Strukturwandel bei den geleisteten Arbeitsstunden um 3 Jahre und bei den Vollzeitäquivalenten sogar um 6 Jahre weniger stark fortgeschritten ist, als es die Erwerbstätigenzahl vermuten lässt. Würde man zusätzlich die Zeitarbeitnehmer, die an Industriebetriebe ausgeliehen werden, aus dem Dienstleistungsbereich herausrechnen, wäre die Zahl der im Dienstleistungssektor Beschäftigten noch geringer. Diese werden wegen ihres Arbeitsvertrags mit der Zeitarbeitsfirma unabhängig von ihrem Einsatzort dem Dienstleistungsbereich zugerechnet.

Neben dem Strukturwandel sind auch Wirtschaftsindikatoren wie die Arbeitsproduktivität und die Pro-Kopf-Einkommen vom Wandel der Erwerbsformen betroffen. Die Arbeitsproduktivität und deren Entwicklung werden unterzeichnet, wenn man das Personenkonzept unterstellt, also die Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen berechnet. Verwendet man beispielsweise als Bezugsgröße die geringere Zahl der fiktiv Vollzeitbeschäftigten, fällt das Niveau und die Entwicklung der Arbeitsproduktivität höher aus. Gleiches gilt beispielsweise beim Übergang von der Berechnung des Arbeitnehmerentgelts je Arbeitnehmer auf das Arbeitnehmerentgelt je fiktiv vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer oder je Arbeitnehmerstunde. Aus diesem Grund wurden mit dem Wandel der Erwerbsformen auch Indikatoren der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen mit neuen Bezugsgrößen berechnet.