:: 6/2008

Kinderarmut – auch in Baden-Württemberg?

Kinderarmut gibt es im Südwesten zwar seltener als in Deutschland üblich, aber häufiger als in anderen europäischen, besonders skandinavischen Staaten. Wenn Kinder arm sind, dann fehlt es nicht nur an Geld, sondern oft auch an Bildung, Gesundheit, sozialen Kontakten und wohl nicht selten auch an Zuwendungen und Anregungen durch die Eltern. Das Leben der Kinder in Armut ist deshalb nicht einheitlich: Es reicht von Obdachlosigkeit über ein Leben in Heimen bis hin zum Aufwachsen in dauerhaft wirtschaftlich prekären Verhältnissen der Familie. Das Armutsrisiko Nr. 1 für Kinder ist die Erwerbslosigkeit ihrer Eltern. Auch der Blick nach Nordeuropa belegt dies: Sind beide Eltern erwerbstätig, ist auch die Armut der Kinder selten.

Armut: eine extreme Form sozialer Ungleichheit

Armut ist ein vielschichtiger Begriff. Es gibt keine allgemeingültige Definition von Armut, weder in der Wissenschaft noch in der Politik. Weitgehend unbestritten ist, dass in Deutschland Armut nicht als absolute Armut im Sinne des Fehlens von zum Überleben Notwendigem wie Nahrung und Kleidung begriffen wird, sondern als relative Armut, die sich an einem gesellschaftlichen Durchschnitt orientiert. Unbestritten ist ferner, dass Armut mehr bedeutet als kein Geld zu haben. Verschiedene Armutskonzepte ähneln sich zudem in drei Aspekten: sachlich, zeitlich und sozial.

Sachlich bedeutet Armut den sozialen Ausschluss von gesellschaftlich, regional Üblichem als Unterschreiten eines Minimums in Bereichen wie Erziehung, Bildung, Arbeitsmarkt, Einkommen, Gesundheit, Wohnen und bei der eigenen Wahrnehmung seiner Rechte. Der Ausschluss aus einem Bereich bedeutet oft auch den gleichzeitigen Ausschluss aus anderen Bereichen: Wer unzureichend Erziehung und Bildung erfährt, gar von der Schule fliegt, findet nur schwer eine Arbeit, hat kaum Geld um zu bezahlen, auch für die notwendige ärztliche Behandlung, die Medikamente, die private Altersvorsorge oder andere Leistungen der sozialen Sicherung und schließlich dafür, dass er Recht erhält. Selten leben diese Personen dann auch in stabilen Beziehungen und oft werden sie »wohnungsmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht« (Niklas Luhmann).

Der zeitliche Aspekt berücksichtigt die Dauer, die Vergangenheit und Zukunft der gegenwärtigen Situation. Armut ist eher von Dauer und ohne Aussicht auf Besserung. Oft ist Armut bereits sozial vererbt von einer Generation auf die nächste.

Sozial bedeutet Armut, dass dieser soziale Ausschluss als Scheitern, Ausgrenzung und Mangel erlebt wird, vom Individuum selbst als auch von der Gesellschaft. Armut ist damit eine extreme Form der sozialen Ungleichheit. Sie stellt die Integrationsfähigkeit und -bereitschaft der Gesellschaft wie auch des Einzelnen in Frage.

Das Leben der Kinder in Armut ist nicht einheitlich. Zunächst gilt: Kinder haben in der Regel kein Einkommen, arme Kinder können ihre Lage nicht aus eigener Kraft verbessern. Kinder haben Eltern und bilden mit ihnen eine Familie. Arm sind die Eltern und ihre Kinder. Arm ist die Familie. Kindern kann es mangeln an Erziehung, Bildung, Gesundheit und sozialen Kontakten. Gleiches kann für die Eltern gelten. Mangelt es den Eltern an Erwerbsarbeit und Geld, so ist zu berücksichtigen: Die Familie ist heute mehr denn je abhängig von den individuellen Ansprüchen und Forderungen ihrer Mitglieder. Sie bedingen, wie die Familie mit dem dauerhaften Mangel an Ressourcen umgeht. Das Risiko für ein Kind arm zu sein, besteht nicht nur im Mangel an Geld, sondern das Risiko liegt auch in der Entbehrung von Zuwendung und Anregung, in der Lethargie, Überforderung, Hilflosigkeit der Eltern, in ihren Auffassungen. Das Wenige kann in Markenartikel und Playstation oder in die Bildung der Kinder investiert werden.

