:: 4/2007

Baden-Württemberger verbringen im Durchschnitt mehr als 17 Jahre in Bildungseinrichtungen

Ein in nationalen und internationalen Bildungsvergleichen immer wieder gebrauchter Indikator ist die »Bildungserwartung in Jahren«. Sie gibt an, wie viel Zeit ein 5-jähriges Kind im Durchschnitt mit formalen Bildungsmaßnahmen in Kindergarten, Schule und Hochschule verbringen wird. In Baden-Württemberg lag dieser Wert im Jahr 2005 für Jungen bei 17,7 Jahren und bei Mädchen bei 17,2 Jahren. In den vergangenen 30 Jahren war ein deutlicher Anstieg der Bildungserwartung festzustellen. Dieser ist vor allem durch den zunehmenden Besuch von Gymnasien und den Ausbau der Hochschulen zu erklären. Manche aktuellen bildungspolitischen Maßnahmen zielen allerdings auf eine Verkürzung der Dauer der formalen (Erst-) Ausbildung ab. Dies könnte zukünftig den Anstieg der Bildungserwartung bremsen.

Bildungserwartung: ein komplexer Indikator

Das deutsche Bildungswesen steht spätestens seit dem ersten »PISA-Schock« im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Seitdem wurden einige Studien und Berichte über den Zustand des Bildungssystems veröffentlicht. In manchen Berichten wurde unter anderem die »Bildungserwartung« als ein Indikator für die Bildungsbeteiligung verwendet. Dazu zählen die OECD-Publikation »Bildung auf einen Blick 2006«1, die daran anschließende Veröffentlichung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder zu Bildungsindikatoren im Ländervergleich2 und der nationale Bildungsbericht 2006.3

Die Bildungserwartung beschreibt, wie viele Jahre an formaler Bildung ein 5-jähriges Kind im Durchschnitt zu erwarten hat (zur Berechnung vgl. i-Punkt). Damit ist die Bildungserwartung ein auf einen Wert zusammengefasster Maßstab für die Bildungsbeteiligung. Je mehr Menschen sich für länger dauernde, und damit meist höherqualifizierende Bildungsgänge entscheiden, desto höher ist die Bildungserwartung in Jahren. Grundsätzlich ließe sich damit ein höherer Wert der Bildungserwartung als positives Zeichen für eine gestiegene Bildungsbeteiligung interpretieren. Dass die Sache aber nicht immer ganz so einfach ist, werden einige Überlegungen im weiteren Text zeigen.

Bildungsbeteiligung von 6 bis 15 Jahren: 100 % – und sonst?

Wozu wird überhaupt ein Indikator wie die »Bildungserwartung« benötigt? Schaubild 1 zeigt die geschlechts- und altersspezifische Bildungsbeteiligung im Jahr 2005 in Baden-Württemberg. Hier sind detaillierte Informationen zum Besuch von Bildungseinrichtungen enthalten, die durch eine zugehörige Wertetabelle noch weiter vertieft werden könnten. Aus dieser »Bildungspyramide« ist zum Beispiel abzulesen, dass – bedingt durch die Schulpflicht – im Alter von 6 bis 15 Jahren eine 100%-ige Teilnahme an Bildungsmaßnahmen gewährleistet ist. Allerdings ist hier nicht auf Anhieb zu erkennen, ob die Bildungsbeteiligung der Baden-Württemberger insgesamt höher ist als die der Baden-Württembergerinnen. Wenn man die Bildungsbeteiligung im Zeitablauf vergleichen wollte, müsste man hier verschiedene Pyramiden nebeneinander stellen und dann sehr genau hinschauen, wo sich etwas verändert hat und ob sich die Beteiligung insgesamt erhöht oder verringert hat.

Für solche Fragestellungen bietet ein verdichteter Indikator wie die Bildungserwartung eine schnellere Antwort. Entsprechend den Verhältnissen im Jahr 2005 haben 5-jährige Jungen in Baden-Württemberg eine Bildungserwartung von 17,7 Jahren, 5-jährige Mädchen von 17,2 Jahren. Die Bildungsbeteiligung des männlichen Teils der Bevölkerung liegt insgesamt also über der Beteiligung des weiblichen Teils. Aber nicht in allen Bereichen des Bildungswesens weisen die männlichen Jugendlichen höhere Werte auf. Bei den Realschulen und besonders bei den Gymnasien liegen die Schülerinnen vorne. Dies ist die Folge davon, dass von den Mädchen nach der Grundschule ein größerer Teil auf Realschulen und Gymnasien wechselt als von den Jungen (vgl. Tabelle). Andererseits beginnen immer noch mehr junge Männer als Frauen ein Studium, obwohl die Frauen inzwischen mehr als die Hälfte der Hochschulzugangsberechtigungen erwerben. Insgesamt eine wichtige Rolle dürfte allerdings die Tatsache spielen, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen eine Klassenstufe wiederholen müssen.4

