:: 4/2022

Was ist Familie heute? Wie ist Familie heute möglich?

Ein Gespräch

Die FamilienForschung Baden-Württemberg feiert 2022 ihr 40-jähriges Bestehen. Seit 1982 ist die FaFo eine wissenschaftliche Analyseeinheit des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Gegründet wurde sie vom damaligen Präsidenten Prof. Dr. Max Wingen. Ein Jahr älter ist der Landesfamilienrat Baden-Württemberg. Er wurde 1981 auf Anregung der damaligen Sozialministerin Annemarie Griesinger gegründet. Das Jubiläum der FaFo liefert den Anlass für das folgende Gespräch zwischen Rosemarie Daumüller und Dr. Bernd Eggen über zentrale Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung der FaFo.1

Daumüller: Die Vorstellungen davon, was Familie ist, haben sich immer wieder gewandelt und geweitet. Von der Sippe bis zur Kernfamilie. Von der verheirateten Vater-Mutter-Kinder-Familie zu Alleinerziehenden oder gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kindern. Aktuell diskutieren wir über Verantwortungsgemeinschaften. Was würden Sie sagen: Was ist Familie heute?

Eggen: Es gibt keine allgemeingültige Vorstellung darüber, was Familie ist. Sie selbst haben bestimmte Vorstellungen, ebenso die Politik oder unser Rechtssystem. Mittlerweile kann jede Lebensform zur Familie zählen, in der dauerhaft und verlässlich Verantwortung füreinander übernommen wird, in der die Erwartungen an wechselseitiger Fürsorge und Bindung erfüllt werden. Als Familie kann jede Lebensform gelten, bei denen die beteiligten Mitglieder sich als Familie verstehen, also zu einer Familie zugehörig beobachten. Damit haben all diese Lebensformen eins gemeinsam: Wie Familie in der Gegenwart möglich ist, nämlich durch Selbstherstellung und Selbstgestaltung. Kurzum: Was Familie ist, kann nur die Familie selbst bestimmen. Es ist also zu unterscheiden, was zur Familie zählt und wie sie möglich ist.

Was zählt für Sie in der Wissenschaft alles zur Familie?

Zur Familie zählen Lebensformen mit und ohne Kinder. Zu den notwendigen Merkmalen der Familie gehören dann weder eine Reproduktionsfunktion noch eine Generationsbeziehung. Im Gegensatz zur Elternschaft: Sie hat eine Generationsbeziehung, Familie kann darauf verzichten. Heute reicht das Spektrum von Familienformen ohne Elternschaft und Kindschaft, zum Beispiel sogenannte »Wahlverwandtschaften«, »Sorgegemeinschaften« oder der derzeit in der Politik diskutierten »Verantwortungsgemeinschaft«, bis hin zu Familienformen mit unterschiedlichen Konstellationen von Partnerschaft, Elternschaft und Kindschaft.

Für eine Familie reichen also zwei Menschen aus, die füreinander da sein wollen, Verantwortung übernehmen, die aber weder miteinander verwandt sein noch verschiedenen Generationen angehören müssen. Familie scheint ein attraktiver Begriff zu sein. Vielleicht, weil die Definition als Familie einen Schutzraum verspricht und auch eine gesellschaftliche Anerkennung. Aber schon hier stellt sich die Frage, ob jede Familie mit rechtlichen Folgen und/oder finanzieller Förderung verbunden ist. Und wenn ja, in welchem Umfang. Denn darum wird es gehen.

Mit Familie ist die Idee verbunden, dass sie in der Moderne der einzige Ort ist, an dem der Mensch als Person für alles, was ihm wichtig ist, Resonanz erwarten kann. Es entstehen scheinbar neue Formen von Familie, die auch Anerkennung und Förderung beanspruchen können. Es sind jedoch stets politische Entscheidungen, was ökonomisch und rechtlich als Familie unterstützt werden soll. Diese Entscheidungen orientieren sich beispielsweise an Regierungsprogrammen wie dem derzeitigen Koalitionsvertrag. Solche Programme oder auch Parteiprogramme enthalten Ideen von Familie, die andere Ideen sein können als die Vorstellungen jener, die sich selbst als Mitglied einer Familie sehen.

Und welche Familienformen mit Kindern können beobachtet werden?

