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Der revidierte Verhaltenskodex für europäische Statistiken

Im Herbst des Jahres 2011 hat der Ausschuss für das Europäische Statistische System (AESS) eine überarbeitete und aktualisierte Version des Verhaltenskodex für die Europäische Statistik angenommen. Im Januar 2012 wurde der revidierte Verhaltenskodex als Mitteilung der Kommission veröffentlicht. Die ursprüngliche Form des Verhaltenskodex in Form einer Empfehlung der Kommission »zur Unabhängigkeit, Integrität und Rechenschaftspflicht der nationalen und gemeinschaftlichen statistischen Stellen« galt seit Mai 2005. Neben der Aufnahme der Qualitätsdeklaration des Europäischen Statistischen Systems von 2001 in die Präambel des Verhaltenskodex beziehen sich die wichtigsten Änderungen auf die Stärkung der fachlichen Unabhängigkeit und der Forderung nach institutioneller Unabhängigkeit der nationalen Statistischen Ämter und von Eurostat sowie die Aufnahme von Indikatoren, die sich auf die Nutzung von Verwaltungsdaten beziehen.

Wie der ursprüngliche Verhaltenskodex definiert die Neufassung zusammen 15 Grundsätze zum institutionellen Rahmen der Statistikerstellung, zu den statistischen Prozessen und zu den statistischen Produkten. Konkretisiert werden diese Grundsätze jeweils durch Indikatoren, die letztlich die Überprüfung der gemeinsamen Qualitätsstandards der Amtlichen Statistik erleichtern und deren Einhaltung in allen Mitgliedstaaten sicher stellen sollen. Das Statistische Landesamt bekennt sich zu dem die statistischen Prozesse und Produkte betreffenden Teil des Verhaltenskodex und sieht diese Anforderungen als verbindlich an. Für die Erstellung und Verbreitung nicht nur der europäischen sondern aller Statistiken ist der Verhaltenskodex eine wichtige Orientierung.

Zum Hintergrund der Neufassung

Unter dem Eindruck der andauernden Finanzkrise und den Qualitätsmängeln bestimmter öffentlicher Finanzdaten hat die Europäische Kommission im April 2011 die Mitteilung zum Qualitätsmanagement bei europäischen Statistiken vorgelegt.1 Mit dieser Mitteilung wurde die Sensibilität der Regierungen und der Statistikproduzenten hinsichtlich der fachlichen und institutionellen Unabhängigkeit der Statistischen Ämter geweckt. Ebenso wurde damit auch der Übergang von einem in erster Linie korrektiv zu einem stärker präventiv ausgerichteten Konzept im Qualitätsmanagement der Amtlichen Statistik und besonders in der Finanzstatistik eingeleitet.

Die Offenlegung der Ungenauigkeiten der Statistiken einiger Mitgliedstaaten unter anderem bezüglich der Höhe und Zusammensetzung der Verschuldung ihrer öffentlichen Haushalte hatten zuvor verdeutlicht, dass die Qualität der von den Mitgliedstaaten gemeldeten volkswirtschaftlichen Daten wie auch der ihnen zugrunde liegenden Haushaltsdaten noch nicht in allen Mitgliedsstaaten in der erforderlichen Form gewährleistet war. Angesichts dieser Probleme hat die Europäische Kommission ein Maßnahmenbündel vorgeschlagen bzw. bereits beschlossen, das Eurostat mit umfassenderen Befugnissen im Bereich der Statistik und insbesondere im Bereich der Finanzstatistik ausstattet. So wurde neben der Neufassung des Verhaltenskodex die Verschärfung der Verordnung zum übermäßigen Defizit2 bereits verabschiedet. Zugleich ist eine Neufassung der EU-Statistikverordnung3, in der sowohl die institutionelle Unabhängigkeit der Statistik und die erweiterte Nutzung der Verwaltungsdaten wie auch der Verhaltenskodex an sich noch einmal aufgegriffen werden, derzeit auf der Ratsebene im Abstimmungsprozess.