Obdachlose Jugendliche: selten, aber auch im Südwesten

  • Die Liga der freien Wohlfahrtspflege hat 2007 in Baden-Württemberg etwa 9 300 Obdachlose gezählt. Von ihnen sind 37 unter 18 Jahren, also rund 0,4 % Kinder und Jugendliche. Sie sind fast ausschließlich zwischen 14 und 17 Jahren alt. Tatsächlich dürften wesentlich mehr Obdachlose im Land leben. Schätzungen für 2007 gehen von insgesamt 20 000 Personen aus, darunter etwa 80 bis 90 sogenannte »Straßenkinder«. 1
  • 2006 haben die Jugendämter im Südwesten 1 861 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in ihre Obhut genommen.2 96 von ihnen lebten vor der Inobhutnahme durch das Jugendamt weder bei ihren Eltern, Verwandten, Bekannten noch in einer anderen bekannten Wohnung, sondern waren »ohne feste Unterkunft« oder an einem »unbekannten Ort«.
  • Ungeachtet dessen, ob es sich infolge der staatlichen Maßnahme bereits um eine bekämpfte Kinderarmut handelt, belegt das staatliche Einschreiten offensichtlich extreme Notlagen von Kindern und Jugendlichen. Dies gilt ebenso – wenn auch noch eingeschränkter – im Sinne eines erfolgreichen Kampfes gegen Kinderarmut für die 12 665 Minderjährigen, die Ende 2006 andauernde Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses bekamen, davon 2 939 in einer Tagesgruppe, 5 187 in Vollzeitpflege in anderen Familien, 4 328 in Heimen oder in anderen betreuten Wohnformen sowie 211 durch eine sogenannte intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung.

Arm an Bildung, arm an Gesundheit, arm an beidem

Für Kinder und Jugendliche sind Bildung und Gesundheit die wichtigsten Ressourcen, um selbstständig ein Leben jenseits von Armut zu führen. Allerdings geht es nicht nur um Bildung per se. Den individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand in Deutschland gewährleistet, künftig mehr denn je, vor allem höhere Bildung. Armutsgefährdet dürften deshalb die 5 % der Jugendlichen sein, die in Baden-Württemberg 2006 die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen haben; gleiches gilt wohl auch für einen Teil der 27 % mit Hauptschulabschluss. Insgesamt waren das rund 54 000 Jugendliche. In den letzten drei Jahrzehnten ist der Anteil der Jugendlichen ohne oder mit niedrigem Schulabschluss von 46 % (1975) auf 32 % (2006) gesunken; gleichwohl hat es seit 2000 kaum noch einen Rückgang gegeben.

Untersuchungen zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bestätigen, dass Armut mehrdimensional ist. Kinder mit niedrigem sozialen Status sind langsamer in ihrer Entwicklung und öfter in ihrer Gesundheit beeinträchtigt.3 Im Vergleich zu Kindern mit mittlerem oder hohem sozialen Status zeigen sie überdurchschnittlich häufig Seh- und Sprachstörungen, Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung oder psychosomatische Störungen und Adipositas.