Es gibt eine Vielfalt von Familienformen mit Eltern und Kindern. Diese Vielfalt umfasst Familien ohne Partnerschaft, also Alleinerziehende, oder mit Partnerschaft, begründet mit oder ohne Liebe. Eine Elternschaft ohne ein von den Partnern gewolltes Liebesverhältnis bezeichnet man als Co-Elternschaft. Die Partnerschaft der Eltern variiert entlang ihres biologischen Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung, sie leben zusammen heterosexuell als Frau und Mann oder homosexuell als zwei Frauen oder zwei Männer oder jenseits dieser Zweigeschlechtlichkeit etwa als Bisexuelle, Transsexuelle oder Intersexuelle und dies jeweils in Monogamie oder Polyamorie. Es gibt Familien, in denen sich die rechtliche und familiale, also faktische Elternschaft decken mit der Partnerschaft der erwachsenen Personen. Hierzu gehören die Mutter- und Vaterschaft in ehelicher Verbindung, die Mutterschaft in Frauenehen und die Vaterschaft in Männerehen. Neben dieser Zweisamkeit der Eltern kann die Anzahl der faktischen Eltern einer Familie auch mehr als zwei Erwachsene umfassen, etwa in Stief- und Kernfamilien, Queer-Familien mit zwei Müttern und zwei Vätern, oder bei drei Vätern oder zwei Müttern zusammen mit einem Transmenschen. In solchen Familien kann eine Co-Elternschaft aus zwei Eltern, die in einer Intimbeziehung leben, mit einer dritten erwachsenen Person bestehen. Die drei Eltern übernehmen eine gemeinsame Verantwortung für die Erziehung eines Kindes ohne eine Liebesbeziehung zwischen allen Eltern. Geschwister können dieselben oder verschiedene Eltern haben.

Die Konstellationen sind fast unerschöpflich. Bei aller Diversität geht es für mich darum, dass in jeder Familienform die Kinder gute Bedingungen für ihr Aufwachsen haben. Ich halte es deshalb für sehr wichtig, dass Kinder keinen rechtlichen oder sonstigen Nachteil daraus haben, ganz egal, für welche Lebensform oder Elternschaft sich ihre Eltern entschieden haben. Wir hatten in Deutschland lange ein Zwei-Klassen Recht zwischen ehelichen und nicht-ehelichen Kindern. Daraus haben wir hoffentlich gelernt.

Diese verschiedenen Formen von Familien mit Eltern und Kindern kommen aber unterschiedlich häufig vor? Die verheiratete Paarfamilie nimmt zwar zahlenmäßig seit Jahren ab, ist aber noch immer die häufigste Familienform.

Richtig, es gibt Familienformen, die sind häufig, und andere, die sind sehr selten. Obwohl die amtlichen wie nicht amtlichen Statistiken nur unzureichend die verschiedenen Familienformen erfassen, lassen sich Präferenzen für eine Zweisamkeit und Exklusivität der Partnerschaft der Eltern beobachten, also zum Beispiel Frau und Mann, zwei Frauen oder zwei Männer sowie eine Präferenz für die soziale und biologische Einheit der Elternschaft bei wenigstens einem der zwei Eltern. Ich benutze in diesem Zusammenhang gerne die Metapher von Zähler und Nenner. Oben auf dem Zähler stehen die verschiedenen Familienformen mit ihren unterschiedlichen Häufigkeiten, unten im Nenner, was sie gemeinsam haben: die Art und Weise, wie sie möglich sind: eben durch Selbstherstellung und Selbstgestaltung (Übersicht 1 »Lebensformen – Lebensgemeinschaften als Familie«).

Mit Selbstherstellung und Selbstgestaltung meinen Sie was? Die Selbstdefinition als Familie oder einfach das Faktische, die Fortpflanzung und das funktionierende Zusammenleben als Familie?