Der Verhaltenskodex hat – wie auch schon sein Vorgänger von 2005 – für alle europäischen Statistiken Gültigkeit. Die Defizitverordnung hat dagegen einen eng umrissenen Geltungsbereich, nämlich die Statistikbereiche, die zur Berechnung der Defizitkriterien herangezogen werden. Das Qualitätsmanagement der Defizitverordnung ist die derzeit schärfste Form, den Grundsatz der Verpflichtung zur Qualität umzusetzen. Diese Regelungen sind aber beschränkt auf die Staatsfinanzdaten und keineswegs der Maßstab für die Umsetzung des Grundsatzes der Qualitätsverpflichtung für alle europäischen Statistiken.

Institutionelle Unabhängigkeit der Statistischen Ämter als Qualitätsaspekt

Die Qualität der statistischen Daten hängt ganz maßgeblich von den einzelnen Produktionsschritten in der Erstellung der jeweiligen Statistiken ab. Zur Kontrolle der Produktionsprozesse wird ein umfassendes Qualitätsmanagement benötigt, das die gesamte Produktionskette umfasst. Wichtige Fortschritte wurden in den vergangenen Jahren bereits durch die Annahme des Verhaltenskodex für europäische Statistiken im Jahr 2005 erzielt, wobei die Anwendung und Überwachung des Kodex weitgehend auf Selbstbewertungen und Peer Reviews4 der Mitgliedstaaten basierten.

Vor dem Hintergrund der Qualitätsprobleme der Haushaltsdaten einiger Mitgliedstaaten reichten diese Maßnahmen der Kommission aber noch nicht aus. Die im Zuge der gegenwärtigen Finanzkrise erkannten qualitativen Mängel bei den vorgelagerten Daten des öffentlichen Rechnungswesens verdeutlichten, dass der rechtliche Rahmen für die institutionelle und fachliche Unabhängigkeit der Statistischen Ämter punktuell weiter gestärkt werden muss. Aus Sicht der Europäischen Kommission kann dies vor allem über eine konsequentere Anwendung der Regelungen des Verhaltenskodex für die europäischen Statistiken durch die nationalen statistischen Ämter und der sonstigen dafür zuständigen nationalen Behörden erfolgen. Im Zentrum dieser Bemühungen steht der Grundsatz der institutionellen und fachlichen Unabhängigkeit der Statistischen Ämter ohne jede Einschränkung. Statistiken müssen unabhängig entwickelt, erstellt und verbreitet werden. Politische Gruppen, andere Interessengruppen oder einzelstaatliche Stellen dürfen erst gar keine Möglichkeit haben, Einfluss oder Druck auszuüben. Dieses Prinzip darf auch durch bestehende und in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen nicht eingeschränkt werden.

Quasi als Indikator der erreichten Unabhängigkeit der Statistischen Ämter dient die Unabhängigkeit ihrer Leitungen von Einflussnahmen aus dem Bereich der Politik oder der Regierung. Die Leitungen der Statistischern Ämter sollen deshalb ohne jeden politischen Hintergrund in einem völlig transparenten Verfahren ausschließlich auf der Grundlage berufsfachlicher Kriterien ernannt oder abberufen werden können. Die statistischen Behörden sollen völlig eigenständig handeln können und in ihren Entscheidungen über die Entwicklung der Statistik nur dem Gesetzgeber unterworfen sein (neuer Indikator 1.8).

Artikel 1 und 16 BStatG5 bestimmen, dass Amtliche Statistiken unter Wahrung der Unparteilichkeit, der statistischen Geheimhaltung, der Objektivität und vor allem der wissenschaftlichen Unabhängigkeit zu erstellen sind. Die vergleichbaren Prinzipien in Art. 2 der EU-Statistikverordnung sind damit nicht deckungsgleich. Der dort verwendete Begriff der »professionellen Unabhängigkeit« enthält im Vergleich zur »wissenschaftlichen Unabhängigkeit« des BStatG wohl auch eine institutionelle Komponente. Nach unserem Rechtsverständnis erfordert das aber noch keine institutionelle Verselbstständigung der Statistischen Ämter, wie sie in einer Weisungsfreiheit der Amtsleitungen zum Ausdruck käme. Dies wäre zur Erreichung der Qualitätsziele auch nicht erforderlich.6 Es ist sogar zu fragen, inwieweit die komplette Herauslösung der Amtlichen Statistik aus dem föderalen Verwaltungsgefüge, dem Ziel der Steigerung der Qualität nicht sogar abträglich sein könnte. Die geforderten nahezu unbegrenzten Entscheidungsbefugnisse für die Leiter der Statistischen Ämter müssten letztlich zu einer Aufhebung der Gesetzesbindung der Verwaltung in diesem Bereich führen.

