:: 4/2009

Regionales Marktpotenzial in Baden-Württemberg

Die regionalen Unterschiede der Wirtschaftsleistung in Baden-Württemberg waren wiederholt Gegenstand von Beiträgen im Statistischen Monatsheft1. Diese verfolgten zumeist von der regionalen Wirtschaftsleistung ausgehend einen Ansatz, der regionales Wirtschaftswachstum auf konjunkturelle, strukturelle und standortbedingte Komponenten zurückführt und mit einer geringen theoretischen Fundierung auskommt. Eine andere Herangehensweise zur Bestimmung regionaler wirtschaftlicher Disparitäten besteht darin, Annahmen über die Standortentscheidungen von Unternehmen zu treffen und die sich ergebenden Schlussfolgerungen zu prüfen.

Der folgende Beitrag greift die Überlegung auf, dass für die Standortentscheidungen von Unternehmen der Zugang zu Absatzmärkten und die Verfügbarkeit von geeigneten Arbeitskräften eine wichtige Rolle spielen. Dazu wird aus dem auf Kreisebene vorliegenden Verfügbaren Einkommen der Haushalte aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ein Indikator gebildet, der die für einen Stadt- oder Landkreis potenziell wirksame Nachfrage berechnet. Dieser Marktpotenzialindex ist neben weiteren möglichen Einflussgrößen ein Faktor zur Erklärung der Lohnhöhe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Was die Geschichte lehrt

»Alle wichtigsten Lebensbedürfnisse, auch die Kleidung, wurden (…) durch eigene Produktion gedeckt, die Barausgaben waren niedrig, die Nahrung einfach, die Kleidung von größter Dauerhaftigkeit, handwerkliche Tätigkeit wurde verachtet, jeder Hausvater war sein eigener Schreiner, Drechsler und Wagner, eine sorgfältige Ausbildung war nicht möglich und wurde nicht angestrebt2«. So ist über die wirtschaftlichen Verhältnisse zu erfahren, die in den Tälern des Berner Oberlandes immerhin bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschend gewesen sein sollen. Dass sich diese Wirtschaftsform des »Hinterhofkapitalismus3« als wenig zukunftsfähig erwiesen hat, liegt an den Wohlfahrtsgewinnen, die durch arbeitsteilige, rationellere Produktion möglich werden. Gibt der genannte Hausvater beispielsweise die Landwirtschaft auf und entscheidet sich für eine Erwerbstätigkeit als Handwerker, muss er allerdings mit einer gewissen Marktgröße rechnen können, um nicht zu verhungern. Im Berner Oberland kam es mit der Gründerzeit des Tourismus zu einem Schub, da die auswärtigen Gäste beispielsweise vermehrt Holzschnitzereien, Töpferei- oder Textilprodukte nachfragten. Der aufkommende Tourismus seinerseits wäre kaum denkbar ohne die Industrialisierung und die zunehmend schneller, einfacher und sicherer werdende Überwindung größerer Distanzen.

Dieser kurze wirtschaftsgeschichtliche Exkurs illustriert einige Mechanismen, die (natürlich im übertragenen Sinn) auch unter aktuellen Bedingungen für andere Wirtschaftsräume, auch für Baden-Württemberg, wirksam sein könnten: So wäre denkbar, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und mit ihr die Nachfrage nach Arbeitskräften, die Lohnentwicklung und der Grad an Spezialisierung beispielsweise in einem Stadt- oder Landkreis nicht nur von der Kaufkraft der Bevölkerung vor Ort abhängig ist, sondern auch von der der Nachbarkreise, und zwar nicht nur der unmittelbaren. Zu berücksichtigen wäre dabei, dass die für den jeweiligen Kreis relevante Kaufkraft aller anderen umliegenden regionalen Einheiten aufgrund von Transportkosten kleiner werden dürfte, je weiter diese entfernt liegen. Diese regional potenziell vorhandene wirksame Kaufkraft wird auch als Marktpotenzial bezeichnet (siehe i-Punkt).

