:: 3/2007

Innovative Familienbildung – Modellprojekte in Baden-Württemberg

Ungleiche Bildungschancen, verunsicherte Eltern und vernachlässigte Kinder in Deutschland: Gefragt sind passende Konzepte der Elternbildung, die Mütter und Väter, die Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder benötigen, auch wirklich erreichen. Vor allem zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Elternschaft und wenn es um die Bildungschancen ihrer Kinder geht, sind Eltern offen für Unterstützungsangebote und gut ansprechbar. Die Auswertung des »Aktionsprogramms Familie – Förderung der Familienbildung«, die die FamilienForschung Baden-Württemberg im Auftrag der LANDESSTIFTUNG durchgeführt hat, gibt Hinweise darauf, in welche Richtung die zukünftige Entwicklung gehen könnte.

Familienbildung in Deutschland – eine Bestandsaufnahme

Derzeit existieren laut einer aktuellen Bestandsaufnahme, die Prof. Lösel (Universität Erlangen-Nürnberg) im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführt hat, 200 000 familienbezogene Bildungsangebote in Deutschland. Die Hauptanbieter sind Familienbildungsstätten mit etwa 100 000 Angeboten.

42 000 Maßnahmen werden von Beratungsstellen angeboten, den Rest decken Mütterzentren, Vereine, Verbände, Bildungswerke und andere Träger ab. Die Palette der Angebote ist weit gefächert. Der Schwerpunkt der Angebote liegt jedoch auf Eltern-Kind-Gruppen für junge Familien (50 %), in denen grundlegende Kenntnisse zur kindlichen Entwicklung vermittelt werden und soziale Netzwerke entstehen. 25 % der Angebote richten sich an Familien in besonderen Belastungssituationen. Die Analyse der Teilnehmerstruktur zeigt, dass Väter (17 %) und sozial benachteiligte Familien (15 %) unterrepräsentiert und die Angebote überwiegend durch »Komm-Strukturen« geprägt sind.

Ein Großteil der bestehenden Familienbildungsangebote wurde bisher nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft, insbesondere in Bezug Eltern-Kind-Gruppen und offene Angebote liegen bisher kaum gesicherte Erkenntnisse vor. Insgesamt sind nur 27 kontrollierte Evaluationsstudien zu Elternkursen (zum Beispiel: »Starke Eltern – Starke Kinder«, »Effekt«, »Triple-P«1) publiziert, die zuverlässige Rückschlüsse auf die Wirksamkeit solcher Angebote zulassen. Diese Studien zeigen positive Effekte auf die Erziehungseinstellung und das praktizierte Verhalten2.

Innovative Familienbildung in Baden-Württemberg

Durch das Förderprogramm »Aktionsprogramm Familie – Förderung der Familienbildung« der Landesstiftung Baden-Württemberg (i-Punkt ) wurde die Möglichkeit geschaffen, innovative Projekte der Familienbildung durchzuführen und Erfahrungen mit der niederschwelligen Ausgestaltung von Angeboten zu gewinnen. Im Mittelpunkt des Förderprogramms standen Familien in schwierigen Lebenssituationen: 77 % der Projekte, die in den Jahren 2002 bis 2004 durchgeführt wurden, richteten sich an spezielle Zielgruppen, häufig an Familien in Belastungssituationen3. Das Förderprogramm umfasste insgesamt 5 Förderrunden in den Jahren 2002 bis 2006. Die wissenschaftliche Auswertung des Programms (2002 bis 2004) führte die FamilienForschung Baden-Württemberg im Auftrag der LANDESSTIFTUNG durch, die Ergebnisse der Evaluation wurden am 4. Oktober 2006 im Rahmen der Abschlussveranstaltung zum Förderprogramm vorgestellt.