Selbstherstellung und Selbstgestaltung meint, dass die Personen für sich entschieden haben, zusammenzuleben und sich dabei an den Erwartungen und Interessen des jeweils anderen orientieren. Es sind dann die beteiligen Personen, die sich selbst als Familie beschreiben, sich zugehörig zu einer Familie sehen. Vorgaben durch Politik oder Religion, aber auch Traditionen der Herkunftsfamilie oder sozialen Schicht geraten »gefiltert« durch die Familienmitglieder in die Familie und werden dort entlang der jeweiligen persönlichen Interessen behandelt und verhandelt. Diese Selbstherstellung und Selbstgestaltung macht die einzelne Familie nur für sich und nicht für die Gesellschaft, aber dadurch, dass sie es nur in der Gesellschaft machen kann, erbringt sie wichtige Leistungen für andere Bereiche der Gesellschaft. Zu den spezifischen Leistungen der Familien gehört, dass sie ihre Kinder auf die spätere Beteiligung in Schule, Wirtschaft und Staat vorbereiten und mit den jeweils dort geltenden Regeln vertraut machen, also das Kind in einer liebenden und sorgenden Weise zu befähigen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Eltern übernehmen damit umfassende Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder, Familien übernehmen Verantwortung, und damit Zeit und Kosten für die Pflege und Sorge kranker oder alter Familienmitglieder. Es ist wichtig, die Selbstherstellung und Selbstgestaltung als soziale Prozesse zu beobachten und sie von biologischen Sachverhalten der Fortpflanzung zu unterscheiden.

Damit haben wir den Übergang zur Elternschaft. Sie unterscheiden bei Elternschaft, anders als in der Familienwissenschaft üblich, in soziale, psychische und biologische Elternschaft? Zudem unterscheiden Sie bei sozialer Elternschaft in familiale und rechtliche Elternschaft; bei biologischer Elternschaft in genetische und nicht genetische Elternschaft. Wieso und wozu dient das?

Wer die Familie und ihre heutige Vielfalt wissenschaftlich angemessen begreifen will, benötigt präzise Begriffe und Unterscheidungen. Zu einer unabdingbaren Tätigkeit in der Wissenschaft gehört deshalb die stetige Arbeit am Begriff. Gerade in der Familienwissenschaft ist es wichtig, ein Alltagswissen, selbst wenn dieses gut informiert ist, nicht mit wissenschaftlichem Wissen zu verwechseln. Auf diese Weise verhindert man beispielsweise eine unscharfe Verwendung des Begriffs »sozial« bei Elternschaft.

Was verstehen Sie unter einer unscharfen Verwendung des Begriffs »sozial«?

Im Alltag bezeichnet der Begriff eher Sachverhalte mit positiven Konnotationen, zum Beispiel dieses Verhalten ist sozial im Sinne von gut und richtig im Gegensatz zu jenem unsozialen Verhalten. Sozialpolitik wird generell als etwas Wünschenswertes begriffen. In der Familienforschung wird der Begriff »sozial« ähnlich unscharf verwendet, wenn etwa zwischen sozialer und rechtlicher Elternschaft unterschieden wird. Nach dieser diffusen Unterscheidung wären rechtliche Sachverhalte der elterlichen Sorge oder Verhandlungen mit Eltern und Kindern im Gericht keine sozialen Sachverhalte der Elternschaft. Eine weitere ungenaue Unterscheidung ist übrigens die zwischen genetischer und biologischer Elternschaft. Diese unscharfen Unterscheidungen sind insofern paradox, weil sie behaupten, sozial sei nicht rechtlich, genetisch nicht biologisch. Ähnlich widersinnig sind hybride Begriffe wie etwa »psychosozial«, »sozialpsychisch« oder gar »biopsychosozial«. Diese Begriffe einen Sachverhalte, die nicht zu einen sind. Soziale, psychische und biologische Sachverhalte sind analytisch, also wissenschaftlich nur getrennt zu beobachten. Und man kann sich im Weiteren die Frage stellen, in welchem Verhältnis, etwa in Abhängigkeit und Unabhängigkeit, sie zueinanderstehen. Ein letztes Beispiel für eine unscharfe Verwendung ist der Begriff »sozialfamiliär«. Dieser Begriff im Zusammenhang mit Elternschaft und Verwandtschaft ist tautologisch, denn er trifft eine Unterscheidung, die keine ist: sozial ist familiär ist sozial ist familiär etc. Solche weißen Schimmel gilt es nicht unbedingt im Alltag, aber in der Wissenschaft zu vermeiden, wenn man, auch später in der Praxis, angemessen begreifen will, was Familie heute ist, und vor allem: Wie sie möglich ist.