Der Marktpotenzialindex berücksichtigt die Kaufkraft aller Regionen des übergeordneten Wirtschaftsraums

Als Näherungsgröße für die Kaufkraft soll das Verfügbare Einkommen der privaten Haushalte herangezogen werden, das deutschlandweit auf Kreisebene verfügbar ist und vom Arbeitskreis »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder« publiziert wird. Zwar existiert für Baden-Württemberg eine kleinräumige Kaufkraftberechnung, sogar bis auf Gemeindeebene, die an dieser Stelle jedoch nicht verwendet werden kann4. Obwohl die Werte für den Marktpotenzialindex in den Kreisen Baden-Württembergs im Zentrum des Interesses stehen, kann sich der relevante Datensatz aufgrund der anschließenden regionalökonomischen Betrachtungen nicht auf die Kaufkraft in den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs und auf ein einzelnes Jahr beschränken. Die Grenzen der Bundesländer – zumindest innerhalb Deutschlands – sind administrative Grenzen und stellen selbstverständlich keine Barriere für beispielsweise den Warenverkehr oder höchstens in Ausnahmefällen für die Mobilität von Arbeitskräften dar5. Eine hypothetische Erhöhung des Verfügbaren Einkommens beispielsweise im Stadtkreis Ulm dürfte nicht nur auf den umliegenden baden-württembergischen Alb-Donau-Kreis ausstrahlen, sondern auch auf den bayerischen Nachbarkreis Neu-Ulm. Daher spricht vieles dafür, alle 413 Stadt- und Landkreise in Deutschland zur Berechnung des Marktpotenzialindex (MPI) in den Blick zu nehmen6.

Für die Berechnung des MPI wird die Summe der regionalen Kaufkraft mit einem Entfernungsmaß gewichtet. Hierzu wurde eine Matrix verwendet, die jedem Kreispaar die entsprechende Distanz zuordnet. Da es in erster Linie um die Abbildung von Transportkosten geht, erscheint die Entfernung zwischen den Kreismittelpunkten in Straßenkilometern als Näherungsgröße am ehesten geeignet, wobei grundsätzlich auch andere Distanzmaße denkbar sind7. Für die Stadt- und Landkreise Baden-Württembergs ergeben sich nach dieser Methode die in der Tabelle wiedergegebenen Werte. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden die Ergebnisse auf Werte zwischen 0 und 100 normiert.

Die baden-württembergischen Ergebnisse entsprechen vielleicht nicht der intuitiven Erwartung, da sich die Reihenfolge, die sich anhand der reinen VGR-Einkommenszahlen ergibt, im Marktpotenzialindex nur bedingt wiederfindet. Je peripherer die geografische Lage, desto weniger profitiert ein Kreis unter sonst gleichen Umständen von der Kaufkraft aller anderen Kreise. Dies gilt für die Bundesländer in Bezug auf Deutschland wie auch für die Kreise innerhalb eines Bundeslandes. Zusammen mit dem Niveau der »kreiseigenen« Kaufkraft überlagern sich diese Effekte vielfach zu den jeweiligen Indexwerten. Wie stark der räumliche Aspekt den MPI jedoch dominiert, zeigen das obere und das untere Ende des Deutschland-Rankings: Die höchsten Werte weisen die hessischen Landkreise Gießen, Lahn-Dill und der Stadtkreis Frankfurt am Main auf, die geografisch recht zentral liegen und auch selber hohe verfügbare Einkommen vorweisen können, was nicht unbedingt ein Zufall ist. Das deutschlandweit geringste Marktpotenzial nach hier vorgenommener Definition und Rechnung ist im Landkreis Rügen zu finden – die Insellage spiegelt sich hier augenfällig wider. Die Indexwerte weisen auch für Baden-Württemberg ein starkes Nord-Süd-Muster auf, mit den Stadtkreisen Mannheim und Heidelberg an der Spitze und den Landkreisen Lörrach und Waldshut am unteren Ende der Skala. Was die genannten nördlichen Kreise Baden-Württembergs angeht, ist die regionale Nähe zum Rhein-Main-Gebiet entscheidend für deren hohe Indexwerte. Dagegen zeigt sich der in Fußnote 6 genannte methodisch bedingte systematische Nachteil von Kreisen, die entlang oder nahe der Staatsgrenzen liegen, besonders augenfällig für die südlichen Kreise. Für die folgenden Überlegungen wird diesem Umstand jedoch Rechnung getragen, indem Veränderungen des Marktpotenzialindex herangezogen werden, die diese und andere denkbare, eher »zufällige« regionale Eigenheiten, die sich auf das Niveau des MPI auswirken, abmildern.