Qualität durch gegenseitige Kontrolle?

Der Verhaltenskodex beschreibt die Grundsätze, die alle amtliche Statistik produzierenden Stellen in den Mitgliedstaaten einhalten sollen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in europäische Statistiken zu gewinnen und zu erhalten. Im Kern hat bereits der seit 2005 bestehende Verhaltenskodex diese Grundsätze enthalten; sie bleiben im Wesentlichen auch unverändert (siehe i-Punkt).7 Neben der Unabhängigkeit der statistischen Stellen (als Merkmal der Qualität der europäischen Statistik) ist das Thema Qualität an sich gleichsam schon Zweck und Wesen des Verhaltenskodex. Es war deshalb durchaus konsequent, in der Neufassung die Indikatoren zum Grundsatz der Verpflichtung zur Qualität mit neuen Inhalten zu versehen (Indikatoren 4.1 bis 4.4). Diese Indikatoren beziehen sich auf die Errichtung eines Qualitätsüberwachungs- und Berichtssystems sowie auf regelmäßiger Überprüfungen, die mit Hilfe externer Sachverständiger durchgeführt werden sollen.

Die Ausgestaltung dieser noch eher unbestimmten Forderungen finden sich dann in der Verordnung im Hinblick auf die Qualität der statistischen Daten im Rahmen des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit.8 In § 11 Abs. 1 dieser sogenannten Defizitverordnung ist bestimmt, dass die Kommission in den Mitgliedstaaten regelmäßige Gesprächsbesuche und gegebenenfalls auch methodenbezogene Besuche durchführt. Die Gesprächsbesuche dienen in erster Linie der Überprüfung der gemeldeten Daten, nach § 11 a sollen darüber hinaus so die Risiken oder die potentiellen Probleme bei der Qualität der Daten ermittelt werden. Nach § 11 b finden in Ausnahmefällen – wenn eindeutige Hinweise auf Risiken oder Probleme bezüglich der Datenqualität vorliegen – die Methodenbesuche statt, bei denen die den gemeldeten Daten zugrunde liegenden Verfahren und Methoden überprüft werden.

Problematisch an diesen Besuchen ist vor allem, dass nach § 12 Abs.  1 diese Besuche nicht allein durch Beamte der Kommission (Eurostat) durchgeführt werden. Unterstützt werden diese durch Sachverständige für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen aus den entsprechenden Mitgliedstaaten. Da nach § 12 Abs. 2 die Teilnehmer der methodenbezogenen Besuche das Recht haben, auf die Daten staatlicher Einheiten auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene sowie auf die Daten der Sozialversicherungen zuzugreifen und diese zu prüfen, könnte dadurch eine Situation des Misstrauens zwischen den statistischen Stellen geschaffen werden.

Nutzung von Verwaltungsdaten als Indikator der Wirtschaftlichkeit

Stärker betont als in der ersten Fassung des Kodex wird auch die statistische Verwendung der Verwaltungsdaten. Drei neue Indikatoren (8.7, 8.8 und 8.9) verpflichten die statistischen Stellen zur umfassenden Zusammenarbeit mit den Eignern von Verwaltungsdaten, um so den Zugang zu Verwaltungsdaten für die Erstellung europäischer Statistiken zu erweitern und zu sichern. Aus Sicht der Statistiker sicherlich verlockend, aus Sicht des Datenschutzes – beide Aspekte sind in Deutschland spätestens seit dem Urteil des Verfassungsgerichts von 19839 untrennbar verbunden – ist eine nicht im einzelnen durch Gesetz abgedeckte statistische Nutzung von Verwaltungsdaten aber nicht möglich. Allerdings soll hier auch nicht der Eindruck erweckt werden, die neuen Grundsätze erfordern eine schrankenlose Nutzung der Verwaltungsdaten, die keiner weiteren Gesetzesbindung unterliegt. Möglichkeiten und Grenzen der Verwaltungsdatennutzung für die Amtliche Statistik sind im Einzelfall unter Beachtung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung sorgfältig gegeneinander abzuwägen10, und dies kann letztlich jeweils nur in einer speziellen gesetzlichen Regelung geschehen.