Als sozialen Vater bezeichnet man beispielsweise den Mann, der das Kind zwar nicht gezeugt hat, aber mit ihm über längere Zeit zusammengelebt und Verantwortung übernommen hat. Aber Sie haben recht, der biologische Vater kann – und ist es häufig auch – der soziale Vater sein. Mit der Unterscheidung oder dem Auseinanderfallen bei biologischer Elternschaft in genetische und nicht genetische Mutterschaft – zum Beispiel Eizellspende, Leihmutterschaft – kommen weitere Varianten hinzu. Das wird uns in der Zukunft noch beschäftigen.

Ich habe dennoch nicht ganz verstanden, was wir von der scharfen Verwendung des Begriffs soziale Elternschaft haben?

Im Alltag wird das »Soziale« normativ begründet, in der Wissenschaft ist es logisch zu begründen. Je präziser die Begriffe dafür sind, desto genauer kann man Gesellschaft beobachten, Sachverhalte unterscheiden und begreifen. Dabei kann von dem was ist ein wissenschaftliches Wissen entstehen, das angewandt werden kann, um das Alltagswissen der Familien oder der Politik zu verbessern. Im besten Fall entsteht im Alltag ein Verstehen der Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten zwischen Physis, Psyche und Sozialem, also zwischen Leib, Bewusstsein und Gesellschaft. Denken Sie nur an die zahlreichen Widersprüche und Konflikte in den alltäglichen Diskussionen um Geschlecht oder über Techniken der Reproduktionsmedizin. Gerade im Zusammenhang mit Familie ist es wichtig, zu wissen, dass nichts von vornherein natürlich ist, sondern alles, auch das »Natürliche« kulturell, also gesellschaftlich überformt ist, und damit stets erklärungsbedürftig und nie grundsätzlich selbstverständlich. Und Übrigens, dass nicht das Empfinden und Befinden, nicht Gefühle und Gedanken, sondern nur ihre Erscheinungen in der Gesellschaft beobachtet und interpretiert werden können, darauf verwies schon Hegel. Um all das angemessen zu begreifen, bedarf es eben präziser Unterscheidungen. Aber dazu sicherlich im Laufe des Gespräches noch mehr.

Was beinhalten denn diese von Ihnen unterschiedlich bezeichneten Formen der Elternschaft?

Im Vordergrund der verschiedenen Formen der Elternschaft stehen ihre Entstehung und die mögliche Anzahl der Eltern (siehe Übersicht 2 »Formen der Elternschaft«). So entsteht biologische Elternschaft genetisch durch Zeugung und nicht genetisch durch Geburt. Zur genetischen Elternschaft gehören all jene, die mit ihren Gameten oder Teilen von ihnen zur Zeugung beitragen. Eine ausschließlich nichtgenetische Elternschaft wäre die Leihmutterschaft bzw. Tragemutter. Die mögliche Anzahl biologischer Eltern ist vor dem Hintergrund moderner Reproduktionstechnologien nahezu beliebig. Denken Sie bei einer genetischen Elternschaft etwa an die sogenannte CRISPR/cas-Methode, die reproduktionstechnisch eingreift in die beteiligten Zellen vor, während und nach der Befruchtung. Diese Zellen können durch das genetische Material anderer Personen verändert werden.

Und diesen vielen Möglichkeiten wollen wir mit dem Abstammungs- und Familienrecht noch hinterherkommen.

Vergleichsweise einfach ist die psychische Elternschaft, weil wir von ihr am wenigsten wissen. Sie ist und bleibt für uns eine Black Box. Sie entsteht durch Gefühle und Gedanken. Grundsätzlich sind mehr als zwei Elternteile möglich.

Warum ist für Sie die psychische Elternschaft eine Black Box? Und weshalb unterscheiden Sie denn die psychische von der sozialen Elternschaft? Ich habe nur Assoziationen dazu. Für wen sollte das wichtig sein, für die Rechtsprechung etwa, beim Sorge- oder Umgangsrecht? Es geht da ja nicht um die Beziehung, sondern offensichtlich um das Erleben eines Elternteils.