Die neueste Studie zur Gesundheit von Jugendlichen der Stadt Stuttgart belegt deutliche Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Schulart.4 Jugendliche, welche eine Förder- oder Hauptschule besuchen, sind häufiger übergewichtig und zeigen öfters Essstörungen als Jugendliche auf der Realschule oder dem Gymnasium. So sind beispielsweise Mädchen (45 %) und Jungen (27 %) in der Förderschule 4- bis 5-mal so oft übergewichtig wie Mädchen (10 %) und Jungen (6 %) auf dem Gymnasium. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Haupt- und Förderschülerinnen und -schüler in besonderem Maße Risikofaktoren wie falscher Ernährung und nicht ausreichender Bewegung ausgesetzt sind, welche die Entwicklung von Übergewicht begünstigen. Mädchen und Jungen in Gymnasien zeigen am seltensten Essstörungen. Jugendliche, die eine andere Schulart besuchen, haben ein deutlich höheres Risiko. So stehen beispielsweise in Haupt- und Förderschulen ungefähr ein Drittel der Jungen unter dem Risiko, eine Essstörung zu entwickeln. Mädchen sind in diesen Schularten fast zur Hälfte betroffen. In der Realschule ist es immerhin noch ein Viertel der Mädchen, während in den Gymnasien jedes 8. Mädchen und jeder 13. bis 14. Junge Essstörungen aufweist. Jungen in der Realschule unterscheiden sich kaum von Gleichaltrigen auf dem Gymnasium.

Wirtschaftliche prekäre Verhältnisse

Das Einkommen der Familie entscheidet wesentlich darüber, was die Familie vermag, wie sie nicht nur wirtschaftlich über die Runden kommt. Verfügbares Geld erleichtert den Zugang zur Gesellschaft, Bedürfnisse können eher befriedigt werden. Wer die Gesundheit und die Bildung seiner Kinder sichern und fördern möchte, benötigt das notwendige Geld dazu. Fehlendes Geld hingegen schränkt Möglichkeiten ein, grenzt gegebenenfalls gesellschaftlich dauerhaft aus. Die überwiegende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen lebt im Südwesten in ökonomisch sicheren Verhältnissen, aber für 17 % der minderjährigen Kinder gilt das nicht. Die Familien verfügen nur über ein Niedrigeinkommen, durch das die Kinder armutsgefährdet sind.5 Das sind rund 313 000 Kinder unter 18 Jahren. Und ein nicht geringer Teil von ihnen dürfte tatsächlich in Armut leben. Das bedeutet, das monatliche Familiennettoeinkommen beträgt weniger als 60 % des durchschnittlichen Einkommens in Baden-Württemberg. Für ein Paar mit zwei Kindern unter 15 Jahren sind das weniger als 1 707 Euro netto im Monat, mit drei Kindern in diesem Alter 1 951 Euro. Die Armutsgefährdung der Kinder schwankt mit der Anzahl der Geschwister und der Lebensform der Eltern. Kinder ohne Geschwister im Haushalt der Eltern sind etwas häufiger armutsgefährdet als Kinder mit einem Bruder oder einer Schwester. Überdurchschnittlich oft leben Kinder mit mehreren Geschwistern in wirtschaftlich prekären Verhältnissen. Besonders oft sind Kinder Alleinerziehender armutsgefährdet, in Baden-Württemberg häufiger noch als in Deutschland insgesamt.

Mit den vorliegenden Daten ist es schwer zu erklären, warum in der Summe Kinder ohne Geschwister öfter armutsgefährdet sind als Kinder, die zu zweit in der Familie leben. Ein Grund mag der besonders hohe Anteil der Kinder von Alleinerziehenden sein. Ein anderer liegt möglicherweise an einer Einstellung der Eltern im Südwesten: Wer es sich hier leisten kann, der entscheidet sich in der Regel eher auch für ein zweites oder drittes Kind als dies in Westdeutschland, aber vor allem in Ostdeutschland üblich ist. In Baden-Württemberg sind zudem die Kinder ohne Geschwister im Durchschnitt jünger als etwa in Ostdeutschland. In der Regel leben jüngere Kinder wegen ihrer oft noch jungen Eltern häufiger in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen als ältere Kinder.