Baden-Württemberg national und international im Mittelfeld

Im Vergleich zwischen den Bundesländern lag Baden-Württemberg im Jahr 2004 mit einer Bildungserwartung von insgesamt 17,5 Jahren im vorderen Mittelfeld und knapp über dem deutschen Durchschnittswert von 17,4 Jahren. Unter den Flächenländern lagen Nordrhein-Westfalen mit 18,3 Jahren und Hessen mit 17,8 Jahren vor dem Südweststaat. Die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg nehmen hier eine besondere Stellung ein, da durch ihre relativ geringen Bevölkerungszahlen die Studierenden an den Hochschulen und Bildungs-Einpendler aus den umliegenden Gemeinden besonders ins Gewicht fallen. Bremen kam dadurch auf eine Bildungserwartung von 20,0 Jahren. Die geringsten Werte wiesen 2004 Thüringen mit 16,3 Jahren und Brandenburg mit 15,8 Jahren auf. Bei Brandenburg dürfte dieser niedrige Wert unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass viele Brandenburger in Berlin studieren.5

Vergleicht man Baden-Württemberg mit den OECD-Staaten, nimmt das Ländle auch hier eine mittlere Position ein. Das OECD-Staatenmittel wies 2004 mit 17,4 Jahren genau den gleichen Wert wie Deutschland auf. Damit entsprach die Bildungserwartung etwa den Werten für Ungarn, Irland, den Niederlanden oder Spanien. Für Australien, Schweden und das Vereinigte Königreich wurde dagegen eine Bildungserwartung von mehr als 20 Jahren ermittelt. In allen drei Staaten haben allerdings Teilzeit-Bildungsgänge – im Gegensatz zu Deutschland – einen recht hohen Anteil. Andererseits lagen die Ergebnisse für Staaten wie Österreich, Frankreich, Schweiz, aber auch für die USA und Korea unterhalb von 17 Jahren.6

Deutlicher Anstieg in den vergangenen 30 Jahren

Im Zeitraum seit 1975 hat sich im baden-württembergischen Bildungssystem viel getan. Dies kommt auch bei der Bildungserwartung zum Ausdruck. Über die letzten 30 Jahre stieg die Bildungserwartung eines 5-jährigen Jungen für den Besuch von Grund- und Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Hochschulen um 1,2 Jahre auf 12,0 Jahre an, die eines 5-jährigen Mädchens sogar um 1,8 Jahre auf 12,1 Jahre (Schaubild 2). Zwischen den allgemeinbildenden Schularten erfolgten im Vergleich zum Jahr 1975 und ausgehend von einem 4-jährigen Grundschulbesuch erhebliche Verschiebungen bei der Bildungserwartung.

  • Bei den Hauptschulen sank sie von jeweils 2,1 Jahren auf 1,7 Jahre für Jungen und auf 1,5 Jahre für Mädchen.
  • Bei den Realschulen stieg sie bei den Jungen um 0,8 Jahre und bei den Mädchen um 0,6.
  • Bei den Gymnasien stieg sie um 0,3 Jahre bei den Jungen und um 0,9 Jahre bei den Mädchen.

Diese Verschiebungen spiegeln die Entwicklung bei den Übergängen auf weiterführende Schulen wieder. Im Jahr 1975 wechselten rund 20 % der Schülerinnen und Schüler nach der 4. Klassenstufe der Grundschule auf eine Realschule und 27 % auf ein Gymnasium. Knapp die Hälfte der Viertklässler entschied sich für die Hauptschule. 30 Jahre später lag die Übergangsquote auf die Hauptschule nur noch bei 29 %. Die Quoten der Realschule und des Gymnasiums lagen mit 32 % bzw. 38 % deutlich höher. Der stärkere Anstieg der Gymnasial-Bildungserwartung bei Mädchen ist auf deren steigenden Anteil an der Schülerschaft der Gymnasien zurückzuführen. Seit 1984 stellen sie dort die Mehrheit.

In Schaubild 2 ist zwischen 1985 und 1995 entgegen dem Trend ein leichter Anstieg der Bildungserwartung für die Grund- und Hauptschulen zu erkennen. Dies dürfte auf zwei Gründe zurückzuführen sein: Zum einen wurde im Schuljahr 1993/94 das freiwillige 10. Schuljahr an Hauptschulen eingerichtet. Zum anderen gab es Mitte der 90er-Jahre einen Zustrom von Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien. Deren Kinder besuchten überwiegend Hauptschulen. Dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur Entscheidungen innerhalb des Bildungssystems den Wert der Bildungserwartung beeinflussen können.