In die gleiche Richtung wie die Ausweitung der Verwaltungsdatennutzung zielt auch der neue Indikator zur Verknüpfung von Datenquellen, um die Beantwortungsaufwände für die Auskunftspflichtigen zu reduzieren (Indikator 9.6) oder der neue Indikator zum Einsatz standardisierter Lösungen (Indikator 10.4).

In diesem Zusammenhang ist auch nicht uninteressant, dass in Deutschland bereits bei etwa der Hälfte der Statistiken Verwaltungsdaten genutzt werden. Es mag zwar durchaus Bereiche geben, in denen eine zusätzliche oder weitergehende Nutzung sinnvoll sein könnte. Es ist aber auch nicht ohne weiteres ersichtlich, dass noch in größerem Umfang ungenutzte und für statistische Zwecke geeignete Verwaltungsdatenbestände verfügbar sind. Sollte dies doch der Fall sein, wäre für die Nutzung dieser Daten eine gesetzlich vorgegebene Regelung zu schaffen.

Folgen für die Amtliche Statistik

Im Zusammenhang mit der von der Kommission derzeit forcierten Neufassung der EU-Statistikverordnung kommt dem Kodex gegenüber dem Vorgänger eine völlig neue Verbindlichkeit zu.11 Unmittelbare Eingriffe in die institutionellen und organisatorischen Strukturen der Amtlichen Statistik in den Mitgliedstaaten wären möglich, da der Verhaltenskodex ohne Beteiligung des Rates oder des Parlaments einseitig geändert werden kann.

Über Art. 11 der revidierten Fassung der EU-Statistikverordnung hätten die Mitgliedstaaten künftig »Verpflichtungen für zuverlässige Statistiken« zu unterzeichnen. Damit müssten sie auf höchster politischer Ebene garantieren, den Verhaltenskodex für europäische Statistiken uneingeschränkt zu befolgen, die Unabhängigkeit der nationalen Statistischen Ämter zu bewahren und nationale Qualitätssicherungsregelungen für die Statistik auszuarbeiten. Die Einhaltung der Zusagen würde von der Kommission überwacht werden.

1 Mitteilung der Kommission (211/2011) an das Europäische Parlament und den Rat vom 15. April 2011 »Ein robustes Qualitätsmanagement für die europäischen Statistiken«.

2 Verordnung (EU) Nr. 679/2010 des Rates vom 26. Juli 2010 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 479/2009 im Hinblick auf die Qualität der statistischen Daten im Rahmen des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit.

3 Verordnung (EG) Nr. 223/2009 (EU-Statistikverordnung) vom 1. April 2009.

4 Überprüfungen durch Fachleute aus anderen Statistischen Ämtern.

5 Bundesstatistikgesetz (BStatG) vom 22. Januar 1987.

6 Bundesrat Drucksache 219/12 (Beschluss) (2)*) vom 15. Juni 2012 zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 über europäische Statistiken, S. 3.

7 Verhaltenskodex für europäische Statistiken, angenommen vom Ausschuss für das Europäische Statistische System, 28. September 2011.

8 Verordnung (EU) Nr. 679/2010 des Rates vom 26. Juli 2010 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 479/2009 im Hinblick auf die Qualität der statistischen Daten im Rahmen des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit.

9 BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983.

10 Bundesrat Drucksache 219/12 (Beschluss) (2)*) vom 15. Juni 2012 zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 über europäische Statistiken, S. 4.

11 Vorschlag der Kommission vom 17. April 2012 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 über europäische Statistiken.