Kooperation und Vernetzung sind wichtig

Im Rahmen der schriftlichen Befragung gaben 59 % der Projektträger an, dass durch das Projekt neue Kooperationen entstanden sind, die über den Projektzeitraum hinausgingen. Am häufigsten wurden hier Kooperationen zu Schulen, anderen Einrichtungen der Familienbildung, Bildungswerken, neuen Referenten und Einrichtungen aus dem Gesundheitswesen genannt. Es zeigte sich allerdings, dass breite Vernetzungen bislang eher die Ausnahme sind. In lediglich 16 % der Fälle sind durch die Modellprojekte längerfristige Kooperationen zu mehreren Partnern entstanden.

Die Ergebnisse der drei Workshops, die im Rahmen der Abschlussveranstaltung zum Aktionsprogramm mit Expertinnen aus drei verschiedenen Projekten durchgeführt wurden, bestätigen, dass ein großer Bedarf an aktivierender Elternarbeit und Vernetzung bereits bestehender Angebote und Initiativen gesehen wird. Auch die jüngste bundesweite Bestandsaufnahme zur Familienbildung durch Prof. Lösel zeigt die Notwendigkeit, Kooperationsbeziehungen der Einrichtungen und eine Vernetzung der Angebote weiter auszubauen sowie die Angebote hinsichtlich regionaler Bedarfsstrukturen zu koordinieren.

Lebenswelt der Familie im Mittelpunkt

»Die Leute die es dringend bräuchten, kommen nicht von selbst in einen Kurs. Das Training muss zu den Leuten.« Dieses Zitat aus einem Fragebogen der schriftlichen Befragung zum Aktionsprogramm in Baden-Württemberg verdeutlicht, was auch als Ergebnis eines Workshops formuliert wurde: Die Notwendigkeit, Menschen an den Orten aufzusuchen, an denen sie sich aufhalten, sie dort abzuholen, wo sie stehen und zuzuhören, um was es ihnen geht.

Durch die Verknüpfung von Angeboten mit Kindertagesstätten, Schulen, Mütterzentren, medizinischen Diensten etc. können die Zugangsschwellen für bildungsungewohnte Familien deutlich gesenkt werden. Darüber hinaus tragen neue Formen der Familienbildung durch aufsuchende Hilfen dazu bei, dass neue Zielgruppen besser erreicht werden (i-Punkt)4.

Die Erfahrungen des Förderprogramms zeigen, dass es durchaus möglich ist, bildungsungewohnte Familien über niederschwellige Zugangswege und unkonventionelle Angebote zu erreichen: 84 % der Befragten gaben an, die gewünschte Zielgruppe erreicht zu haben, 16 % erreichten die Zielgruppe teilweise.

Kindertageseinrichtungen zu Kinder- und Familienzentren ausbauen

Die Betreuungsquote für Kinder im Kindergartenalter von 3 bis 6 Jahren liegt bei rund 92 %. Von rund 313 000 Kindern dieser Altersgruppe besuchen 287 000 einen Kindergarten5. Über Kindertagesstätten können Eltern daher flächendeckend, niederschwellig und alltagsorientiert erreicht werden. Dies bestätigt auch das Landesmodellprojekt »Familienbildung in Kooperation mit Kindertageseinrichtungen«, das in Sachsen von 2001 bis 2004 durchgeführt wurde. Ziel dieses Modellprojekts war es zu klären, ob durch die Kooperation mit Kindertagesstätten die Angebote der Familienbildung erweitert und dadurch Familien erreicht werden können, die andere Angebote der Familienbildung nicht in Anspruch nehmen. Die erzielten Ergebnisse zeigen, dass die angestrebte Zielgruppenerweiterung über den Weg der Kooperation mit Kindertageseinrichtungen stattgefunden hat und untermauern die Erfahrungen, die auch in Baden-Württemberg gemacht wurden: »Kindertageseinrichtungen sind ein geeigneter Lernort für Familien. In ihnen können auf vielfältige Art und Weise Inhalte der Familienbildung vermittelt und deren Kernziele erreicht werden6

In Baden-Württemberg führten fünf Verbände der LIGA der freien Wohlfahrtspflege mit finanzieller Unterstützung durch die LANDESSTIFTUNG das Modellprojekt »Stärkung der Erziehungskraft der Familie durch und über den Kindergarten« durch, in dem es darum ging, Chancen und Grenzen der Kooperation mit Kinderbetreuungseinrichtungen auszuloten. Das Projekt wurde durch die Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung e.V. an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg evaluiert7.