Ja, es geht um das Erleben eines Elternteils als sein Bewusstsein, seine Psyche, bei der Denken und Fühlen eng aufeinander bezogen sind. Denken und Fühlen, Kognition und Emotion sind nicht zu trennen. Wir können jedoch nicht in die Köpfe der Menschen schauen. Was sie empfinden und befinden, was sie denken und bedenken, können wir nicht unmittelbar beobachten. Wir erfahren nur mittelbar durch ihre verbalen und nonverbalen Mitteilungen über ihr Befinden und ihre Bedenken.

Für jene, die trotzdem wissen wollen, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt, lässt sich das Problem der nicht unmittelbaren Beobachtbarkeit beispielsweise in der Psychologie nur über Zeit entfalten, also vornehmlich durch therapeutische Gespräche. In diesen Gesprächen treten dann andere Probleme auf, etwa die der Aufrichtigkeit und Gültigkeit der mitgeteilten Informationen. In der Soziologie versucht man sich diesem Problem anzunehmen, indem man den sozialen Charakter beobachtet, also die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft an der Gesellschaft teilzunehmen und ihre spezifischen Anforderungen zu erfüllen.

Grundsätzlich ist damit die psychische Elternschaft nur für den einzelnen Elternteil relevant, für die Rechtsprechung ist die psychische Elternschaft letztlich irrelevant. Recht orientiert sich an Gesetzen und nicht an Gefühlen. Aber diese Irrelevanz ist fast in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden. Gemessen und vermessen wird der Einzelne daran, was er mitteilt und tut, und nicht was er fühlt und denkt. Deshalb ist es auch wichtig, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltag von Schule, Recht und Staat zu unterscheiden zwischen einem Wohlbefinden und einem Wohl des Menschen. Dieses ist sozial relevant, jenes als psychischer Sachverhalt ist nur dann sozial relevant, wenn über ihn in der Gesellschaft geredet wird. Also vor allem in den einzelnen Familien und eben in der Psychologie.

Damit wären wir bei der sozialen Elternschaft?

Genau. Anders als die psychische Elternschaft ist die soziale Elternschaft in der Gesellschaft höchst relevant. Soziale Elternschaft entsteht allgemein durch eine Übernahme von Verantwortung bei der Erziehung des Kindes. Die familiale Elternschaft entsteht durch eine Selbstverpflichtung der faktischen Eltern zur Verantwortungsübernahme. Grundsätzlich sind mehr als zwei Elternteile möglich. Die rechtliche Elternschaft entsteht durch rechtliche Zuweisung der Verantwortung. In Deutschland erhalten derzeit maximal zwei Personen die sogenannte Vollrechtselternschaft.

Durch welche strukturellen Entwicklungen wird diese Vielfalt an Formen von Elternschaft ausgelöst?

Drei Entwicklungen können beobachtet werden. Dabei ist zu beachten, dass die bisherigen Formen der Elternschaft weiter existieren und nur durch neue Formen ergänzt werden. Da ist erstens die simultane und sequentielle Pluralisierung der Elternschaft. Sie verändert das soziale Verhältnis von Mutter-Vater-Kind. Simultane Pluralisierung bezeichnet die Gleichzeitigkeit bisher sichtbarer Elternschaft und bislang eher verborgener Elternschaft. Simultan wird die verschieden geschlechtliche Elternschaft ergänzt etwa durch die gleichgeschlechtliche Elternschaft und durch Elternschaft, die sich nicht auf zwei Personen begrenzt. Die temporäre, sequenzielle Pluralisierung der Elternschaft bezeichnet eine Abfolge von Elternschaften und entsteht infolge von Trennungen, Scheidungen und Wiederverheiratung. Für die Beteiligten gehören Stief- und Patchworkfamilien zur Normalität. Die zweite Entwicklung ist die Auflösung der biologischen Reproduktionstriade, bestehend aus zwei verschieden geschlechtlichen Paarungspartnern und deren Nachwuchs. Durch die Anwendung der Reproduktionsmedizin kann ein Kind jetzt mehr als zwei biologische Eltern haben. Und als dritte Entwicklung gilt das Auseinanderdriften von biologischer Reproduktionstriade und sozialer Elternschaft. Neue Optionen der Reproduktionsmedizin enthalten verschiedene Varianten einer Zeugung und Fortpflanzung ohne Sexualität. Eizellengeberin, Samengeber und Tragemutter können die biologischen Eltern sein ohne Verpflichtung und Verantwortung der späteren sozialen Elternschaft.

