:: 9/2013

Auswanderung aus Württemberg und Baden

Einwanderung und Integration sind heute wichtige politische Handlungsfelder, die zunehmend das Leben in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und somit auch in Baden-Württemberg bestimmen. Von jeher haben Wanderungsbewegungen die Geschichte des heutigen Baden-Württembergs geprägt. So suchten nach der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg viele Glaubensflüchtlinge wie Calvinisten, Hugenotten und Waldenser in Baden und Württemberg nach einer neuen Heimat. Einwanderung setzt immer eine Auswanderung anderenorts voraus. Im Zeitverlauf der letzten 2 Jahrhunderte verliefen die Wanderungsströme lange Zeit umgekehrt, denn im 19. und frühen 20. Jahrhundert sind viel mehr Menschen aus dem heutigen Baden-Württemberg aus- als eingewandert. Auch sie versuchten sich in ihrer neu gewählten Heimat mit recht unterschiedlichem Erfolg zu etablieren und zu integrieren.

Armut, Unterdrückung und mangelhafte Perspektiven

Nicht mehr akzeptable Lebens- und Arbeitsverhältnisse waren im 19. Jahrhundert der Anlass für viele Menschen, ihre Heimat zu verlassen und anderswo ihr persönliches Lebensglück zu suchen. Die einzelnen Gründe sind vielfältig und lagen vor 1800 hauptsächlich in der Suche nach der Religionsfreiheit. Nach 1800 waren es Hungersnöte, Kriege, undemokratische politische Verhältnisse, drohende Armut, der billige Landerwerb und der relativ hohe Lohn im Einwanderungsland im Gegensatz zum geringen Lohn und teuren Land in den deutschen Staaten. Auch die weitaus geringere Besteuerung im Einwanderungsland sowie die mangelhaften Zukunftsperspektiven in der Heimat durch viele soziale Ungerechtigkeiten wie zum Beispiel das Erbrecht, das zur Teilung des Landes in immer kleinere Parzellen führte, motivierte viele Menschen auszuwandern. Viele junge Männer wollten durch Auswanderung auch dem drohenden langen Zwangsmilitärdienst entgehen. Die Auswanderung war andererseits für zahlreiche deutsche Staaten ein willkommenes Mittel, unliebsame Personen wie Kriminelle, Prostituierte und Arme auf diesem Wege abzuschieben, und wurde deshalb auch von vielen offiziellen Stellen gefördert. Viele deutsche Staaten stellten sogar offizielle Auswanderungspässe aus, um ihren auswanderungswilligen Einwohnern bei der Überwindung bürokratischer Hürden zu helfen.

Der unmittelbare Anlass für viele Menschen, aus dem Südwesten Deutschlands auszuwandern, war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im April 1815. Bei diesem Vulkanausbruch wurde so viel Asche in die Atmosphäre geschleudert, dass es auf der Nordhalbkugel zu zwei sehr nassen und kalten Sommern kam, was zur Folge hatte, dass mehr oder weniger die gesamte Ernte zweier Jahre ausfiel. Umgangssprachlich hießen sie sogar »Jahre ohne Sommer«. Um dem Hungertod oder der totalen Verarmung zu entgehen, schifften sich viele Menschen aus Südwestdeutschland auf der Donau ein und siedelten in Ungarn, Rumänien und darüber hinaus auch in Teilen Russlands. Nur wenige Emigranten suchten in dieser Zeit in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat, sie verblieben vielmehr auf dem alten Kontinent wohl auch in der Hoffnung, in besseren Zeiten wieder in die alte Heimat zurückkehren zu können.

