:: 4/2020

Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Baden-Württemberg 2018

Ein Sachstandsbericht – 10 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention

Die zentrale Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 in Deutschland ratifiziert wurde, ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. In Verbindung mit der UN-Kinderrechtskonvention werden Kindern mit Behinderungen besondere Bedarfe und Rechte zugesprochen. Ein zentrales Instrument zur Umsetzung der Konventionen stellt in Deutschland die gesetzlich verankerte Eingliederungshilfe dar. Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz (BTHG), das bis 2023 in mehreren Stufen in Kraft tritt, soll die Eingliederungshilfe weiterentwickelt und Menschen mit Behinderungen zu mehr individueller Selbstbestimmung verholfen werden.

Wie sich der Sachstand der Inanspruchnahme und Finanzierung der Eingliederungshilfen 10 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention und 1 Jahr vor der gesetzlichen Neuorganisation durch die dritte Stufe des neuen BTHG darstellte, wird im Folgenden anhand von Daten der amtlichen Statistik aufgezeigt.

Menschen mit Behinderung in der amtlichen Statistik

Um einen Überblick über die Anzahl junger Menschen mit Behinderungen in der Gesamtbevölkerung Baden-Württembergs zu erhalten, muss auf zwei sehr unterschiedliche Datengrundlagen zurückgegriffen werden, die nur eingeschränkt miteinander vergleichbar sind. Schwerbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 50 und mehr, die einen gültigen Schwerbehindertenausweis besitzen werden im Rahmen der Schwerbehindertenstatistik erhoben. Es handelt sich hierbei um eine 2-jährliche Vollerhebung zum Stichtag 31. Dezember.

Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 werden im Rahmen des Mikrozensus erhoben. Es handelt sich hierbei um eine repräsentative Stichprobenerhebung die jährlich durchgeführt wird.

Neben Menschen mit einer vorliegenden Behinderung haben auch solche mit einer drohenden Behinderung Anspruch auf Eingliederungshilfe. Eine drohende Behinderung liegt vor, wenn eine entsprechende Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 2 Absatz 1 Satz 2 SGB IX). Diese Personengruppe kann anhand der amtlichen Statistik nicht abgebildet werden.

Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe setzt neben einer Behinderung oder drohenden Behinderung zusätzlich voraus, dass eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Demnach entspricht die Anzahl der Menschen mit einer Behinderung oder drohenden Behinderung nur in Teilen dem Anteil der Bevölkerung mit Anspruch auf Eingliederungshilfe (Übersicht).

Rund 24 000 Minderjährige mit Schwerbehinderung

Gemäß der Schwerbehindertenstatistik galten zum Jahresende 2017 rund 940 000 Menschen in Baden-Württemberg als schwerbehindert. Davon waren rund 24 000 Menschen (2,5 %) unter 18 Jahre alt. Das entsprach 1,3 % dieser Altersgruppe in der Gesamtbevölkerung. Folgende Arten der schwersten Behinderung wurden bei dieser Personengruppe angegeben:

  • Störung der geistigen Entwicklung wie etwa eine Lernbehinderung oder eine geistige Behinderung (33 %),
  • Beeinträchtigungen der Funktion von inneren Organen beziehungsweise Organsystemen (20 %),
  • Taubheit/Schwerhörigkeit (5 %),
  • Funktionseinschränkungen von Körperteilen (4 %),
  • Blindheit/Sehbehinderung (3 %),
  • Neurosen/Persönlichkeitsstörungen (3 %),
  • anderweitig nicht einzuordnende oder ungenügend bezeichnete Behinderungen (23 %),
  • Sonstige (8 %)

Diesbezüglich unterscheiden sich die Minderjährigen sehr stark von der Gruppe der volljährigen Personen mit Behinderung, bei welchen als Art der schwersten Behinderung die Störung der geistigen Entwicklung lediglich 4 % der Fälle ausmachte.

Der Behinderungsgrad lag bei 24 % der unter 18-Jährigen mit Schwerbehinderung bei 50, bei 39 % wurde ein Behinderungsgrad zwischen 60 und 90 festgestellt. Einen Grad von 100 wiesen 37 % der Minderjährigen auf.