Lohnsteigerungen durch Veränderungen des Marktpotenzials – nicht für jede Gruppe am Arbeitsmarkt

Wie bei vielen synthetischen Indikatoren, stellt sich auch bei dem Marktpotenzialindex die Frage nach der Interpretation der Ergebnisse, da die Zahlen hier angesichts der starken Bedeutung der Geografie noch weniger als sonst für sich sprechen. Entsprechend wichtig ist der bestimmungsgemäße Gebrauch. Da die Ergebnisse wesentlich durch die räumliche Entfernung, die die Transportkosten abbilden, bestimmt sind (und nicht nur durch das kreiseigene Verfügbare Einkommen), bildet der Marktpotenzialindex weniger die regionale Kaufkraft schlechthin ab, sondern eher das Marktpotenzial für Güter und Dienstleistungen, für die die Transportkosten unterschiedlich relevant sind. Hier gibt es eine Spannbreite, die sich zwischen »vernachlässigbar« und »prohibitiv hoch« bewegt. Entsprechend der regionalen Wirtschaftsstruktur dürfte deshalb die Kaufkraft der umliegenden Kreise unterschiedlich relevant sein. Umgekehrt kann vermutet werden, dass die regionale Wirtschaftstruktur zumindest teilweise eine Funktion der räumlichen Lage ist.

Wenn man unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen annimmt, dass der Marktpotenzialindex die regionale Nachfrage zumindest näherungsweise abbildet, kann dessen Berechnungsformel im Durchschnitt aller betrachteten Kreise auch als Arbeitsnachfragefunktion interpretiert werden: Je höher das regionale Marktpotenzial ist, desto höher sollte die zu erwartende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen sein. Der damit einhergehende höhere Bedarf an Arbeitskräften dürfte die Löhne tendenziell steigen lassen. Damit ist ein Bezug zwischen Marktpotenzial und Lohnhöhe hergestellt, der sich anhand geeigneter Daten überprüfen lässt. Hier bietet sich beispielsweise das durchschnittliche Bruttojahreseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach dem Wohnortprinzip an8, das regional bis auf Kreisebene sowie nach Qualifikation und Wirtschaftszweigen differenziert vorliegt. Neben dem gesamtwirtschaftlich positiven Zusammenhang zwischen Marktpotenzial und Lohnhöhe sollte zu erwarten sein, dass dieser sich nach Beschäftigtengruppen und Sektoren unterscheidet.

Tatsächlich ist es so, dass beispielsweise die Löhne von Beschäftigten mit Hochschulabschluss – tendenziell und im Durchschnitt aller Kreise, nicht zwingend in jedem Einzelfall – stärker auf eine Änderung des MPI reagieren als die Löhne aller Beschäftigten. Wenn sich der MPI beispielsweise um 1 % erhöht, ist zu erwarten, dass sich die Löhne der Fachhochschulabsolventen um 1,05 % erhöhen, die Löhne aller Beschäftigten dagegen nur um 0,64 %. Die Löhne der Beschäftigten mit Volks-, Haupt- bzw. Realschulabschluss ohne Berufsausbildung dagegen reagieren nicht signifikant auf Veränderungen des Marktpotenzials.

Die Gründe werden im Licht folgender theoretischen Überlegungen deutlich: Grundsätzlich ist ein Unternehmen dann in der Lage, überdurchschnittlich hohe Löhne zu bezahlen, wenn die Produkte über bestimmte Alleinstellungsmerkmale verfügen und somit nicht ohne Weiteres durch günstigere Konkurrenzprodukte ersetzt werden. Üblicherweise handelt es sich hierbei weniger um homogene Massengüter, sondern um Produkte, deren Herstellungsprozess komplex ist oder deren Entwicklung einen gewissen Aufwand erfordert, mit den entsprechenden Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter. Diese qualifizierten Mitarbeiter sind aufgrund der Arbeitsmarktsituation in der Lage höhere Löhne zu fordern – und die Unternehmen, sie zu bezahlen. Erhöht sich der Marktpotenzialindex, profitieren Unternehmen (oder Branchen), die differenzierte Produkte herstellen stärker, da sie aufgrund der Kostenstruktur vermutlich Größenvorteile haben und damit auch räumlich einen weiteren Markt abdecken. Insofern erklärt sich, warum die Lohnsteigerungen in Abhängigkeit von den MPI-Zuwächsen nach Qualifikation der Beschäftigten gestaffelt sind. Dass Fachhochschulabsolventen diesbezüglich deutlich vor den Universitätsabsolventen liegen, passt durchaus ins Bild, da es bei jenen um die unmittelbare ökonomische Verwertbarkeit ihrer Qualifikation unter Umständen besser bestellt sein könnte.