Amerika, auf nach Amerika…

Der wichtigste Faktor für die Auswanderung aus Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Umwandlung der bis dahin landwirtschaftlich geprägten deutschen Staaten in Industriegesellschaften – ein Vorgang, der zu massivem Bevölkerungswachstum, zur Verstädterung und zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten führte. Zu einer Verarmung kam es insbesondere im deutschen Südwesten, wo sich unter den veränderten Bedingungen die Tradition der Realteilung als Lebensgrundlagen vernichtend erwies. So lebten 1815 um die 993 000 Einwohner im Großherzogtum Baden und 1834 rund 1 570 000 Menschen im Königreich Württemberg; 1890 gab es bereits annähernd 1 658 000 Einwohner in Baden und rund 2 037 000 in Württemberg. Das Angebot an ausreichend bezahlter Arbeit, um die Grundversorgung all dieser Menschen zu gewährleisten, stieg in diesem Zeitraum nicht gleich schnell an. Aufgrund der mangelhaften Zukunftsperspektiven blieb vielen Württembergern und Badenern nichts anderes übrig, als ihr persönliches Glück außerhalb ihres jeweiligen Vaterlandes zu suchen.

Die meisten Menschen wanderten über die großen Häfen wie Hamburg, Bremen, Rotterdam, Antwerpen, Le Havre und andere auf dem Seeweg aus. Da aus dieser Zeit die meisten Schifffahrtslisten erhalten sind, gibt es heute die Möglichkeit, sich über sehr viele ausgewanderte Personen mittels der Deutschen Auswanderer-Datenbank (DAD) am Historischen Museum in Bremerhaven zu informieren. Die Datenbank erfasst Informationen zu Personen, die im Zeitraum von 1820 bis 1939 Europa über vornehmlich deutsche Häfen in Richtung USA verlassen haben. Grundlage der Deutschen Auswanderer-Datenbank sind die Passagierlisten der Auswandererschiffe. Diese Passagierlisten mussten den amerikanischen Einwanderungsbehörden vorgelegt werden. Auch speziell für Baden-Württemberg können mit Hilfe einer Dokumentation des Landesarchivs Baden-Württemberg unter dem Titel »Auswanderung aus Südwestdeutschland« eine Fülle von Informationen recherchiert werden.

Die Auswandererströme richteten sich jetzt fast ausnahmslos auf die Vereinigten Staaten. Neue weite Landstriche wurden erschlossen, besiedelt und zur Basis einer sicheren Existenz. Neben der wirtschaftlich motivierten Auswanderung erfolgte um 1848 auch eine politische, die ihren Höhepunkt nach der gescheiterten Märzrevolution im deutschen Südwesten fand. Diese Emigranten bezeichnete man umgangssprachlich als »Achtundvierziger«. So wanderten im Zeitraum 1871 bis 1890 aus dem Königreich Württemberg mehr als 104 000 Personen und aus dem Großherzogtum Baden im Zeitraum zwischen 1880 und 1890 über 94 000 Personen aus. In beiden Staaten betrug die Quote derer, die in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderten, für die genannten Zeiträume mehr als 90 %. Viele Auswanderer aus Württemberg und Baden siedelten in den USA im sogenannten »German Belt«. Dies ist ein Landstrich im Mittleren Westen der USA , der sich über die Staaten Wisconsin, Michigan, Minnesota, Iowa, North Dakota, South Dakota und Nebraska erstreckt. Die Gesamtzahl der deutschen Auswanderer in die USA zwischen den Jahren 1820 und 1890 übersteigt die statistisch erfassten Auswandererzahlen beträchtlich, da die Dunkelziffer der deutschen Auswanderer im 19. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen – wie zum Beispiel die illegale Auswanderung als Flucht vor dem Militärdienst – sehr hoch war. Viele seriöse Schätzungen gehen heute davon aus, dass zwischen 1820 und 1920 etwa 6 Mill. Deutsche auswanderten.

In einem Beitrag zur Statistik der inneren Verwaltung des Großherzogtums Baden aus dem Jahre 1857 heißt es: »Die Nachrichten von jenen Auswanderern, deren Reiseziel Nordamerika war, lauteten mit einigen wenigen Ausnahmen sehr günstig. Wer zur rechten Jahreszeit in Amerika ankam und arbeiten wollte, fand bald reichlich Verdienst, was auch aus den bedeutenden Summen hervorgeht, welche die Auswanderer in ihre frühere Heimat sendeten, um zurückgebliebene arbeitsunfähige Verwandte zu unterstützen und arbeitsfähige Verwandte in die neue Heimat nachkommen zu lassen. Durch die Einwanderer wurden für Erzeugnisse der badischen Landwirtschaft und Industrie in den verschiedenen Teilen Nordamerikas neue Absatzwege eröffnet, welche für manche Zweige der vaterländischen Gewerbstätigkeit von Bedeutung geworden sind. Weniger günstig waren die Nachrichten von jenen Auswanderern, welche ein anderes Reiseziel als Nordamerika gewählt hatten. Insbesondere ist eine große Anzahl von jenen, welche nach Algier ausgewandert sind, tödlichen Krankheiten erlegen. In die alte Heimat sind nur wenige Auswanderer zurückgekehrt, aber auch diese haben die Überzeugung zurückgebracht, dass der Besitzlose nicht auf die öffentliche Unterstützung sich verlassen dürfe, sondern arbeiten müsse. Die Zurückgekehrten suchen nun sich ehrlich zu ernähren.«