Weniger als 5 000 Minderjährige mit leichter Behinderung

Die Anzahl der Menschen mit einem Behinderungsgrad unter 50 betrug nach dem Ergebnis des Mikrozensus 2017 rund 288 000. Davon waren weniger als 5 0001 Personen jünger als 18 Jahre. Bei jeweils 25 % der Minderjährigen wurde ein Behinderungsgrad von unter 30 oder von 30 bis unter 40 festgestellt. Einen Grad von 40 bis unter 50 wiesen 50 % der Minderjährigen mit leichter Behinderung auf.

Unterschiedliche Gesetzesgrundlagen für Eingliederungshilfen

Minderjährige mit Behinderung oder drohender Behinderung die im Jahr 2018 Anspruch auf Eingliederungshilfe hatten, konnten im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe (Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) § 35a) oder der Sozialhilfe (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) 6. Kapitel) entsprechende Leistungen erhalten. Für die Zuordnung ist die Art der Behinderung ausschlaggebend. Kinder und Jugendliche mit ausschließlich (drohender) körperlicher und/oder geistiger Behinderung erhalten vorrangig Eingliederungshilfen durch die Sozialhilfe. Besteht hingegen ein ausschließlicher Bedarf aufgrund einer (drohenden) seelischen Behinderung wird vorrangig eine Eingliederungshilfe durch die Jugendhilfe gewährt.

Aufgrund der unterschiedlichen Gesetzesgrundlagen, die nicht trennscharf formuliert sind, ist die Zuständigkeit der Jugend- oder Sozialhilfe bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen nicht immer eindeutig.2

Eingliederungshilfe im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe …

Im SGB VIII § 35a ist die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung geregelt. Rund 12 000 unter 27-Jährige, darunter gut 11 000 Minderjährige, nahmen diese Hilfe im Jahr 2018 in Anspruch. 3 73 % der Minderjährigen mit Eingliederungshilfe waren männlich. Am häufigsten wurden Eingliederungshilfen für unter 18-Jährige in Räumen ambulanter Dienste oder Beratungsstellen durchgeführt (37 %), gefolgt von Hilfen in Schulen (32 %) und in Kindertageseinrichtungen (9 %). Hauptgründe der Hilfegewährung waren 2018 in fast jedem zweiten Fall (47 %) Entwicklungsauffälligkeiten oder seelische Probleme. Bei 27 % der Minderjährigen wurde eine Eingliederungshilfe aufgrund schulischer oder beruflicher Probleme und bei 14 % aufgrund von Auffälligkeiten im sozialen Verhalten gewährt. Die weiteren 12 % entfallen auf sonstige Gründe.

Die öffentlichen Ausgaben für Eingliederungshilfen für unter 18-Jährige im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) betrugen im Jahr 2018 rund 180 Mill. Euro. Das entsprach 11 % der Gesamtausgaben für Einzel- und Gruppenhilfen nach dem SGB VIII. Bezogen auf die gut 11 000 Minderjährigen mit Eingliederungshilfe nach SGB VIII im Jahr 2018 ergibt das durchschnittliche Ausgaben in Höhe von fast 16 000 Euro je Hilfeempfänger bzw. Hilfeempfängerin.

… in der zeitlichen Entwicklung

Die zeitliche Entwicklung der Inanspruchnahme von Eingliederungshilfen in der Jugendhilfe (SGB VIII) zeigt eine stetige Zunahme. Im Vergleich zum Jahr 2009 wurden 2018 fast doppelt so viele Eingliederungshilfen gewährt (+ 95 %). Auch die Steigerung zum Vorjahr ist hoch (+ 17 %).

Betrachtet man im Vergleich dazu die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Seit 2009 hat sich die Summe der öffentlichen Ausgaben für Eingliederungshilfen mehr als verdoppelt (+ 125 %). Auch der prozentuale Anteil an den Gesamtausgaben ist in den letzten 10 Jahren mit + 1,3 Prozentpunkten leicht gestiegen (Schaubild 1).

… in den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs

Der Anteil der unter 18-Jährigen, die Eingliederungshilfe nach SGB VIII erhielten, an allen Minderjährigen in der Gesamtbevölkerung lag 2018 in Landkreisen wie Tuttlingen oder Ravensburg unter 20 je 10 000, während der Anteil in anderen Kreisen wie beispielsweise dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald oder dem Stadtkreis Freiburg über 100 je 10 000 betrug. Der Landesdurchschnitt lag bei 60 je 10 000 Minderjährigen (Schaubild 2).