Im Hochschulbereich stieg die Bildungserwartung für den männlichen Bevölkerungsteil im betrachteten Zeitraum um 0,7 Jahre an, für den weiblichen sogar um 1,1 Jahre. Damit war die Bildungserwartung für Studentinnen zweieinhalb Mal so hoch wie 30 Jahre zuvor. Das bringt den rapiden Anstieg an weiblichen Studienanfängern in den vergangenen Jahren zu Ausdruck.

Ist jede Erhöhung positiv zu werten?

In den zurückliegenden Jahren war ein beständiger Zuwachs von Jahren an Bildungserwartung zu verzeichnen. Lässt sich diese Entwicklung in die Zukunft hinein fortsetzen und wäre dies uneingeschränkt positiv zu sehen? Die oben geschilderte Steigerung der Übergangsquoten auf das Gymnasium würde durch die im Vergleich zu Haupt- und Realschule längere Schulzeit am Gymnasium weiter zu steigenden Werten führen. Ob sich der Trend steigender Übergangsquoten im bisherigen Ausmaß fortsetzen wird, bleibt abzuwarten. Aus internationalen Vergleichen ist bekannt, dass Deutschland insgesamt – und damit auch Baden-Württemberg – eine relativ niedrige Studierendenquote hat. Ein Erreichen des Ziels der Erhöhung der Studierendenzahl würde ebenfalls zu einer Erhöhung der Bildungserwartung führen. Die bevorstehende Einführung von Studiengebühren könnte aber wohl zumindest vorübergehend eine eher dämpfende Wirkung auf die Studierneigung der Abiturienten ausüben.

Auch die Situation auf dem Lehrstellenmarkt kann Rückwirkungen auf die Bildungserwartung haben. Jugendliche, die zunächst keinen Ausbildungsplatz finden, müssen sich für ein anderes schulisches Angebot entscheiden. Möglicherweise besuchen sie zunächst eine berufsvorbereitende Maßnahme, wie beispielsweise das Berufseinstiegsjahr, bevor sie einen Ausbildungsvertrag abschließen können. Dann verlängert sich ihre Ausbildung in der Regel um die Zeit, die sie in der berufsvorbereitenden Maßnahme verbracht haben. Diese Art der Steigerung der Bildungserwartung ist eher Ausdruck eines Problems als einer positiven Entwicklung. Andererseits kann die Alternative zur oft drei- bis dreieinhalbjährigen dualen Berufsausbildung eine vollzeitschulische Ausbildung sein, die in manchen Berufen bereits nach zwei Jahren abgeschlossen werden kann. Die Folge wäre eine Verringerung der Bildungserwartung.

Bildungspolitisches Ziel: Verkürzung der Ausbildungszeit

Ein in der Vergangenheit häufig geäußerter Kritikpunkt am deutschen Bildungssystem ist, dass die Berufseinsteiger – und hier besonders die Absolventen der Hochschulen – im Vergleich zu alt sind. Um diesem Umstand abzuhelfen wurden bereits bildungspolitische Maßnahmen ergriffen. So wird in Baden-Württemberg der Einschulungsstichtag bis zum Schuljahr 2007/08 vom 30. Juni auf den 30. September verlegt. Hierdurch werden mehr Kinder früher eingeschult. Dies verkürzt deren Zeit im Kindergarten, die ab dem 5. Lebensjahr in die Berechnung der Bildungserwartung einfließt. Ein weiterer Punkt ist die flächendeckende Verkürzung der Gymnasialschulzeit von 9 auf 8 Jahre im Schuljahr 2004/05. Bei einer Übergangsquote auf das Gymnasium von über 35 % kann dies – abhängig davon wie viele Schülerinnen und Schüler bis dahin am Gymnasium verbleiben – ab 2012 zu einer Absenkung der Bildungserwartung um rund 0,3 Jahre führen.

Die Umstellung der Studiengänge an den Hochschulen auf das Bachelor-/Master-Modell im Rahmen des »Bologna-Prozesses« erfolgt in erster Linie mit dem Ziel der Schaffung eines Europäischen Hochschulraums. Hierdurch soll die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen gesichert werden. Damit verbunden ist aber auch die Hoffnung auf eine effizientere Studienorganisation und eine Verkürzung der Studienzeiten. Außerdem wird durch den Bachelor ein Studienabschluss geschaffen, der bereits nach sechs Semestern erreicht werden kann. Erste Ergebnisse scheinen in der Tat auf eine kürzere Studiendauer in diesen neuen Studiengängen hinzuweisen.7 Diese Maßnahmen haben ebenfalls eine Verkürzung der Bildungserwartung zur Folge. Wie die Beispiele zeigen ist eine zeitliche Ausdehnung der Bildungserwartung nicht in allen Fällen positiv zu werten. Für die Beurteilung des Bildungssystems kann sie nur ein Anhaltspunkt unter vielen sein, da sich ein komplexes System wie die Bildung nicht auf einen einzigen Zahlenwert reduzieren lässt. Die Bildungserwartung kann aber der Ansatzpunkt für tiefer gehende Analysen sein.