Bei dieser Vielzahl an möglichen Eltern: Verliert man da nicht den Überblick, wer noch zur Familie gehört und wer nicht? Überfordert diese Vielfalt nicht die einzelne Familie?

Tatsächlich stellt sich das Problem der Zuge­hörigkeit im »Wir« einer Familie. Das Problem entsteht vornehmlich durch das Auseinanderfallen von sozialer und biologischer Elternschaft durch Adoption und Pflegschaft, aber vor allem infolge der zunehmenden Anwendung der medizinischen Reproduktionstechnologien bei Zeugung und Schwangerschaft. Zumal Eizellengeberin, Samengeber und Tragemutter als bislang oft ausgeschlossene Dritte wohl immer öfter zur Familie gehören.

Das verändert natürlich auch das Beratungs- und Unterstützungssystem in seinem Selbstverständnis. Wie soll die Praxis etwa in der Familienberatung und Familienbildung mit dieser Vielfalt an Formen der Elternschaft umgehen?

In der Praxis geht es zunächst darum, eine Sensibilität zu entwickeln für die Vielfalt von Familienformen und für präzise Unterscheidungen bei den Formen der Elternschaft mit möglichst präzisen Zuschreibungen. Wer gehört dazu? Wer nicht? Dazu gehört auch eine Sensibilität für eine präzise Unterscheidung von biologischen und sozialen Sachverhalten, von genetischen und sozialen Beziehungen, und damit für die Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten zwischen Körper, Bewusstsein und Gesellschaft.

Also das erhoffte bessere Verstehen im Alltag durch wissenschaftliches Wissen.

Ja, genau. Denn nur so kann man etwa der Gefahr eines naiven Naturalismus und unreflektierten Biologismus entgegentreten. Gerade beim Thema »Familie« wird mancher Sachverhalt als natürlich oder unnatürlich, als gesund oder ungesund bezeichnet. Es ist aber wichtig zu wissen, dass Biologie immer schon kulturell gedeutet ist, in der Vergangenheit anders als in der Gegenwart und Zukunft, an Orten der in Europa ausgelösten Aufklärung anders als an anderen Orten unserer Welt. Biologie ist stets nur als kulturelle, also soziale Interpretation zu begreifen, die entlang von Zeit und Raum variiert. Mit Blick auf die Familienberatung: Hier stehen dann stets persönliche Ansprüche gesellschaftlichen Anforderungen gegenüber. Was dann letztendlich in der Beratung wichtig und entscheidend ist, orientiert sich nicht allein an den Selbstbeschreibungen und Interessen der Familienmitglieder, sondern eben auch zum Beispiel an den rechtlichen Vorgaben etwa beim Unterhalts- oder Erbrecht.

Wird diese Vielfalt der Formen von Familie und Elternschaft nicht auch ausgelöst durch einen Wandel in den Erwartungen und Ansprüchen, die der Einzelne mit Familie und Elternschaft verbindet?

In diesem Zusammenhang wird manchmal weitgehend wertneutral von Individualisierung oder abwertend von einem Selbstverwirklichungsdrang gesprochen. Meines Erachtens greift das erste zu kurz und das zweite daneben. Ich sehe drei Entwicklungen, die die Vielfalt der Formen von Familie und Elternschaft hervorgebracht haben. Erstens: Eine gesteigerte selbstbestimmte Innenorientierung der Familie an Personen infolge ihrer Herauslösung aus traditionalen Bezügen. Seit eh und je gibt es eine Vielfalt von Familienformen. Was sich geändert hat, ist woran sich die beteiligten Personen orientieren, wenn sie eine Familie herstellen und gestalten.

Das ist die bereits erwähnte Selbstherstellung und Selbstgestaltung der Familien?

Ja. Wenn die Mitglieder ihre Familie gründen und gestalten, orientieren sie sich weniger an politischen, rechtlichen, ökonomischen und religiösen Vorgaben. Sie orientieren sich vielmehr am individuellen Interesse der beteiligten Personen und oft an einer Liebe als semantischem Eigensinn und alleinigem Grund für Partnerschaft und Familie. Mit dieser grundsätzlichen Umstellung der Familie von Fremdbestimmung auf Selbstbestimmung verändert sich die Orientierung der familieninternen Kommunikation: Die Person, besonders das Kind als Person, ist in der Gegenwart die primäre Adresse der Orientierung und seltener denn je zuvor weder eine »göttliche« oder »natürliche Ordnung« noch eine Tradition der Herkunftsfamilie oder einer sozialen Schicht.