Eingliederungshilfe im Rahmen der Sozialhilfe …

Bis zum Jahr 2019 war die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen im 6. Kapitel Zwölftes Sozialgesetzbuch (SGB XII) geregelt (siehe i-Punkt). Im Jahr 2018 empfingen rund 85 000 Menschen entsprechende Leistungen.4 Knapp 25 000 oder 29 % davon hatten die Volljährigkeit noch nicht erreicht. 65 % der Minderjährigen erhielten Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, 33 % Heilpädagogische Leistungen, und weiteren 5 % wurden Hilfen in betreuten Wohnmöglichkeiten gewährt.5 Die Dauer der Leistungsgewährung lag bei 40 % der Minderjährigen unter 1 Jahr, bei 48 % zwischen 1 und 7 Jahren und bei 12 % wurde die Hilfe für 7 Jahre oder länger gewährt.

Von den öffentlichen Ausgaben der Sozialhilfe (SGB XII) entfielen 2018 insgesamt 2 Mrd. Euro und somit 73 % des Gesamtvolumens auf die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung. Eine Aufteilung nach Altersgruppen ist bei diesen Daten nicht möglich. Bezieht man die Ausgaben auf alle Personen die 2018 eine Eingliederungshilfe im Rahmen der Sozialhilfe (6. Kapitel SGB XII) in Anspruch genommen haben, ergibt sich ein Betrag von fast 24 000 Euro je Hilfeempfänger bzw. Hilfeempfängerin.

… in der zeitlichen Entwicklung

Die zeitliche Entwicklung der Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe in der Sozialhilfe zeigt deutliche Zunahmen in den vergangenen 10 Jahren. Im Jahr 2018 wurden 32 % mehr Eingliederungshilfen gewährt als noch im Jahr 2009. Die Steigerung zum Vorjahr beträgt 11 %.

Auch die Entwicklung der öffentlichen Sozialhilfeausgaben im Bereich der Eingliederungshilfen zeigt einen steigenden Trend. Im Vergleich zum Jahr 2009 ist die Summe um 53 % gestiegen (für alle Altersjahre). Der prozentuale Anteil an den Gesamtausgaben der Sozialhilfe (SGB XII) ist in diesem Zeitraum um 3 Prozentpunkte gestiegen (Schaubild 3).

… in den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs

Bei der Eingliederungshilfe nach SGB XII reichte die Spanne der Inanspruchnahme im Jahr 2018 von 41 je 10 000 Minderjährigen im Landkreis Esslingen bis hin zu 357 je 10 000 im Landkreis Schwäbisch Hall. Im Landesdurchschnitt erhielten 133 von 10 000 unter 18-Jährigen eine Eingliederungshilfe gemäß SGB XII (Schaubild 4).

Ausblick

Seit Inkrafttreten der UN-Behindertenkonvention sind sowohl bei der Inanspruchnahme als auch bezüglich der öffentlichen Ausgaben für Eingliederungshilfen gemäß SGB VIII und SGB XII deutlich steigende Tendenzen erkennbar. Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz soll die Entwicklung weiter vorangetrieben werden. Infolge der gesetzlichen Neuregelung ergibt sich außerdem eine neue, separate statistische Erfassung, um umfassende und zuverlässige Daten über die sozialen und finanziellen Auswirkungen des BTHG bereitstellen zu können. Ob die gesetzliche Neuregelung tatsächlich die erhoffte Verbesserung bringt, wird sich unter anderem anhand der statistischen Daten zeigen.

1 Werte unter 5 000 werden nicht ausgewiesen, da die Zahlenwerte nicht sicher genug sind.

2 Rechtsgrundlage für die Zuordnung ist § 10 Abs. 4 Satz 1 u. 2 SGB VIII.

3 Im Jahr beendete und am Jahresende andauernde Hilfen.

4 Im Jahr beendete und am Jahresende andauernde Hilfen

5 Bei der Angabe der Leistungsarten sind Mehrfachnennungen möglich.