Insgesamt ist das Einkommen im Südwesten höher als in Deutschland und besonders in Ostdeutschland. Dementsprechend höher liegen die Einkommensschwellen, unterhalb der die finanzielle Situation der Familien als prekär gilt. Dem dürften im Südwesten aber auch höhere Ausgaben, etwa für Wohnungskosten, gegenüberstehen. Außerdem ist die Einkommensungleichheit im Südwesten höher als in Ostdeutschland. Höhere Einkommensungleichheit geht in der Regel mit einer höheren Armutsgefährdung auch der Kinder einher.6

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, auf das jeweilige Gebiet bezogenen Einkommensniveaus sind Kinder in Baden-Württemberg eher armutsgefährdet als Kinder in Ostdeutschland. Dies gilt gerade für Kinder von alleinerziehenden Müttern. Über die Gründe lässt sich an dieser Stelle nur mutmaßen: Die besseren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Südwesten nützen vor allem alleinerziehenden Eltern mit jüngeren Kindern kaum, wenn ihnen die Krippe, der Kindergarten oder der Hort fehlt. Immer noch ist das öffentliche Betreuungsangebot für Kinder in Ostdeutschland größer als gerade im Südwesten.

Die Kinder in Baden-Württemberg sind im Durchschnitt kaum häufiger, aber auch nicht seltener armutsgefährdet als die Kinder in Deutschland insgesamt. Allerdings unterscheiden sich die Länder. Seltener ist die Armutsgefährdung der Kinder in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern aber wohl auch in Berlin, jedoch in den ostdeutschen Ländern auf einem zum Teil deutlich niedrigerem Einkommensniveau. Höher ist die Armutsgefährdung der Kinder in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen. Gegenüber 2003 ist 2006 die Armutsgefährdung der Kinder in 8 Ländern gesunken, in einem Land gestiegen und in 7 Ländern, zu ihnen gehört auch Baden-Württemberg, weitgehend unverändert geblieben.

Das Ausmaß armutsgefährdeter Kinder in den Ländern ändert sich, wenn anstelle des regionalen Einkommensdurchschnitts der für Deutschland den Berechnungen zugrunde liegt. Kinder und Jugendliche in allen ostdeutschen Ländern sind häufiger armutsgefährdet als Kinder und Jugendliche in den westdeutschen Ländern. Besonders selten leben Kinder in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen. Die Ergebnisse spiegeln die unterschiedlichen Einkommensniveaus wider: Die vergleichsweise niedrigen in den ostdeutschen Ländern, die höheren in den westdeutschen Ländern und hier die besonders hohen vornehmlich im Süden Deutschlands.

Der Kampf gegen Armut: Hartz IV mit 2,57 Euro für Essen und Trinken

In Baden-Württemberg gab es nach Informationen der Bundesagentur für Arbeit Ende 2007 insgesamt rund 165 000 Kinder unter 18 Jahren, die als »erwerbsfähige« und ein großer Teil als »nicht erwerbsfähige Hilfsbedürftige« die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, in der Öffentlichkeit besser bekannt als Hartz IV, erhalten haben; 2005 waren es noch 167 007 und 2006 165 880 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Es leben nun zwar weniger Kinder mit Hartz IV, aber das Risiko ist mit 8,4 % nahezu unverändert geblieben. Der Grund für diesen scheinbaren Widerspruch liegt in der demografischen Entwicklung. Auch die Zahl der Kinder insgesamt ging in diesen Jahren zurück, und somit verkleinerte sich der Kreis möglicher Hartz-IV-Empfänger.

Hartz IV erhöht als direkter Sozialtransfer die finanziellen Ressourcen der Familie und versucht damit Kinderarmut zu verhindern. Die Höhe der Sozialtransfers ist vom Gesetzgeber festgelegt; er bestimmt, wann jemand arm ist und wann nicht. Grundsätzlich gilt: Die Kinder und Jugendlichen würden in Armut leben, gäbe es die Grundsicherungen nach SGB II nicht. Wenigsten zwei Sachverhalte bleiben jedoch strittig: der Umfang der Grundsicherung und die Ausschöpfungsquote. Reichen die sozialpolitischen Leistungen tatsächlich aus, Kinderarmut zu vermeiden, und wie hoch ist die sogenannte verdeckte Armut?

