:: 4/2010

Regionale Armutsgefährdung von Familien

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist eindeutig. Der Einzelne hat gegenüber dem Staat den gesetzlichen Anspruch, dass dieser ihm eine menschenwürdige Existenz gewährleistet. Die Gewährleistung dieses Anspruches darf somit nicht durch freiwillige Leistungen Dritter ersetzt werden. Die Leistungen nach SGB II (»Hartz IV«) sollen diesem Anspruch Rechnung tragen und eine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Im Oktober 2009 erhielten in Deutschland etwas mehr als 1,7 Mill. Kinder unter 15 Jahren Leistungen nach SGB II, und damit weniger als in den Vorjahren. Die Quote liegt bei 15, 7 %. In Ost- und in weiten Teilen Norddeutschlands ist die Quote zum Teil erheblich höher als in Süddeutschland. Das gilt erst recht für Alleinerziehende und für Paare mit Kindern.

Ein Grundrecht des Einzelnen auf eine menschenwürdige Existenz

Das Bundesverfassungsgericht entschied am 9. Februar 2010 die zu diesem Zeitpunkt geltenden Regelleistungen nach SGB II (»Hartz-IV–Gesetz«) für nicht verfassungsgemäß. Wichtige Punkte der Entscheidung (BVerG, 1 BvL 1/09) sind:

Die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder erfüllen nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 (Sozialstaatsprinzip). Ein menschenwürdiges Existenzminimum beschränkt sich nicht nur auf die physische Existenz, sondern schließt auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ein.

Das bislang verwendete »Statistikmodell« zur Bemessung der Regelsätze ist eine »verfassungsrechtlich zulässige« Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums. Hierzu gehört die Orientierung am Verbrauchsverhalten der untersten 20 % der nach ihren Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte.

Allerdings ist die Ermittlung der Regelleistungen für Erwachsene nicht verfassungsgemäß. Erst recht fehlt jegliche »empirische und methodische Fundierung« der Regelleistung für Kinder. Das Urteil fordert daher ein »in allen Berechnungsschritten« transparentes und sachgerechtes Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen.

Da ein solches Verfahren nicht vorliegt, kann auch »nicht festgestellt werden, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind«. Anders formuliert: das Bundesverfassungsgericht konnte weder logisch noch empirisch die jetzige, geschweige denn eine künftige Höhe der Regelleistung für Erwachsene und Kinder als ausreichend oder unzureichend begründen.

Bei dieser Entscheidung ging es dem Bundesverfassungsgericht um nicht weniger als um eine grundlegende Überprüfung der Arbeitsmarktreform (vgl. i-Punkt) am Maßstab der Menschenwürde. Danach bedeutet Armut in Deutschland mehr als nur das Fehlen von Nahrung und Kleidung. Sie umfasst neben dieser absoluten Armut auch das Unterschreiten eines Mindeststandards am gesellschaftlich Üblichen, also relative Armut. Vor diesem Hintergrund ist Hartz IV als die Absicht des Staates zu sehen, Armut bei Familien zu bekämpfen. Denn wer Regelleistungen erhält, verfügt über kein oder nur über ein unzureichendes Erwerbseinkommen, um seinen Lebensunterhalt und den der Familie zu gewährleisten, und dürfte ohne die Leistungen aus Hartz IV in Armut leben.

Ein wesentlicher Grund für die fehlende eigenständige Einkommenssicherung ist eine mangelnde Teilhabe am Erwerbsleben infolge von Arbeitslosigkeit, Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigung im Niedriglohnbereich. In Baden-Württemberg verfügen 37 % der Alleinerziehenden und 53 % der Paare mit Kindern neben ihren Regelleistungen noch über ein Erwerbseinkommen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung über diese sogenannten Aufstocker stellte fest: Weniger als 5 Euro brutto in der Stunde verdiente von den aufstockenden alleinerziehenden Müttern jede Vierte im Westen und sogar jede Zweite im Osten. Bei den Paaren mit Kindern waren es jedes Fünfte im Westen und jedes Vierte im Osten.1