Ein wichtiges Ergebnis dieser Untersuchung war, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern nicht nur als ein weiterer Baustein in den Kindertageseinrichtungen gesehen werden muss, sondern, dass sie grundsätzlich zu Veränderungen im Hinblick auf die Konzeptionen der Einrichtungen und die Arbeitsweise der Erzieherinnen führt: »Die Kindertagesstätten wandeln sich zu Kommunikationsstätten, in denen Eltern und Erzieher/-innen eine partnerschaftliche, das heißt gleichberechtigt orientierte Beziehung in Bezug auf die Erziehung der Kinder aufbauen. Die Kita soll nicht nur ein Ort für Kinder sein, sondern auch ein Ort für Eltern werden, an welchem sie Unterstützung in Erziehungs- und anderen Fragen erhalten, etwas Neues lernen können und sich auch untereinander kennenlernen, in den sie sich jedoch auch in verschiedener Form einbringen (und damit stärken) können8

Die Erfahrungen aus verschiedenen Modellprojekten zeigen: Eltern können über Kindertagesstätten zu einem frühen Zeitpunkt gut erreicht werden und sind auch interessiert, wenn es darum geht, die Bildungschancen für ihre Kinder zu verbessern. Bildungsungewohnte Eltern und Eltern mit Migrationshintergrund können insbesondere durch den Einsatz von muttersprachlichen Mentoren (häufig Eltern aus der Kindertagesstätte, die hierfür qualifiziert werden) über Kindertageseinrichtungen angesprochen und in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt werden. Diese Mentoren sind auch für die Grundschule eine wichtige Ressource, da sie dort ebenfalls aktivierende Elternarbeit leisten und Elternkurse durchführen können.

Die Arbeit mit bildungsungewohnten Familien erfordert eine neue Lernkultur

Die Ausrichtung auf neue Zielgruppen der Familienbildung, die nicht zu den klassischen Adressaten von Familienbildungsangeboten gehören, macht es erforderlich, den Bildungsbegriff im Bereich der Familienbildung neu zu diskutieren. Über die Vermittlung von Inhalten in Form von Vorträgen oder kursgebundenem Lernen sind bildungsungewohnte Eltern so gut wie nicht erreichbar. Hier gilt es neue Vermittlungsformen zu finden, eine »neue Lernkultur« zu entwickeln. Lernen ist ein Prozess, der überall und zu jeder Zeit stattfindet. Die Lernorte sind vielfältig: Gelernt wird in der Küche, im offenen Treff, im Werkraum oder an anderen Orten. Während das klassische Bildungsverständnis mit »Bildung von oben« umschrieben werden kann, geschieht Bildung so verstanden als selbstbestimmtes Handeln in einem dialogischen Prozess zwischen dem Lernenden und dem Lehrenden. Dem Lehrenden kommt hierbei die Rolle eines Moderators und Begleiters zu. Dabei ist eine hohe pädagogisch-didaktische Kompetenz notwendig, um Gruppenprozesse differenziert beobachten und Diskussionsverläufe gestalten zu können. Gruppenleitung bezieht sich hierbei stärker auf strukturierendes, impulsgebendes und begleitendes Handeln als darauf, vorher festgelegte Bildungsinhalte zu vermitteln. Das folgende Zitat aus einem Fragebogen der schriftlichen Befragung zum Aktionsprogramm steht für diese neue Bildungskultur der Familienbildung, die sich an den Ressourcen und Bedürfnissen der Familien orientiert: »Fischen Sie nach den Perlen, wo von und mit Familien gelernt wird.« In den Mütterzentren im Land wird diese Art des gemeinsamen Lernens auf der Basis gegenseitiger Wertschätzung bereits seit längerem praktiziert. Im Rahmen des Projekts »Leadership Support Training«, das durch das Aktionsprogramm der LANDESSTIFTUNG gefördert wurde, wurden aktive Mütterzentrumsfrauen zu Trainerinnen der Familienselbsthilfe ausgebildet, die nun ihr Wissen in den Mütterzentren landesweit vermitteln und dazu beitragen, neue Formen des Lernens von Gleich zu Gleich zu etablieren (i-Punkt)9.