Kinder bis 14 Jahren erhalten Regelleistungen nach SGB II von 208 Euro im Monat. Sie setzen sich wie folgt zusammen:7

Nahrung, Getränke76,96 Euro,
Bekleidung, Schuhe 20,80 Euro,
Wohnung (ohne Mietkosten), Strom …16,64 Euro,
Möbel, Apparate, Haushaltsgeräte14,56 Euro,
Gesundheitspflege (zum Beispiel Kosten für Medikamente, Hilfsmittel)8,32 Euro,
Verkehr 8,32 Euro,
Telefon, Internet 18,72 Euro,
Freizeit, Kultur 22,88 Euro,
Beherbergungs- und Gaststättenleistungen 4,16 Euro,
sonstige Waren und Dienstleistungen (insbesondere Kosten für Körperpflege und Hygiene) 16,64 Euro.

In einem Monat mit 30 Tagen stehen dem Kind damit täglich 2,57 Euro für Essen und Trinken zu. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) der Universität Bonn hat in einer Studie dargestellt, dass 4- bis 6-jährige Kinder für ausgewogene Ernährung 2,57 Euro bzw. 3,86 Euro benötigen, je nachdem, ob die Eltern ausschließlich im Discounter oder in anderen Supermärkten kaufen. Die Kosten beziehen sich auf Preise im März 2004. Mit dem Alter der Kinder steigen die Kosten.8

Zudem dürfte es Familien geben, die Anspruch auf Hartz IV haben, aber ihn aus Unkenntnis oder Scham nicht wahrnehmen. Genaue Daten über die Nichtausschöpfung fehlen.9 Mit anderen Worten: Wer Hartz IV erhält, muss nicht als arm gelten; wer kein Hartz IV erhält, muss keineswegs als nicht arm gelten. Kinderarmut in Deutschland kann weniger, aber auch mehr verbreitet sein, als dies die Empfängerzahlen nahelegen.

Armutsrisiko Nr. 1: Arbeitslosigkeit

Armutsrisiko Nr.1 in der Familie sind nicht die Kinder, sondern die fehlende Erwerbsbeteiligung der Eltern. Ist der Vater erwerbslos, also nicht erwerbstätig, aber auf der Suche nach einer Arbeit, dann ist das Armutsrisiko des Ehepaares mit Kindern um das 19-fache höher als bei einer Familie, in der der Vater erwerbstätig ist. Auch die fehlende Erwerbsbeteiligung der Mutter erhöht das Armutsrisiko der Familie überdurchschnittlich verglichen mit einer Familie, in der die Mutter Vollzeit erwerbstätig ist. Allerdings ist hier zu unterscheiden zwischen erwerbslosen Frauen, die eine Arbeit suchen und nicht erwerbstätigen Frauen, die in der Regel nicht auf der Suche nach einer Arbeit sind. 4-mal so hoch ist das Risiko der Familie, wenn die Mutter erwerbslos ist. Ihre Suche nach einer Erwerbsarbeit dürfte deshalb vor allem in den prekär ökonomischen Lebensumständen der Familie begründet sein.

Andere Merkmale der Familie, etwa ein Migrationshintergrund oder fehlende Berufsabschlüsse der Eltern, steigern das Armutsrisiko weniger stark. Ein Kind mehr in der Familie erhöht bei Paaren das Armutsrisiko nicht signifikant. Auch spielt es kaum eine Rolle wie alt die Kinder sind. Das Risiko steigt allenfalls um das Zweifache.