Die Inanspruchnahme von Regelleistungen und ihre zeitlichen Veränderungen bei Alleinerziehenden und Paaren mit Kindern werden nicht nur von der jeweiligen Situation am Arbeitsmarkt beeinflusst, sondern auch durch politische Maßnahmen. Hierzu gehören veränderte Rahmenbedingungen beim Kinderzuschlag und beim Wohngeld, die dazu führen können, dass der Bedarf der Familien seltener durch die Regelleistungen gedeckt werden muss. Zu nennen sind hier vor allem die Absenkung der Einkommensuntergrenze für den Kinderzuschlag seit 1. Oktober 2008, die höheren Tabellenwerte beim Wohngeld und die dort neu eingeführte Berücksichtigung von Heizkosten seit 1. Januar 2009.2 Ebenso dürften die Erhöhung des Kinderfreibetrages in der Einkommensteuer und des Kindergeldes seit 1. Januar 2010 für sich genommen zu einer geringeren Inanspruchnahme der Regelleistung führen.

Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle der Armutsgefährdung der Kinder in Deutschland

In Baden-Württemberg lebten im Oktober 2009 insgesamt 136 559 Kinder unter 15 Jahren in Familien, die Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) empfingen. In Deutschland waren es zu diesem Zeitpunkt knapp 1,75 Mill. Damit lag der Anteil der »nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen« unter 15 Jahren an der gleichaltrigen Bevölkerung in Baden-Württemberg bei 8,7 % und in Deutschland bei 15,7 %. Es gibt ein deutliches Ost-West-, aber auch ein Nord-Süd-Gefälle. Sehr hohe Quoten von hilfebedürftigen Kindern weisen Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern auf. Noch höher sind die Anteile in den Stadtstaaten Berlin und Bremen. Vergleichsweise selten ist die Inanspruchnahme in Bayern und Baden-Württemberg.

Ein Vergleich der 412 kreisfreien Städte und Landkreise zeigt darüber hinaus noch weitere regionale Unterschiede. Die niedrigste Quote hat der Landkreis Freising in Bayern mit 1,6 %, die höchste Schwerin, die Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, mit 37,5 %. Kreise mit Quoten unter 5 % befinden sich fast ausschließlich in Bayern. Ähnlich niedrige Quoten weisen nur noch 3 Landkreise aus Baden-Württemberg auf: Bodenseekreis, Biberach und der Enzkreis. Allerdings gibt es in Bayern und Baden-Württemberg auch Kreise, in denen Kinder wesentlich häufiger Grundsicherungsleistungen erhalten. In Bayern sind vor allem die kreisfreien Städte: Schweinfurt, Weiden, Nürnberg und Hof zu nennen mit Quoten zwischen 20,9 % und 23,5 %. In Baden-Württemberg sind es die Stadtkreise Pforzheim (19,9 %) und Mannheim (21,2 %). Damit scheinen die regionalen Unterschiede in Bayern größer zu sein als in Baden-Württemberg. Gleichwohl befinden sich die Kreise mit den höchsten Quoten überwiegend in den ostdeutschen Ländern. Doch auch in Westdeutschland gibt es Kreise, in denen rund jedes dritte Kind Leistungen aus SGB II erhält. Hierzu gehören Kiel, Essen, Wilhelmshaven, Gelsenkirchen, Offenbach am Main und Bremerhaven (37 %) mit der zweithöchsten Quote aller Kreise und kreisfreien Städte. Vergleichsweise selten sind Kreise außerhalb der zwei süddeutschen Länder mit Quoten zwischen 5 % und 7 %. Hierzu gehören vor allem Landkreise aus Rheinland-Pfalz (Trier-Saarburg, Eifelkreis Bitburg-Prüm, Südliche Weinstraße und Cochem-Zell) sowie Coesfeld in Nordrhein-Westfalen und das Emsland in Niedersachen. Tendenziell weisen die Großstädte und Stadtkreise höhere Quoten auf als die Landkreise. Trotzdem ist die Größe einer Stadt nicht allein ausschlaggebend. Zum Beispiel in Stuttgart, München, Frankfurt oder Hannover sind die Quoten zum Teil erheblich niedriger als in kleineren Städten im jeweiligen Bundesland.