Die große Welle der Auswanderungsbewegung ebbte in den 1890er-Jahren wieder ab. Der Hauptgrund war eine anhaltend boomende Konjunktur in allen Staaten des Deutschen Reiches. Die Gründe des Booms waren die rapide zunehmende Industrialisierung und die nun verstärkt wirkenden Investitionen aus den französischen Reparationsleistungen nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/1871. Sie führten zu einer Blüte von Handwerk, Industrie und Handel. Nun kam es innerhalb Deutschlands verstärkt zu massiven Binnenwanderungen. Viele Landarbeiter und Kleinstädter zogen mit ihren Familien in die neuen industriellen Ballungszentren wie etwa dem Ruhrgebiet. Unter dem Aspekt der zunehmenden Urbanisierung Deutschlands kam es auch zu verstärkten Wanderungsbewegungen von Teilen des verarmten Landproletariats in die großen Städte wie zum Beispiel in die sich rasant vergrößernde Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches, Berlin. Ein weiterer Grund für den Rückgang der Auswanderungszahlen aus Deutschland ist die ab den frühen 1890er-Jahren einsetzende und lange anhaltende wirtschaftliche Depression in den USA.

Neue Hoffnung und großes Leid

Die Auswanderung aus Deutschland nahm erst in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts wieder zu und erreichte Mitte der 1920er-Jahre ihren Höhepunkt. Auch hierfür lagen die Gründe in der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit vieler verzweifelter Menschen in der Zeit der Inflation und ihrer Folgen des im 1. Weltkrieg besiegten Deutschlands. So wanderten 1925 aus Baden über 4 700 und aus Württemberg über 5 000 Personen dauerhaft aus. Erst ab dem Zeitpunkt der Weltwirtschaftskrise 1929 gingen die Auswanderungszahlen erneut zurück, da auch die USA von ihr betroffen waren. Das Auswanderungsverhalten hatte sich in der Zeit der Weimarer Republik geändert, denn nicht mehr alleine die USA waren das bevorzugte Land der Emigranten. Ganze Gruppen emigrierten nach Argentinien und Brasilien. Hier entstanden oftmals deutschsprachige Siedlungen. Ein Landstrich in Südbrasilien heißt heute noch Neu-Württemberg.

Zu einem erneuten Anstieg der Auswanderungszahlen kam es erst wieder ab dem Jahre 1933. Die Politik der Nationalsozialisten zwang viele Menschen das Land zu verlassen. Insbesondere war unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nazis ein verstärkter Exodus von jüdischen Emigranten und politisch Andersdenkenden aus Deutschland zu verzeichnen. Prominente Beispiele waren Albert Einstein, Heinrich und Thomas Mann, Berthold Brecht, Erich Maria Remarque, Billy Wilder und Marlene Dietrich. Konkrete Daten über diese erzwungenen Auswanderungen wurden von den Nationalsozialisten nie veröffentlicht.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges ab Mitte 1945 wanderten erneut viele Menschen aus Deutschland hauptsächlich nach den USA, Australien und Südamerika aus. Die Ursache war in erster Linie die ökonomische Perspektivlosigkeit der Nachkriegszeit im weitgehend zerstörten und wirtschaftlich ruinierten Deutschland. Auch viele Wissenschaftler verließen dauerhaft ihr Heimatland, weil sie aufgrund der von den Alliierten erlassenen Forschungseinschränkungen, die in Deutschland bis 1955 in Kraft blieben, keine Möglichkeit hatten, sich in ihren originären Forschungsbereichen zu betätigen. Bis Ende der 1950er-Jahre verließen jährlich mehrere zehntausend Menschen die Bundesrepublik Deutschland, um anderswo ihr Lebensglück zu suchen.