Die Zahlen bestätigen offensichtlich: wenn der Vater keinen Job hat, dann steigt das Armutsrisiko der Familie erheblich. Aber ist das wirklich so selbstverständlich? Es gilt hier noch auf etwas Zweites aufmerksam zu machen: Eine fehlende Erwerbsbeteiligung der Eltern wirkt sich bei nicht ehelichen Paaren anders auf das Armutsrisiko der Familie aus als bei Ehepaaren mit Kindern. Bei nicht ehelichen Paaren mit Kindern löst die Erwerbslosigkeit des Vaters ein weit aus geringeres Risiko aus als bei Ehepaaren mit Kindern. Es ist kaum höher als das bei einer Erwerbslosigkeit der Mutter. Umgekehrt führt die fehlende Erwerbslosigkeit der Mutter in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft zu einem etwas höheren Risiko als in der ehelichen Lebensgemeinschaft.

Was könnte diese Unterschiede zwischen Ehepaaren mit Kindern und nicht ehelichen Paaren mit Kindern mit bedingen? Verheiratete Eltern teilen ihre Aufgaben entlang von Beruf und Familie traditioneller auf als nicht ehelich zusammenlebende Eltern. Das hohe Risiko der Familie bei Erwerbslosigkeit des Vaters spiegelt die Tatsache wider, dass bei Ehepaaren überwiegend ausschließlich der Mann Vollzeit und die Frau allenfalls Teilzeit erwerbstätig ist. Im Gegensatz dazu ist die Erwerbsbeteiligung der nicht ehelichen Eltern weitaus ausgeglichener. Im Fall der Erwerbslosigkeit des Mannes ist deshalb das Armutsrisiko der Familie deutlich geringer, da die Frau eher in einem höheren zeitlichen Umfang auch einer Erwerbstätigkeit nachgeht.

Kinderarmut ist keine Selbstverständlichkeit

Kinderarmut ist keine Selbstverständlichkeit, zumindest nicht in dem Ausmaße wie es in Deutschland und auch im Südwesten üblich ist. Besonders in den skandinavischen Staaten sind Kinder und auch Familien mit Kindern und selbst kinderreiche Familien seltener armutsgefährdet als Paare ohne Kinder und allein stehende Personen. Die Gründe sind eindeutig: Die höhere Erwerbsbeteiligung der Eltern auch bei 3 und mehr Kindern, die Betreuungsangebote für Kinder außerhalb der Familie und andere vielfältige politische Maßnahmen, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern.10 Der Vergleich Baden-Württemberg mit dem Nicht-EU-Staat Norwegen bestätigt diese Unterschiede.

1 Landtag von Baden-Württemberg: Obdachlosigkeit bei Jugendlichen, Drucksache 14/2068 vom 3. Dezember 2007.

2 Die Inobhutnahme dient dem Schutz der Kinder und Jugendlichen und umfasst nach § 42 SGB VIII die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen.

3 Klocke, Andreas/Lampert, Thomas: Armut bei Kindern und Jugendlichen, Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Berlin, Heft 4/2005.

4 Landeshauptstadt Stuttgart (Hrsg.): Jugendgesundheit in Stuttgart, Ergebnisse der Jugendgesundheitsstudie Stuttgart 2005 und Tipps für die Gesundheitsförderung in der Schule, Stuttgart 2007.

5 Zur Methode der Berechnung von Niedrigeinkommen siehe Eggen, Bernd: »Oben und Unten: Familieneinkommen aus der Sicht der Kinder«, in: »Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 9/2004«

6 Siehe Rainwater, Lee/Smeeding, Timothy M.: Poor kids in a rich country, New York, 2003.

7 Bundesagentur für Arbeit.

8 www.fke-do.de.

9 Siehe Becker, Irene: Armut in Deutschland: Bevölkerungsgruppen unterhalb der Alg-II-Grenze, Arbeitspapier des Projekts »Soziale Gerechtigkeit« Nr. 3, Frankfurt/Main 2006.

10 European Commission: Child poverty and well-being in the EU, Luxembourg, 2008.