Und was ist für Sie die zweite Entwicklung?

Eine paradoxe familiale Kommunikation, die seltener auf Hierarchie und häufiger auf Verhandlungen beruht. Zum einen ist die Kommunikation in der Familie abhängig besonders von den Eltern und ihrer jeweils einzigartigen individuellen Sozialisation und ihren singulären Präferenzen. Sie ist abhängig von einer komplexen sozialen Umwelt, zu der politische Entscheidungen und rechtliche Normen gehören wie auch Arbeit und Konsum, Erziehung und Bildung, Ernährung und Gesundheit.

Zugleich verhalten sich Familien aber alles andere als trivial gegenüber äußeren Einflüssen. Ökonomische Anforderungen, politische Ideologien oder in Recht gegossene politische Entscheidungen können die selbstbestimmte Gestaltung und besonders die biologische Gründung einer Familie einschränken und erschweren, begrenzen und belasten. Gleichzeitig ist die zunehmende strukturelle Vielheit der Familien das sichtbare Ergebnis dafür, dass die zahlreichen externen Einflüsse in den Familien selbstbestimmt behandelt werden können, also gleichsam unabhängig von externen Sachverhalten.

Und wie die externen Sachverhalte in der Familie behandelt und verhandelt werden, hat sich doch noch in einer weiteren Hinsicht gewandelt. Das sogenannte Binnenklima der Familien ist heute doch ein ganz anderes als etwa in den 1950er- oder 1960er-Jahren.

Die Kommunikation in der Familie hat sich nachhaltig von hierarchisch strukturierter, auf Abhängigkeit, Befehl und Gehorsam basierender zu egalitärer, partnerschaftlicher Kommunikation gewandelt. Damit hat sich die Geschlechtsrolle der Eltern ebenso verändert wie die Position des Kindes in der Familie, ungeachtet seines Geschlechts. Eine gleichberechtigte Teilnahme der Eltern und die Anerkennung, dass ein Kind eine eigenständige Persönlichkeit ist, dessen Bedürfnisse und Wille in der Erziehung zu respektieren sind, um es in die Lage zu versetzen, autonom über die Art seiner Lebensgestaltung zu entscheiden, bedeutet, dass nun grundsätzlich alle Optionen etwa bei Haushalt, Erwerbsbeteiligung der Eltern und Erziehung des Kindes denkbar und verhandelbar sind. Seltener Befehl, sondern häufiger Verhandlung ist die Form, in der entschieden wird, wie man zusammenlebt, wie man arbeitet, wie man konsumiert, wie man sich ernährt und wie man erzieht.

Sie verweisen auf drei wesentliche Entwicklungen, die die Vielfalt der Formen von Familie und Elternschaft hervorgebracht haben. Welches ist die dritte Entwicklung?

Eine dritte Entwicklung zeigt sich in einem veränderten Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Es sind hier zwei Aspekte hervorzuheben. Einerseits sind die Ansprüche des Individuums an Gesellschaft und Familie gestiegen. Andererseits bietet die moderne Gesellschaft auch mehr Möglichkeiten an, Familie in verschiedenen Strukturen herzustellen und zu gestalten. Das ist der erste Aspekt. Der zweite Aspekt ist ein dialektischer Anspruch der Familienmitglieder auf Besonderheit ihrer Familie infolge dieser gesteigerten individuellen Ansprüche und familialen Varietät.

Was ist dialektisch an diesem Anspruch?

Zunächst: Dialektik bezeichnet hier die Art des Dialoges, und zwar ein Hin und Her zwischen den besonderen Ansprüchen der jeweiligen Familie und den allgemeinen Anforderungen der Gesellschaft an Familie. Verhandelt wird, ob die einzelne Familienform eine besondere Familienform der allgemeinen Familienform ist. Oder noch abstrakter formuliert, inwiefern der einzelne Fall ein besonderer Fall eines allgemeinen Falls ist.

Das klingt kompliziert. Und klingt nach dem – von mir so wahrgenommenen – Bedürfnis nach »dazugehören, aber anders sein wollen«. Das ist auch ein Stück der Dialektik.