Überdurchschnittliche Zunahme der Armutsgefährdung der Kinder besonders im Süden

Gegenüber August 2008 erhielten im Oktober 2009 weniger Kinder Leistungen aus SGB II. In Deutschland ist der Anteil der jungen Empfänger an allen unter 15-Jährigen in der Bevölkerung um 0,6 % gesunken. Der Anteil betrug im August 2008 noch 16,3 %. Die Anzahl der Hilfebedürftigen selbst verringerte sich um 3,6 %. Vor allem in den ostdeutschen Ländern, aber auch in Norddeutschland sind die Anteile deutlich gesunken. In Baden-Württemberg blieb die Quote zwischen den beiden Zeitpunkten nahezu unverändert auf relativ niedrigem Niveau. Die Tabellen 1 und 2 zeigen die unterschiedlichen prozentualen Veränderungen bezogen auf die jeweiligen Bezugsgrößen: Gesamtheit der unter 15-Jährigen und Anzahl der unter 15-jährigen Hilfebedürftigen im August 2008. Diese Unterscheidung hilft, beispielsweise regionale Veränderungen angemessener zu beurteilen. Dies wird deutlich bei der Betrachtung der Zu- und Abnahme der Inanspruchnahme der Leistungen in den jeweiligen Kreisen.

Es zeigt sich, dass die Kreise mit der höchsten Ab- bzw. Zunahme, je nachdem welche Bezuggröße gewählt wird, nicht stets gleich sind. So hat sich der Anteil der Hilfebedürftigen an allen Kindern unter 15 Jahren vor allem in ostdeutschen Kreisen verringert. Die größte Veränderung der Quote selbst gelang jedoch Freising in Bayern. Dieser Kreis konnte seine im August 2008 bereits sehr niedrige Quote von 3,0 % fast halbieren. Die Zahl der jungen Leistungsempfänger sank fast um die Hälfte. Entgegen der durchschnittlichen Entwicklung in Deutschland nahm die Inanspruchnahme in einzelnen Kreisen in Baden-Württemberg vergleichsweise stark zu. So stieg der Anteil an den Kindern unter 15 Jahren in den Landkreisen Tuttlingen und Rottweil jeweils um 1,4 %. Die Zahl der Hilfebedürftigen selbst stieg – von einem in diesen Kreisen vergleichsweise niedrigen Niveau aus – in Tuttlingen um 22,2 %, in Rottweil um 30,4 %. In Rottweil beispielsweise von 1 021 auf 1 326 junge Leistungsempfänger.

Hohe Armutsgefährdung Alleinerziehender, aber im Süden halb so hoch wie im Osten

Es ist mittlerweile bekannt, dass Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern besonders häufig armutsgefährdet sind. Die Gründe dafür sind vielfältig, und selten dürfte nur einer alleine für die Armutsgefährdung der Familie entscheidend sein. Sie liegen …

  • in der Familiensituation, da eine Person für den Lebensunterhalt der Familie und für die Betreuung der Kinder gleichzeitig aufkommen muss,
  • an eventuell fehlenden oder unzureichenden Unterhaltszahlungen vom anderen Elternteil der Kinder,
  • am Arbeitsmarkt mit Blick auf Arbeitsnachfrage, Arbeitszeit, Arbeitsort und Entlohnung, an einer nicht angemessenen Kinderbetreuung, und schließlich möglicherweise
  • in der Motivation der Person selbst, nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätig sein zu wollen.

Ungeachtet der insgesamt überdurchschnittlich häufigen Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB II durch Alleinerziehende gibt es doch deutliche regionale Unterschiede. In den süddeutschen Ländern ist diese Inanspruchnahme zum Teil nur halb so häufig wie in den ostdeutschen Ländern: Bayern (26 %), Baden-Württemberg (31 %) und Rheinland-Pfalz (32 %), demgegenüber Sachsen (52 %), Mecklenburg-Vorpommern (54 %) und Sachsen-Anhalt (57 %).

Deutlich geringer ist die Armutsgefährdung bei Paaren mit minderjährigen Kindern. Ähnlich wie bei den Alleinerziehenden sind jedoch die regionalen Unterschiede. Die süddeutschen Länder weisen vergleichsweise niedrige Quoten auf: Bayern 3 %, Baden-Württemberg 4 % und Rheinland-Pfalz 6 %, im Gegensatz zu den ostdeutschen Ländern mit durchweg über 10 % und bis 16 % (Sachsen-Anhalt). Hinzu kommt, dass Paare mit Kindern ausgesprochen häufig armutsgefährdet sind in den Stadtstaaten: Berlin 24 %, Bremen 17 % und Hamburg mit 13 %.