In der Fremde machten sie ihr Glück

Als Beispiele für eine besonders erfolgreiche Auswanderung sollen nachfolgend kurz die Lebenswege je eines Badeners und eines Württembergers skizziert werden. So emigrierte Johann Jacob Astor aus Walldorf bei Heidelberg als junger Mann in die USA. Der deutsche Emigrant wurde in den USA vor allem durch Pelzhandel und Immobilien zum reichsten Mann seiner Zeit. Er war der erste Multimillionär Amerikas und hinterließ ein Vermögen von 20 Mill. Dollar, das sind nach heutigem Geldwert ca. 110 Mrd. US-Dollar. 1785 begann Astor sich in seinem neuen Heimatland mit dem Pelzhandel zu beschäftigen. Ab 1787 verbrachte er jedes Jahr den Sommer in Kanada, kaufte Pelze und ließ sie über London nach New York bringen, wo er sie gewinnbringend verkaufte. So wurde er schnell zum größten Pelzhändler der Vereinigten Staaten. Astor zeichnete sich durch eine gewisse Skrupellosigkeit aus, so schreckte er auch vor moralisch eher zweifelhaften Geschäftspraktiken wie seinem Opiumhandel mit China etwa zwischen 1808 und 1818 nicht zurück. Andererseits wendete er viel Geld für wohltätige Zwecke auf. Als Astor Mitte des 19. Jahrhunderts verstarb, gehörte er zu den reichsten Männern der Welt.

Einen ganz anderen Weg beschritt der Laupheimer Carl Laemmle. Laemmle kam 1867 im oberschwäbischen Laupheim als Sohn eines jüdischen Viehhändlers zur Welt. Nach einer kaufmännischen Ausbildung wanderte er 1884 zusammen mit seinem Schulfreund Leopold Hirschfeld im Alter von 17 Jahren in die USA aus. Nach zahlreichen gelungenen kaufmännischen Unternehmungen gründete Laemmle 1910 seine erste Filmfirma, die Independent Motion Picture Company, das sind die heutigen Universal Studios. Er war deren Vorsitzender bis zu seinem Tode im Jahre 1939. Carl Laemmle gehörte in dieser Funktion zu den mächtigsten Studiobossen seiner Zeit und war Produzent von über 400 Filmen. Er wird auch als der Begründer der amerikanischen Filmindustrie in Hollywood bezeichnet. Als erster erkannte er, dass man die Massen für die neue Kunstform des Spielfilms begeistern konnte.

Neben diesen Paradebeispielen erfolgreicher Emigration gab es Millionen deutscher Auswanderer, die in der Ferne ihr kleines privates Glück und einen bescheidenen Wohlstand in ihren neuen Heimatländern fanden. Dabei sollen aber diejenigen nicht vergessen werden, die in der Fremde scheiterten und oftmals in Not und Elend schmählich zugrunde gingen. Auch von ihnen gab es mehr als genug.

… und in der Zukunft ?

Ein- und Auswanderungen unterliegen gewissen Wellenbewegungen bedingt durch die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in den aufnehmenden und abgebenden Ländern. Nachdem – wie oben gezeigt – in Baden-Württemberg über einen sehr langen Zeitraum viele Menschen ausgewandert sind, wanderten in den letzten Jahrzehnten verstärkt Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen ein. So leben heute etwa 2,8 Mill. Menschen mit Migrationshintergrund – zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer, Spätaussiedler und Eingebürgerte sowie deren Kinder – in Baden-Württemberg. Ihr Anteil liegt hierzulande mit rund 25 % deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 19 %. Wenn auf Grund des demografischen Wandels in verschiedenen Bereichen ein Mangel an Fachkräften verursacht oder verstärkt wird, so wäre ein wesentliches Element zur Fachkräftesicherung, dass auch in Zukunft junge gut qualifizierte Menschen nach Baden-Württemberg zuwandern.