Ich würde sagen nicht kompliziert, sondern eher komplex ist die Wirklichkeit der Gesellschaft. Das Hin und Her von Besonderem und Allgemeinem beginnt damit: Die Kommunikation der Familie ist insofern dialektisch, als das Verstehen der Einzigartigkeit des jeweils anderen Familienmitgliedes, seine Besonderheit, seine individuellen Ansprüche allgemein anerkannte kulturelle Ideen moderner Partnerschaft und Familie voraussetzt. Aus einem Überschuss an Möglichkeiten dessen, was als Partnerschaft und Familie zählen kann, muss nun jeder für sich selbst wählen, was er mit anderen als Familie aktualisiert. Auf diese Weise ermöglicht die einzelne Familie das Erleben der Einzigartigkeit des jeweils anderen Familienmitgliedes, seine Besonderheit, und zugleich erzeugt sie in ihrer Selbstgestaltung stets Besonderes. Mit anderen Worten: Familiale Vielfalt ermöglicht individuelle Vielfalt und umgekehrt. Während dieser Co-Evolution kann es für die Familie wichtig sein, dass sie nicht nur für sich selbst, sondern ebenso für andere als Familie sichtbar handelt. Dieses sogenannte »Displaying Family« als ein »Sich-Zeigen« als Familie kann einhergehen mit dem Anspruch auf Anerkennung der Besonderheit der eigenen Familie durch die Allgemeinheit. Ungeachtet ihrer strukturellen Vielfalt ist Familie somit Ausdruck von eigensinnigen Überzeugungen jener, die sich selbst beschreiben als Familie und die heute zudem erwarten, dass dies in seiner Besonderheit in der sozialen Umwelt von anderen allgemein anerkannt wird: von Freunden, Verwandten, aber gleichermaßen von Politik, Recht und Erziehungssystem.

Können Sie vielleicht noch ein konkretes Beispiel nennen für diesen dialektischen Anspruch auf Darstellung und Anerkennung einer Diversität von Familie?

Ein jüngeres Beispiel für dieses »Displaying« und seine Dialektik von Allgemeinem und Besonderem mit der Aktualisierung bislang latenter Familienmöglichkeiten ist die zunehmend weltweite rechtliche Anerkennung homosexueller Paare durch die Möglichkeit der Ehe und die allgemeine Anerkennung der Erziehungsfähigkeit homosexueller Eltern, etwa durch die obersten Gerichte. Gleichgeschlechtliche Paare können, so das Bundes­verfassungsgericht und der Bundesgerichtshof, das Aufwachsen von Kindern genauso fördern wie Paare verschiedenen Geschlechts. Die politische Diskussion über die gleichberechtigte Teilnahme homosexueller Paare und Eltern an der Gesellschaft hat nicht nur die kulturelle Bedeutung, die der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung zugeschrieben wird, verändert, sondern auch die Selbstwahrnehmung der individuellen Identität und der jeweiligen Lebensform. Homosexuelle Eltern erziehen heute ihre Kinder mit einer Offenheit und Selbstverständlichkeit, wie sie vor 20, 30 und erst recht vor 50 Jahren noch unvorstellbar waren. Die zunehmende Durchsetzung von Normen dieser familialen Lebensform führt zu einer Verbreitung dieser Normen in der Gesellschaft und zu einer Stabilisierung dieser Errungenschaft. Gleichzeitig rekurrieren Selbstherstellung und Selbstgestaltung von Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern auf Ideen und damit auf allgemeingesellschaftlich verbindliche Werte und Normen.

Nachdem wir uns nun so ausführlich darüber unterhalten haben, können Sie trotzdem abschließend kurz die beiden Fragen beantworten: Was ist Familie und wie ist sie möglich?

Familie ist eine Form mit Anderen höchst persönlich zu leben und die in ihren Möglichkeiten sehr vielfältig ist. Entscheidend für die Aktualisierung einer Möglichkeit ist ein Dreiklang aus Selbstherstellung, Selbstgestaltung und Anerkennung.

1 Besonderer Dank gilt Brigitte Fölker für die redaktionelle und grafische Umsetzung der Erkenntnisse sowie Eva Indinger-Gissel und Barbara Miehe für die bibliothekarische Unterstützung bei der Recherche.