Perspektiven

Im Rahmen des Aktionsprogramms konnten vielfältige Erfahrungen mit innovativen Konzepten der Familienbildung gewonnen werden. Ein Erfolg versprechender Weg auch bildungsungewohnte Familien flächendeckend und alltagsorientiert zu erreichen, ist die Weiterentwicklung von Kinderbetreuungseinrichtungen zu Kinder- und Familienzentren. So zeigt beispielsweise das Projekt »KiFa – Kinderbetreuung und Familienbildung« in Ludwigsburg10 wie Elternbildung, Sprachförderung, Qualifizierung von Fachkräften und Multiplikatoren unter dem Dach von Kindertagesstätten bedarfsorientiert und ganzheitlich vernetzt werden können. In Ludwigsburg wird derzeit in jedem Stadtteil eine Kindertagesstätte in ein Kinder- und Familienzentrum weiterentwickelt.

Im Rahmen eines Workshops auf der Abschlussveranstaltung zum »Aktionsprogramm Familie – Förderung der Familienbildung« wurde deutlich, dass sich in vielen Kommunen Initiativen gründen oder Einrichtungen existieren, die an Strukturen arbeiten, um gemeinwesenorientierte Ansätze der Familienbildung umzusetzen und bereits vorhandene Angebote in ein Gesamtkonzept zu integrieren. Um diese Initiativen zu bündeln und zu vernetzen, wäre eine landesweite Plattform hilfreich, die auch die Entstehung von Patenschaften fördern könnte.

Auch in anderen Bundesländern gibt es ähnliche, teilweise noch weitergreifende Entwicklungen. In Nordrhein-Westfalen wird im Rahmen eines Landesprojekts derzeit jede dritte Kinderbetreuungseinrichtung zu einem Kinder- und Familienzentrum ausgebaut11. Bis Ende Juni 2007 soll hier in jedem Jugendamtsbezirk mindestens eine besonders geeignete Kindertageseinrichtung zu einem Familienzentrum weiterentwickelt werden. Ziel des Landesprogramms ist es, in ganz Nordrhein-Westfalen flächendeckend Kinder- und Familienzentren einzurichten.

Die Auswertung des Aktionsprogramms der Landesstiftung zur Förderung der Familienbildung hat gezeigt, dass es mittlerweile viele gute und erprobte Konzepte gibt, um auch bildungsungewohnte Familien zu erreichen. Es fehlt jedoch an verlässlichen Finanzierungsstrukturen, um diese Modellprojekte langfristig zu verankern. Bereits im Bericht »Familienbildung in Baden-Württemberg«, den die FamilienForschung im Jahr 2003 im Auftrag des Sozialministeriums erstellt hat, wurde auf die Notwendigkeit einer langfristigen Perspektive verwiesen: »Um die Innovationsfähigkeit und Qualität der Familienbildung langfristig zu sichern und zu fördern, muss das Ziel der Nachhaltigkeit (in personeller, organisatorischer und finanzieller Hinsicht) verfolgt werden. Innovative Angebote dürfen nicht nur Aktion bedeuten (zum Beispiel in Form von Modellprojekten), sondern müssen auf längere Zeiträume ausgelegt werden12